L 6 AS 883/14 B ER

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Wiesbaden (HES)
Aktenzeichen
S 3 AS 902/14 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 6 AS 883/14 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Unionsbürger, die die Voraussetzungen für das Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU nicht erfüllen, die aber wegen der Freizügigkeitsvermutung nicht ausreisepflichtig sind (§ 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU), haben kein sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebendes Aufenthaltsrecht. Sie unterfallen daher nicht dem Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II.

2. Zu den Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung bei der erweiternden Auslegung oder analogen Anwendung des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II
I. Die Beschwerde der Antragsteller gegen den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 1. Dezember 2014 wird zurückgewiesen.

II. Die Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.

III. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren wird zurückgewiesen.

Gründe:

Die am 22. Dezember 2014 erhobene Beschwerde der Antragsteller, die nach verständiger Auslegung von beiden Antragstellern mit dem Antrag eingelegt worden ist,
den Beschluss des Sozialgerichts Wiesbaden vom 1. Dezember 2014 aufzuheben und die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, an sie Leistungen nach dem 2. Kapitel des Sozialgesetzbuches, Zweites Buch, Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) in gesetzlicher Höhe, mindestens in Höhe vom 1.055,57 EUR sowie eines Mietanteils i.H.v. 478,82 EUR zu gewähren,

ist zulässig, jedoch nicht begründet.

Das Sozialgericht hat den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung im Ergebnis zu Recht abgelehnt.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (Regelungsanordnung). Ein solcher wesentlicher Nachteil ist nur anzunehmen, wenn dem Antragsteller gegenüber dem Antragsgegner ein materiell-rechtlicher Leistungsanspruch in der Hauptsache zusteht (Anordnungsanspruch) und es ihm darüber hinaus nicht zuzumuten ist, die Entscheidung über den Anspruch in der Hauptsache abzuwarten (Anordnungsgrund). Die tatsächlichen Voraussetzungen für das Vorliegen eines Anordnungsanspruches und eines Anordnungsgrundes sind vom Antragsteller glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung - ZPO).

Zwar ist ein Anordnungsanspruch noch nicht aufgrund von § 7 Abs. 1 Satz 1 oder Satz 2 SGB II ausgeschlossen (dazu 1.). Die Antragsteller haben aufgrund der Lückenhaftigkeit der Angaben zum Einkommen und der im Übrigen vorhandenen Einkommenszuflüsse einen Anordnungsanspruch jedoch nicht glaubhaft gemacht (dazu 2.).

1. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts und der Antragsgegnerin ist der Anspruch nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen. Für den Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums kommt der Antragstellerin zu 1. dabei allein die Freizügigkeitsvermutung zugute (vgl. §§ 5 Abs. 4, 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU; dazu jüngst auch BT-Drs. 18/2581, S. 16), sie hatte jedoch kein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche.

Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erfordert eine "fiktive Prüfung" des Grundes bzw. der Gründe des Aufenthaltsrechts am Maßstab des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) und ggf. des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG); bereits das Vorhandensein der Voraussetzungen eines Aufenthaltsrechts aus einem anderen Grund als dem Zweck der Arbeitsuche hindert die von der Rechtsprechung des BSG geforderte positive Feststellung eines Aufenthaltsrechts "allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" i.S. von § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (BSG, Urteil vom 30. Januar 2013 – B 4 AS 54/12 R – juris Rn. 23 ff. m.w.N.). Umgekehrt handelt es sich bei einem legalen Aufenthalt allein aufgrund der Freizügigkeitsvermutung nicht um ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche: Gemäß der für den Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums noch anzuwendenden Norm des § 2 Abs. 2 Nr. 1 2. Var. FreizügG/EU a.F. ist eine Unionsbürgerin in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH solange freizügigkeitsberechtigt, wie sie mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht. Dabei ist es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, den Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der zum Zweck der Stellensuche in sein Gebiet eingereist ist, auszuweisen, wenn dieser nach sechs Monaten keine Stelle gefunden hat, sofern der Betroffene nicht nachweist, dass er weiterhin und mit begründeter Aussicht auf Erfolg Arbeit sucht (EuGH, Urteil vom 26. Februar 1991, Rs. C 292/89 – Antonissen; vgl. dazu auch die nunmehr geltende Fassung von § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU).

