S 57 AS 1501/15 ER

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
57
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 57 AS 1501/15 ER
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Der Antragsgegner wird vorläufig verpflichtet, a. der Antragstellerin zu 2 für den Zeitraum vom 27. April 2015 bis zum 31. Juli 2015 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren; b. den Antragstellern zu 1, 3 und 4 für den Zeitraum vom 27. April 2015 bis zum 31. Juli 2015 höhere Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren, die sich nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen ergeben, wenn auch die Antragstellerin zu 2 leistungsberechtigt ist. 2. Der Antragsgegner hat den Antragstellern die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

I. Ausdrücklich haben lediglich die anwaltlich nicht vertretenen Antragsteller zu 1 und 2 um Eilrechtsschutz nachgesucht. Bei einer am Meistbegünstigungsprinzip orientierten Würdigung ihres Vorbringens haben sie den Eilantrag aber auch für ihre beiden Söhne gestellt, die Antragsteller zu 3 und 4. Bei weiterer verständiger Würdigung des Vorbringens begehrt die Antragstellerin zu 2, eine EU-Bürgerin mit rumänischer Staatsangehörigkeit, die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners, ihr Arbeitslosengeld II nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) – Grundsicherung für Arbeitsuchende – zu gewähren. Die Antragsteller zu 1, 3 und 4, die bereits Leistungen vom Antragsgegner beziehen, begehren hingegen die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners, ihre Ansprüche entsprechend neu zu berechnen.

II. Der so verstandene Eilantrag hat Erfolg. Er ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in Form der Regelungsanordnung zulässig. Er ist auch begründet. Eine Regelungsanordnung kann getroffen werden, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG –). Hierfür muss sowohl ein Anordnungsanspruch bestehen, also ein materiell-rechtlicher Anspruch auf die begehrte Leistung, sowie ein Anordnungsgrund, nämlich ein Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG iVm §§ 294, 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung). Das ist den Antragstellern gelungen.

1. Es erscheint überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragstellerin zu 2 Arbeitslosengeld II vom Antragsgegner beanspruchen kann. Mit dem Erkenntnisstand im Eilverfahren spricht mehr dafür als dagegen, dass sie ihren behaupteten Anspruch auf § 19 Abs. 1 Satz 1 in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II stützen kann. a. Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, zum Kreis der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten zu gehören, die grundsätzlich SGB II-Leistungen erhalten.

aa. Insbesondere erscheint es überwiegend wahrscheinlich, dass sie erwerbsfähig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 in Verbindung mit § 8 Abs. 2 Satz 1 SGB II ist. Als EU-Bürgerin rumänischer Staatsangehörigkeit ist ihr eine Beschäftigungsaufnahme im Bundesgebiet erlaubt. Namentlich benötigt sie wegen der ihr zustehenden uneingeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit zur Beschäftigungsaufnahme keine Arbeitsgenehmigung (s. dazu, bezogen auf s. Staatsangehörige, BSG, Beschl. v. 12.12.2013, B 4 AS 9/13 R, juris-Rn. 12). Es ist auch nicht anzunehmen, dass das Leistungsvermögen der Antragstellerin zu 2 derzeit wegen einer "problematisch verlaufenden Schwangerschaft" (vgl. ihren Schriftsatz vom 19. Mai 2015) aus gesundheitlichen Gründen vollständig aufgehoben ist. Dazu müsste sie auf absehbare Zeit außerstande sein, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Dafür spricht nichts, zumal die Schwangerschaft ein vorübergehender Zustand und voraussichtlicher Entbindungstermin hier schon der 1. Oktober 2015 ist.

bb. Ebenso überwiegend wahrscheinlich erscheint die Hilfebedürftigkeit im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II. Die Antragstellerin zu 2 lebt unstreitig in einer Bedarfsgemeinschaft mit den übrigen Antragstellern, die vom Antragsgegner als hilfebedürftig angesehen werden, und es gibt keinen Hinweis auf zusätzliches berücksichtigungsfähiges Einkommen oder Vermögen bei ihr.

