L 10 AS 1593/14 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
10
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 87 AS 13237/14 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 10 AS 1593/14 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 19. Juni 2014 wird zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.

Gründe:

Der Senat hat in Fällen der vorliegenden Art, in denen über die vorläufige Gewährung von Arbeitslosengeld II an EU-Staatsangehörige, die Hilfebedürftigkeit im Sinne von § 9 Abs 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) glaubhaft gemacht haben und sich allein zum Zwecke der Arbeitssuche in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten (§ 2 Abs 2 Nr 1 2. Alt des Gesetzes über die Allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU)) im Verfahren auf Erlass einer Regelungsanordnung gemäß § 86b Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zu entscheiden ist, bislang im Rahmen einer Folgenabwägung (dazu Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Kammerbeschluss vom 12. Mai 2005 – 1 BvR 569/05, juris) entschieden. Diese war im Hinblick auf die rechtlich ungeklärte und im Verfahren vor den Tatsachengerichten der Sozialgerichtsbarkeit nicht einheitlich beantwortete Frage nach der Geltung – Europarechtskonformität – des Leistungsausschlusses des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II geboten und regelmäßig zugunsten der Anspruchsteller vorzunehmen. Die Gewährung war der entsprechenden Überlegung des BVerfG folgend (Beschluss vom 12. Mai 2005, aaO, RdNr 26) im Regelfall mit einem Abschlag von 15 vH auf den ungedeckten Regelbedarf zu versehen (dazu ausführlich Senatsbeschluss vom 19. August 2008 – L 10 B 1481/08 AS ER, unveröffentlicht, arithmetisches Mittel von einem an § 31a Abs 1 Satz 1 SGB II orientierten Maximalabschlag bei geringer Erfolgsaussicht und abschlagsfreier Leistung bei uneingeschränkter Erfolgsaussicht). Der Senat sieht im Anschluss an das mittlerweile beim Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) anhängig gewordenen so genannten Vorabentscheidungsverfahren (nach Art 267 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)) – Ausgangsverfahren: Bundessozialgericht (BSG), Beschluss vom 12. Dezember 2013 – B 4 AS 9/13, juris; weiteres Vorabentscheidungsverfahren, vorlegendes Gericht Sozialgericht (SG) Leipzig Ausgangsverfahren: S 17 AS 2198/12, Beschluss vom 03. Juni 2013, juris) zur Vereinbarkeit des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II mit europäischen Recht Anlass, seine Praxis zu ändern, da die entsprechenden Sachverhalte nunmehr der in §§ 40 Abs 2 Nr 1 SGB II, 328 Abs 1 Satz 1 Nr 1 Drittes Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) getroffenen Regelung unterliegen, deren Anwendung den Rückgriff auf die Grundsätze der Folgenabwägung erübrigt, die insoweit nachrangig sind, da sie ihre Rechtfertigung nicht im materiellen Recht, sondern primär im Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes finden.

Die Voraussetzung einer Leistungsgewährung nach §§ 40 Abs 2 Nr 1 SGB II, 328 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB III sind erfüllt und führen zur Gewährung einer abschlagsfreien vorläufigen Leistung.