Die Antragstellerin zu 1. hat kein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige ihrer Mutter. Obwohl die Antragsteller zeitweise bei ihrer erwerbstätigen Mutter bzw. Großmutter lebten und von ihr auch zeitweise unterstützt wurden, haben sie keine für das Aufenthaltsrecht nach § 3 FreizügG/EU hinreichende Unterhaltsgewährung glaubhaft gemacht (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 16. Januar 2014 – Rs. C- 423/12 – Reyes, juris). Indes fehlte zu Beginn des streitgegenständlichen Zeitraums auch ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche, weil sich die Antragstellerin zu 1. nach ihren eigenen Angaben nicht mehr um Arbeit bemüht hat, sondern ihre eigenen Verletzungen aufgrund einer Gewalttat auskuriert und sich um ihren erkrankten Sohn gekümmert hat. Auch wenn sie – u.U. durch Vermittlung ihrer Mutter - nunmehr eine Beschäftigung aufgenommen hat, so sind für den vorherigen Zeitraum weder von Antragsteller- noch von Antragsgegnerseite Umstände vorgetragen, die auf eine tatsächliche Stellensuche mit begründeter Aussicht auf Erfolg hindeuten.

Es gibt auch nach dem Urteil des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 11. November 2014 – Rs. C-333/13 – Dano – keinen methodisch tragfähigen Grund, § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II erweiternd auszulegen oder analog auf die Konstellation anzuwenden, dass der Aufenthalt allein wegen der Freizügigkeitsvermutung legal ist. Der Senat hält insoweit an seiner Rechtsprechung fest (vgl. Urteil des Senats vom 27. November 2013 - L 6 AS 378/12 – juris; wie hier auch: LSG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 6. März 2014 – L 31 AS 1348/13; LSG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 10. Oktober 2013 – L 19 AS 129/13; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 1. November 2013 – L 2 AS 841/13 B ER; Beschl. v. 14. Juli 2014 – L 2 AS 288/14 B ER; Thüringer LSG, Beschl. v. 25. April 2014, L 4 AS 306/14 B ER; Groth, jurisPR-SozR 2/2015, Anm. 1, C.; Kingreen, SGb 2013, 132, 134; Wallrabenstein, in: Fachbereich Rechtswissenschaft der Goethe-Universität (Hrsg.), 100 Jahre Rechtswissenschaft in Frankfurt (Festschrift), 2014, S. 229, 240 ff.; krit., aber de lege lata befürwortend: Panidou, ZfSH/SGB 2015, 13, 21; anderer Ansicht: LSG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 10. Dezember 2014 - L 20 AS 2697/14 B ER, L 20 AS 2699/14 B ER PKH; LSG Hamburg, Beschl. v. 1. Dezember 2014 - L 4 AS 444/14 B ER; Hessisches LSG, Beschl. v. 11. Dezember 2014 – L 7 AS 528/14 B ER; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschl. v. 15. November 2013, L 15 AS 365/13 B ER; Beschl. v. 18. März 2014, L 13 AS 363/13 B ER; LSG NRW, Beschl. v. 3. Dezember 2014 – L 2 AS 1623/14 B ER). Der Europäische Gerichtshof hat in seiner Entscheidung vom 11. November 2014 im Tenor festgestellt, dass u.a. Art. 24 Abs. 1 der Unionsbürger-Richtlinie (RL 2004/38/EG) einem Leistungsausschluss nicht entgegensteht, "sofern den betreffenden Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten im Aufnahmemitgliedstaat kein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 zusteht." Ein derartiger Leistungsausschluss ist nach Wortlaut, Systematik, Entstehungsgeschichte und Zweck in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht geregelt (vgl. die o.g. Nachweise). Der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II dient primär der Umsetzung von Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG bei einem bestehenden Aufenthaltsrecht nach Art. 21 Abs. 1 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) i.V.m. Art. 7, Art. 14 Abs. 4 lit. b) RL 2004/38/EG. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG ist im Fall fehlender Arbeitsuche also gerade nicht einschlägig (so EuGH, Urteil vom 11. November 2014 – Rs. C-333/13 – Dano, Rn. 66). Die Gesamtregelung des § 7 Abs. 1 SGB II ist zudem in sich stimmig und ohne Regelungslücke, da Fälle, in denen dem betreffenden Staatsangehörigen "kein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 zusteht", teilweise vom Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II mit einer entsprechenden Überleitung ins Leistungssystem des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) erfasst werden. Dieser Leistungsausschluss greift allerdings nach § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG – der aufenthaltsrechtlichen Systematik folgend – erst bei vollziehbarer Ausreisepflicht, die wiederum einen entsprechenden ausländerbehördlichen Verwaltungsakt voraussetzt. Im Übrigen wird der Zugang zum Arbeitslosengeld II-Anspruch nur über den gewöhnlichen Aufenthalt gesteuert.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass die neuere Gesetzgebungsentwicklung die methodischen Bedenken des Senats gegen einen "erst recht"-Schluss oder eine anspruchsausschließende Analogie noch erheblich verstärkt hat. Der Gesetzgeber hat sich jüngst aufgrund einer Würdigung der hier betroffenen Konstellation und der hierzu ergangenen Rechtsprechung bewusst gegen eine Änderung des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II entschieden (siehe Gesetz zur Änderung des Freizügigkeitsgesetzes/EU und weiterer Vorschriften vom 2. Dezember 2014, BGBl. I 2014, 1922). Diesem Artikelgesetz voraus ging der BMI/BMAS-Abschlussbericht des Staatssekretärsausschusses zu "Rechtsfragen und Herausforderungen bei der Inanspruchnahme der sozialen Sicherungssysteme durch Angehörige der EU-Mitgliedstaaten" (BT-Drs. 18/2470), in dem sowohl Änderungen des Sozialrechts wie des Aufenthaltsrechts eingehend erörtert wurden. Zur Frage des Leistungsausschlusses findet sich dort sowohl eine Aufarbeitung der Rechtslage (BT-Drs. 18/2470, S. 37 f.) als auch die Feststellung, dass hinsichtlich einer Änderung der Leistungsausschlüsse im SGB II keine Handlungsspielräume gesehen werden (S. 62). Vorgeschlagen wurde im SGB II allein (siehe BT-Drs. 18/2470, S. 5) die nunmehr durch Art. 4 des genannten Artikelgesetzes auch umgesetzte finanzielle Entlastung der Kommunen durch § 46 Abs. 7a SGB II. Demnach dürfte es sich bei Leistungsausschlüssen im Wege des "erst recht"-Schlusses oder der Analogie um unzulässige richterliche Rechtsfortbildungen handeln, die im Übrigen am Maßstab des für menschenwürdesichernde Leistungen geltenden Gesetzesvorbehalts auch materiell verfassungswidrig wären.