b. Die Antragstellerin zu 2 unterfällt mit dem Erkenntnisstand im Eilverfahren keinem Ausschlusstatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II, worüber die Beteiligten allein streiten. Das Gericht geht mit Blick auf die Meldebestätigung vom 23. Januar 2015 und die Melderegisterauskunft vom 26. März 2015 davon aus, dass die Antragstellerin zu 2 sich seit dem 20. November 2014 und damit seit mehr als drei Monaten wieder im Bundesgebiet aufhält, nachdem sie zwischenzeitlich in R. war. Sie unterfällt offensichtlich nicht dem Asylbewerberleistungsgesetz. Als Ausschlusstatbestand kommt daher allenfalls § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II in Betracht. Nach dieser Vorschrift sind unter anderem Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, von SGB II-Leistungen ausgenommen. Das trifft auf die Antragstellerin zu 2 aber mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht zu. aa. Mit dem Erkenntnisstand im Eilverfahren geht das Gericht zwar davon aus, dass ihr derzeit kein Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitsuche aus § 2 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 1 Var. 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügigkeitsG/EU) zusteht. Es ist nicht glaubhaft gemacht und letztlich nicht einmal vorgetragen, dass die Antragstellerin zu 1 arbeitsuchend ist (s. dazu, dass über den Wortlaut des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II hinaus auch von SGB II-Leistungen ausgeschlossen ist, wer keine tatsächliche und aktive Arbeitsuche betreibt, LSG Hamburg, Beschl. v. 6. Okt. 2014, L 4 AS 307/14 B ER; Beschl. v. 1. Dez. 2014, L 4 AS 444/14 B ER). Die Antragstellerin zu 2 hat nach den bislang vorliegenden Informationen aktuell keine Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt und hat sie auch in der Vergangenheit nicht gehabt. Im Erstantrag wurde die Angabe, vom 16. März 2013 bis zum 1. August 2014 eine selbstständige Tätigkeit als Reinigungskraft durchgeführt, wieder durchgestrichen. Es findet sich kein anderweitiger Hinweis auf eine frühere selbstständige Tätigkeit oder abhängige Beschäftigung. Die Antragstellerin zu 2 hat selbst vorgebracht, erst "perspektivisch" arbeiten zu wollen, wenn die Kinderbetreuung ausreichend geklärt sei und sie bessere Deutschkenntnisse habe (vgl. ihren Schriftsatz vom 19. Mai 2015).

bb. Ebenso wenig steht der Antragstellerin zu 2 ein vom Antragsteller zu 1 abgeleitetes Aufenthaltsrecht wegen Familienzusammenführung aus § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügigkeitsG/EU zu. Hierfür müssten die beiden verheiratet sein. Nicht verheiratete Partner wie die Antragstellerin zu 2 sind keine Familienangehörige im Sinne des § 3 Abs. 2 FreizügigkeitsG/EU.

cc. Die Antragstellerin hat jedoch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit ein eigenständiges Aufenthaltsrecht wegen des vom Antragsteller zu 3, ihrem Sohn, wahrgenommenen Rechts auf Zugang zu einer Ausbildung (s. dazu, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht greift, wenn das Aufenthaltsrecht an das Schulbesuchsrecht eines eigenen Kindes gebunden ist, Schlussanträge des Generalanwalts W. vom 26. März 2015 in der Rechtssache C-67/14 – "A." –, Rn. 119 ff.; SG Hamburg, Beschl. v. 20. April 2015, S 6 AS 834/15 ER).

(1) Das Schulbesuchsrecht der Familienangehörigen von Wanderarbeitern ist heute in Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (Verordnung Nr. 492/2011) geregelt. Nach dieser Vorschrift können die Kinder eines Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats beschäftigt ist oder beschäftigt gewesen ist, unter den gleichen Bedingungen wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats am allgemeinen Unterricht sowie an der Lehrlings- und Berufsausbildung teilnehmen, wenn sie im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats wohnen.

(2) Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs leitet sich aus diesem Schulbesuchsrecht ein eigenständiges Aufenthalts zunächst der Kinder ab: Kinder eines EU-Bürgers, die in einem Mitgliedstaat seit einem Zeitpunkt wohnen, zu dem dieser Bürger dort als Wanderarbeitnehmer ein Aufenthaltsrecht hatte, sind zum Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat berechtigt, um dort weiterhin am allgemeinen Unterricht teilzunehmen (grundlegend Urt. d. Gerichtshofes v. 17. Sept. 2002, B. und R. gegen S., Rechtsache C-413/99 – "B.” –, Rn. 63).