Nach § 40 Abs 2 Nr 1 SGB II findet § 328 SGB III (mit hier nicht im Frage stehenden Maßgaben) im Bereich des SGB II Anwendung. Nach § 328 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB III kann über die Erbringung von Geldleistungen vorläufig entschieden werden, wenn die Vereinbarkeit einer Vorschrift "dieses Buches" – des SGB III, im Verweisungszusammenhang des § 40 Abs 2 Nr 1 SGB II damit des SGB II –, von der die Entscheidung über den Antrag abhängt, Gegenstand eines Verfahrens bei dem BVerfG oder dem EuGH ist. § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II ist Gegenstand der bezeichneten Vorabentscheidungsverfahren, die von § 328 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB II umfasste Verfahren vor dem EuGH sind (etwa Greiser in Eicher/Schlegel, SGB III, 2. Aufl 2013, § 328 RdNr 24). Die Norm ist entscheidungserheblich, denn über den Anspruch der Antragstellerin müsste im Falle der Gültigkeit der Norm anders – ablehnend – entschieden werden als im Falle ihrer Unvereinbarkeit mit europäischem Recht. Insoweit ist nicht ersichtlich, dass Defizite bzgl der Anspruchsvoraussetzung des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II vorliegen oder Einwendungen (insbesondere der Hilfebedürftigkeit entgegenstehendes Einkommen oder Vermögen) vorhanden sind, bzw eine Leistungs-berechtigung im Hinblick auf die Staatsangehörigkeit unabhängig von einem Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche in Frage gestellt werden könnte (zu wirtschaftlich inaktiven Antragstellern etwa Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26. März 2014 – L 15 AS 16/14 B ER, juris; Thüringer LSG, Beschluss vom 25. April 2014 – L 4 AS 306/14 B ER, juris, RdNr 17 ff mwN, dort – RdNr 24 (unter Bezugnahme auf EuGH, Urteil vom 19. Juni 1990, C 213/89, juris, RdNr 18ff) – zu eventuellen weiteren Folgendes vom BSG veranlassten Vorabentscheidungsverfahrens für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes).

Der Antragsgegner ist ausgehend von § 40 Abs 2 Nr 1 SGB II, 328 Abs 1 Satz 1 Nr 1 zur Zahlung unbeschadet des Umstandes zu verpflichten, das § 328 Abs 1 als Ermessensnorm ("kann") formuliert ist, wobei die insoweit einschränkungsfreie Formulierung Ermessen bzgl "ob" und "wie" der vorläufigen Leistung, dh "Entschließungs- und Auswahlermessen" eingeräumt ist (nur BSG, Urteil vom 06. April 2011 – B 4 AS 118/10 R, juris, RdNr 24, 34).

Das Entschließungsermessen des Antragsgegners ist so weitgehend eingeschränkt, dass die einzig rechtmäßige Ermessensentscheidung über den Leistungsanspruch eines EU-Bürgers, der sich allein zum Zwecke der Arbeitssuche in der Bundesrepublik aufhält, darin besteht, eine vorläufige Entscheidung nach §§ 40 Abs 2 Nr 1 SGB II, 328 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB III über seinen Antrag zu treffen (ebenso LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Mai 2014 – L 34 AS 1150/14 B ER, juris; offen gelassen LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. Juni 2014 – L 25 AS 1511/14 B ER, juris, RdNr 10; ablehnend LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. März 2014 – L 20 AS 502/14 B ER, juris, RdNr 17, LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. März 2014 – L 29 AS 514/14 B ER , juris, RdNr 39 ff). Diese Situation ist gegeben, weil bzgl des Arbeitslosengeldes II, einer Pflichtleistung des Grundsicherungsrechts, über die eine gebundene Entscheidung zu treffen ist, die Voraussetzungen des § 328 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB III auf Grund einer höchstrichterlich initiierten Vorlage an den EuGH begründet sind. Denn damit ist im Ergebnis die Kompetenz der Verwaltung entfallen, unter Bezugnahme auf den Leistungsausschluss aus § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II endgültig ablehnend zu entscheiden. Durch das vom BSG initiierte Vorabentscheidungsverfahren steht fest, dass § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II eine Regelung zum Gegenstand hat, deren Europarechtskonformität in Frage steht und einen Vorabentscheidungsverfahren über die Vorschrift erforderlich macht, wobei die Entscheidungserheblichkeit der zur Vorabentscheidung gestellten Frage Voraussetzung des Vorlageverfahrens ist (vgl BSG, Be¬schluss vom 12. Dezember 2013, aaO, RdNr 28ff). Darin liegt – bezogen auf das Ergebnis des Revisionsverfahrens – ein Zwischenschritt, der allerdings von der "instantiellen Autorität" des BSG getragen ist, dh es liegt derzeit zu § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II ein bundeseinheitlich zu beachtendes Zwischenergebnis (wirkungsgleich einem Urteil des höchsten Fachgerichts) des Inhalts vor, dass es einer Vorabentscheidung des EuGH bedarf. Abschließend – bzgl der Sozialgerichte und Landessozialgerichte: ohne Rechtsmittelzulassung – zu erkennen, dass ein Anspruch abzulehnen ist, ist der Kompetenz nationaler Gerichte derzeit entzogen. Damit fehlt in dieser "qualifizierten Vorabentscheidungskonstellation" bzgl einer Pflichtleistung für den zuständigen Leistungsträger "erst recht" die Grundlage für eine endgültige ablehnende Entscheidung; die Kehrseite davon ist es, dass keine ermessensrelevanten Überlegungen der Anwendung der die Sachlage tatbestandlich erfassenden Regelung in §§ 40 Abs 2 Nr 1 SGB II, 328 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB III entgegenstehen. Für (Entschließungs-)Ermessen offen bleibt die Regelung in § 328 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB II hingegen bei Vorlagen von Instanzgerichten, Verfahren vor dem BVerfG, die auf Verfassungsbeschwerden zurückgehen, und für Fälle, in denen nicht Pflichtleistungen Verfahrensgegenstand sind.