Ab 1. Februar 2015 greift der Leistungsausschluss nicht, da die Antragstellerin zu 1. nunmehr Arbeitnehmerin ist; die glaubhaft gemachte, unbefristete geringfügige Beschäftigung von wöchentlich 10 Stunden zu 9,55 EUR brutto verschafft ihr ein Aufenthaltsrecht als Arbeitnehmerin nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU (zu den Anforderungen vgl. Senatsbeschluss vom 7. Januar 2015 – L 6 AS 815/14 B ER).

2. Soweit dem Leistungsanspruch der Antragsteller kein Ausschlusstatbestand entgegensteht, ist allerdings die Hilfebedürftigkeit nicht glaubhaft gemacht. Sowohl die auf die Aufklärungsverfügungen des Berichterstatters vom 13. Januar und 22. Januar 2015 vorgelegten Kontoauszüge als auch die eidesstattlichen Versicherungen sind lückenhaft und nicht miteinander in Einklang zu bringen. Von den Kontoauszügen fehlen u.a. vom Auszug Nr. 18/2014 die Seiten 1 und 2; nach den vorgelegten Kontoauszügen betrifft dies den Zeitraum vom 29. November bis 15. Dezember 2014. Anhand der vorliegenden Kontoauszüge kann zudem nicht nachvollzogen werden, in welchem Verhältnis die vorgetragenen Zahlungen durch den Vater der Antragstellerin zu 1. im November (300,- EUR) und den Vater ihres Sohnes im Dezember (500,- EUR) zu den Bareinzahlungen auf das Girokonto der Antragstellerin zu 1. am 5. November 2014 i.H.v. 753,23 EUR und am 12. Januar 2015 i.H.v. 909,46 EUR stehen. Nahe vor dem streitgegenständlichen Zeitraum ist zudem aus dem Saldo des unvollständig vorgelegten Auszugs Nr. 12/2014 eine Summe von Zahlungseingängen i.H.v. 2.493,26 EUR Ende September/Anfang Oktober 2014 zu verzeichnen, von denen maximal 1.239,57 EUR auf die Leistungsbewilligung für September und das Kindergeld entfallen können; am 6. Oktober 2014 kommt noch eine Überweisung von E. zum Verwendungszweck "Rech 02-03" i.H.v. 814,36 EUR hinzu, wobei es sich aufgrund der von der Antragstellerin zu 1. angegebenen Beschäftigung im Februar und März 2014 um nachgezahlten Lohn handeln könnte.

3. Zur Vermeidung von Folgestreitigkeiten weist der Senat darauf hin, dass eine Ausräumung der unter 2. genannten Zweifel gegenüber der Antragsgegnerin auch noch im laufenden Widerspruchsverfahren möglich ist, da der zu regelnde Leistungszeitraum aufgrund der Vollablehnung ab 1. Oktober 2014 mindestens bis zum Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides reicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung.

Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG nicht mit der Beschwerde anfechtbar.

Die Entscheidung über die Ablehnung des Prozesskostenhilfegesuches folgt aus § 73a SGG i.V.m. §§ 114ff. ZPO. Da der Anspruch allein aus Gründen, die in der Sphäre der Antragstellerin liegen, verneint wurde, begründet auch der Aufklärungsbedarf keinen Prozesskostenhilfeanspruch.
Rechtskraft
Aus
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