Demnach besteht ein eigenständiges Aufenthaltsrecht des Antragstellers zu 3, der freilich als Familienangehöriger des Antragstellers zu 1 bereits über ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht aus § 3 Abs. 1 Satz 1 FreizügigkeitsG/EU verfügt: Der Antragsteller zu 3 ist Kind des Antragstellers zu 1. Dieser wiederum ist ein EU-Bürger rumänischer Staatsangehörigkeit, der als Wanderarbeiter ein Aufenthaltsrecht im Bundesgebiet hat, denn er ist nach den Angaben im Erstantrag jedenfalls seit dem 2. Juni 2014 sozialversicherungspflichtig im Bundesgebiet beschäftigt und übt derzeit eine durch Arbeitsvertrag belegte Tätigkeit als Packer bei der Fa. K. Logistik aus; der Arbeitnehmerstatus des Antragstellers zu 1 dürfte im Übrigen vom Antragsgegner nicht angezweifelt werden, der ihm aktuell Leistungen gewährt. Ausweislich der vorliegenden Meldeunterlagen zog der Antragsteller zu 3 ebenso wie die Antragstellerin zu 2 erst (wieder) am 20. November 2014 nach Deutschland und damit zu einem Zeitpunkt, zu dem der Arbeitnehmerstatus des Antragstellers zu 1 bereits bestand. Der Antragsteller zu 3 nimmt schließlich aktuell sein Schulbesuchsrechts war. Ausweislich der Schulbescheinigung vom 19. März 2015 besucht er als Vorschüler voraussichtlich bis zum 31. Juli 2015 die Ganztagsschule F., eine allgemeine Schule. Dass für den 5-jährigen Antragsteller zu 3 noch keine Schulpflicht besteht, ist insoweit ohne Belang. Es gibt schließlich keinerlei Anlass anzunehmen, der erst von gut acht Wochen bescheinigte Schulbesuch finde nicht mehr oder nicht regelmäßig statt.

(3) Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs leitet sich aus Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011 zudem ein eigenständiges Aufenthaltsrecht jedes Elternteils ab, der die tatsächliche Sorge für ein Kind ausübt, das sein Schulbesuchsrecht wahrnimmt: Haben Kinder ein Aufenthaltsrecht in einem Aufnahmemitgliedstaat um dort, wie heute in Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011 vorgesehen, am allgemeinen Unterricht teilzunehmen, dann erlaubt dieser Artikel dem Elternteil, der die Personensorge für die Kinder tatsächlich wahrnimmt, ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit den Aufenthalt bei den Kindern, um diesen die Wahrnehmung ihres genannten Rechts zu erleichtern, selbst wenn die Eltern inzwischen geschieden sind oder der Elternteil, der Bürger der Europäischen Union ist, nicht mehr Wanderarbeitnehmer im Aufnahmemitgliedstaat ist (grundlegend Urt. d. Gerichtshofes v. 17. Sept. 2002, B. und R. gegen S., Rechtsache C-413/99 – "B.” –, Rn. 75).

Demnach besteht auch ein eigenständiges Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 2 aus Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011: Ihr Sohn, der Antragsteller zu 3, besitzt wie ausgeführt ein Aufenthaltsrecht aus diesem Artikel. Es erscheint auch überwiegend wahrscheinlich, dass sie die Personensorge tatsächlich wahrnimmt. Nach dem Erkenntnisstand im Eilverfahren steht den Antragstellern zu 1 und 2 das gemeinsame Sorgerecht zu, die gesamte Familie lebt zusammen und es gibt keinerlei Hinweis darauf, dass die Antragstellerin zu 2 das ihr zustehende Sorgerecht tatsächlich nicht ausübe. Dass das Sorgerecht allein ausgeübt wird, wird zur Begründung eines Aufenthaltsrechts aus Art. 10 der Verordnung Nr. 492/2011 nicht verlangt.

2. Es erscheint überwiegend wahrscheinlich, dass die Antragsteller zu 1, 3 und 4 höhere Leistungen beanspruchen können, als ihnen mit Bescheid vom 15. April 2015 bewilligt wurden. Aufgrund der vorläufigen Verpflichtung des Antragsgegners, auch der Antragstellerin zu 2 Leistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren, verändert sich gemäß § 9 Abs. 2 Satz 3 SGB II die Bedarfsberechnung für alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft (horizontale Bedarfsberechnung). Da ein entsprechender Teil des Erwerbseinkommens des Antragstellers zu 1 nunmehr bei der Antragstellerin zu 2 zu berücksichtigen ist, erhöht sich der ungedeckte Bedarf bei den Antragstellern zu 1, 3 und 4, wodurch ihre individuellen Leistungsansprüche steigen.

3. Die Antragsteller haben schließlich glaubhaft gemacht, zur Abwendung wesentlicher Nachteile auf eine sofortige gerichtliche Regelung angewiesen zu sein. Das folgt bereits aus dem existenzsichernden Charakter der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts.

4. Die Verpflichtung des Antragsgegners wird bis zum Schuljahresende am 31. Juli 2015 beschränkt, weil darüber hinaus ein Schulbesuch des Antragstellers zu 3 noch nicht belegt ist. Sollte der Antragsteller zu 3 anschließend die 1. Grundschulklasse besuchen, besteht aber auch das damit verbundene Aufenthaltsrecht der Antragstellerin zu 2 unverändert fort.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf dem Rechtsgedanken des § 193 SGG und berücksichtigt den Verfahrensausgang.
Rechtskraft
Aus
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