Die Anwendung von §§ 40 Abs 2 Nr 1 SGB II, 328 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB III führt zu einer abschlagsfreien Leistungsgewährung. Zunächst rechtfertigt allein der Umstand, dass eine Regelung angewandt wird, die eine vorläufige Leistung gebietet (so die Auffassung des Senats ausweislich der bisherigen Ausführungen) keinen Abschlag. Das BSG hat dies für vorläufige Leistung von Arbeitslosengeld II nach §§ 40 Abs 2 Nr 1 SGB II, 328 Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB III – und auch im Bereich dieser Alternative des § 328 Abs 1 SGB III besteht bzgl der Fragen, ob und in welcher Höhe vorläufig geleistet wird, Ermessen – überzeugend ausgeführt (Urteil vom 06. April 2011 – B 4 AS 118/10 R, juris, RdNr 34) Dazu ergeben sich im vorliegenden Zusammenhang keine abweichenden oder ergänzenden Erwägungen.

Im Weiteren ergibt sich auch daraus, dass die Leistung in einem vorläufigen Verfahren erstritten wird, kein Abschlag. Die Antragstellerin erhält Leistungen nicht im Wege einer Folgenabwägung, anlässlich derer die Verminderung der für den ungedeckten Regelbedarf bestimmten Leistung eine Kompensation für die Zahlungsverpflichtung des SGB II-Trägers trotz ungewissen Ausgangs der Hauptsache ist. Diese Konstellation ist – wie den bisherigen Ausführungen zu entnehmen ist – nicht gegeben, wenn der Anordnungsanspruch aus §§ 40 Abs 2 Satz 1 SGB II, 328 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB III begründet ist. Bestehen die Unwägbarkeiten bzgl der Anspruchsbegründung aufgrund eines der in § 328 Abs 1 Satz 1 Nrn 1 - 3 SGB III genannten ("qualifizierten") Gründe, ist die Rechtsfolgenseite dieser Norm maßgebend, die jedenfalls im vorliegenden Zusammenhang (Sicherung des Existenzminimums) keinen regelhaften Abschlag vorsieht (BSG, Urteil vom 06. April 2011, aaO, RdNr 34).

Der teilweise vertretenen Auffassung, eine Verpflichtung der Verwaltung zur vorläufigen Leistungserbringung nach §§ 40 Abs 2 Satz 1 SGB II, 328 Abs 1 Satz 1 SGB III könne nicht erfolgen, da für den Erlass eines solchen vorläufigen Bescheides schon dann kein Raum mehr bestehe, wenn über den Leistungsanspruch bereits endgültig entschieden sei (so LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 17. März 2014 – L 20 AS 502/14 B ER, juris, RdNr 17, LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 20. März 2014 – L 29 AS 514/14 B ER, juris, RdNr 39 ff) ist nicht zu folgen. Abgesehen davon, dass es nicht überzeugt, dass es der Verwaltung anheim gestellt sein soll, einen ersichtlich einschlägigen, potentiell anspruchsbegründeten Normkomplex "auszuhebeln", indem die Möglichkeit, vorläufig zu entscheiden, ignoriert wird, und weiter davon abgesehen, dass eine Ablehnungsentscheidung nicht als endgültige Ablehnung erkennbar ist, da es eine vorläufige Ablehnung nicht gibt (Greiser, aaO, RdNr 41 mwN), wird damit der Gegenstand von Verwaltungs- und Anordnungsverfahren verkannt. Voraussetzung für die gerichtliche Entscheidung über das Begehren eines Antragstellers im Verfahren auf Erlass einer Regelungsanordnung nach § 86b Abs 2 Satz 2 SGG ist es, dass ein streitiges Rechtsverhältnis (Fehlen einer iSv § 77 SGG bindenden, in den Fristen der §§ 84 Abs 1, 87 Abs 1 SGG nicht mehr angreifbaren Entscheidung) über den Anordnungsanspruch besteht und – jedenfalls in der Regel – eine Vorbefassung der Verwaltung stattgefunden hat. Diese Situation ist bzgl des Anspruchs auf eine auf §§ 40 Abs 2 Nr 1 SGB II, 328 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB III beruhenden vorläufigen Bewilligung gegeben, und zwar unabhängig davon, ob man mit einer ablehnenden Verwaltungsentscheidung zugleich die vorläufige Leistungserbringung als abgelehnt ansieht – dann ist die Erbringung einer vorläufigen Leistung selbstverständlich Gegenstand des Anordnungsverfahrens – oder nicht. Denn für den Fall, dass die Erbringung einer vorläufigen Leistung nicht abgelehnt worden ist, ist insoweit das Verwaltungsverfahren noch offen. Dass die Verwaltung für den Fall der Ablehnung (die Leistung als endgültige zu erbringen) über dieselbe Leistung als vorläufige zu entscheiden hat, gilt deshalb, weil der ohne Einschränkungen gestellte Leistungsantrag nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung (dazu BSG, Urteil vom 02. April 2014 – B 4 AS 29/13 R, jurisRdNr 16 mwN) fraglos auch als Antrag auf der Erbringung der Leistung als vorläufige Leistung (der in § 328 Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB III ausdrücklich erwähnt und mit einer Rechtsfolge versehen ist, aber "natürlich" auch bzgl der anderen Alternativen möglich ist) auszulegen ist. Einen Antrag nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung auszulegen bedeutet, davon auszugehen, dass – sofern keine ausdrückliche Beschränkung vorgenommen ist – alle nach Lage des Falles ernsthaft in Betracht kommenden Leistungen begehrt werden, unabhängig davon, welcher Ausdruck gewählt und welcher Vordruck verwendet wird (BSG, Urteil vom 02. April 2014, aaO, RdNr 16). Gesichtpunkte, die gegen eine iSd Meistbegünstigung weite Auslegung eines Antrags sprechen, ergeben sich, wenn Leistungen deutlich unterschiedlichen Anspruchsvoraussetzungen haben, insbesondere wenn gemeinsame Anknüpfungstatbestände fehlen, sowie bei unterschiedlicher Leistungsverantwortlichkeit bzw Leistungsträgerschaft (BSG, Urteil vom 02. April 2014, aaO, RdNr 19,22). Der Antrag auf Gewährung von Arbeitslosengeld II umfasst nach diesen Grundsätzen den Antrag auf vorläufige Leistung desselben, da die vorläufige Erbringung naheliegend ist, uneingeschränkt im Interesse der Antragstellerin liegt und alle Gesichtspunkte fehlen, die dem widerstreiten könnten.

Eine Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Dieser Beschluss ist nicht mit einer Beschwerde an das BSG anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
Saved