L 8 AS 125/15 B ER

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
Sächsisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
8
1. Instanz
SG Leipzig (FSS)
Aktenzeichen
S 16 AS 4617/14 ER
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
L 8 AS 125/15 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Eine vorzeitige Altersrente kann nicht schon vor ihrer Bewilligung als „fiktives Einkommen“ berücksichtigt werden, das die Hilfebedürftigkeit im Sinne von § 9 Abs. 1 SGB II vermindert oder entfallen lässt. Dies gilt auch dann, wenn der Leistungsträger diese Rente gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II für den Leistungsberechtigten beantragt hat und es dem Leistungsberechtigten möglich wäre, durch Mitwirkung im Rentenverfahren zeitnah einen tatsächlichen Zufluss der vorzeitigen Altersrente zu erreichen.
2. Der Leistungsträger hat jedoch die Möglichkeit, dem Leistungsberechtigten, der seiner Mitwirkungspflicht im Rentenverfahren nicht nachkommt, in entsprechender Anwendung des § 66 Abs. 1 SGB I Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu versagen oder zu kürzen. Hierzu muss er den Leistungsberechtigten entsprechend § 66 Abs. 3 SGB I zuvor konkret und verständlich auf seine Mitwirkungspflicht im Rentenverfahren hinweisen und ihm eine angemessene Frist setzen, in er seiner Pflicht nachzukommen hat.
I. Die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Leipzig vom 12. Januar 2015 wird zurückgewiesen.

II. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin auch die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe:

Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Weitergewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Die am ...1951 geborene Antragstellerin bezieht seit 2005 Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II, zuletzt vom Antragsgegner bewilligt für den November 2014 in Höhe von insgesamt 683,66 EUR (davon 362,20 EUR für den Regelbedarf und 321,46 EUR für Unterkunft und Heizung).

Nachdem der Antragsgegner die Antragstellerin mit Bescheiden vom 29.07.2013 und 21.10.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.12.2013 aufgefordert hatte, eine vorzeitige Altersrente ab Vollendung des 63. Lebensjahres zu beantragen, stellte er am 04.12.2013 bei der Deutschen Rentenversicherung M (DRV) einen Rentenantrag und meldete zugleich einen Erstattungsanspruch an. Die gegen diese Bescheide gerichtete Klage hatte vor dem Sozialgericht Leipzig (SG) nur insoweit Erfolg, als die Antragstellerin darin aufgefordert worden sei, eine Altersrente mit Rentenbeginn vor dem 01.02.2014 zu stellen (Gerichtsbescheid vom 13.05.2014 – S 17 AS 4284/13 – juris). Gegen die Klagabweisung im Übrigen legte die Antragstellerin am 13.06.2014 Berufung zum Sächsischen Landessozialgericht (LSG) ein (L 8 AS 780/15).

Unter dem 16.09.2014 teilte die DRV dem Antragsgegner mit, dass sie die Antragstellerin unter Hinweis auf den vom Antragsgegner gestellten Rentenantrag und den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung der dagegen erhobenen Klage aufgefordert habe, bis zum 10.10.2014 einen "formellen Rentenantrag" zu stellen. Daraufhin beantragte die Antragstellerin am 10.10.2014 beim Sächsischen LSG die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihrer Klage (L 8 AS 1232/14 ER).

Am 15.10.2014 beantragte die Antragstellerin beim Antragsgegner die Weiterbewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für die Zeit ab 01.12.2014. Der Antragsgegner forderte die Antragstellerin mit Schreiben vom 28.10.2014 auf, bis zum 14.11.2014 einen "Nachweis über die formelle Rentenantragstellung" beizubringen. Das Schreiben enthielt eine Belehrung über die Mitwirkungspflichten aus § 60 Erstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB I) und den Hinweis, dass Leistungen gemäß §§ 60, 66, 67 SGB I im Falle eines Ausbleibens der geforderten Mitwirkung ganz versagt werden könnten, bis die Mitwirkung nachgeholt werde. Unter dem 10.11.2014 teilte die Antragstellerin mit, sie werde der Aufforderung vom 28.10.2014 nicht nachkommen. Daraufhin lehnte der Antragsgegner mit Bescheid vom 25.11.2014 die Weiterbewilligung von Leistungen für die Zeit ab 01.12.2014 ab. Es bestehe keine Hilfebedürftigkeit gemäß § 9 Abs. 1 i.V.m. § 2 SGB II, da die Antragstellerin der "Aufforderung zur Rentenantragstellung (formelle Antragstellung)" nicht nachgekommen sei. Hiergegen legte die Antragstellerin am 01.12.2014 Widerspruch ein.

Zugleich hat die Antragstellerin am 04.12.2014 beim SG im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Weiterbewilligung von Grundsicherungsleistungen beantragt. Zur Begründung hat sie darauf hingewiesen, dass es weder im Eilverfahren (L 8 AS 1232/14 ER) noch in der Hauptsache (L 8 AS 780/15) eine rechtskräftige Entscheidung gebe. Der Antragsgegner hat erwidert, es bestehe keine Hilfebedürftigkeit, da die Antragstellerin durch die Mitwirkung im Rentenverfahren auf einfachem Wege ihren Lebensunterhalt sicherstellen könne.

Mit Beschluss vom 12.01.2015 hat das SG den Antragsgegner verpflichtet, der Antragstellerin für die Zeit vom 04.12.2014 bis 31.12.2014 vorläufig 603,00 EUR und für die Zeit vom 01.01.2015 bis 31.05.2015 vorläufig monatlich 670,00 EUR zu gewähren. Der Antragstellerin sei es nicht zumutbar, ihre Hilfebedürftigkeit durch Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente zu beseitigen bzw. zu verringern. Würde sie selbst einen Antrag auf vorzeitige Altersrente stellen, könnte das mit ihrer Klage verfolgte Ziel, keinen Rentenantrag stellen zu müssen, nicht mehr erreicht werden. Die Antragstellerin müsse jedoch Gelegenheit haben, von ihrem Recht auf gerichtliche Überprüfung der Bescheide vom 29.07.2013 und 21.10.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 02.12.2013 Gebrauch zu machen.

Hiergegen richtet sich der Antragsgegner mit seiner am 12.02.2015 eingelegten Beschwerde. Die Antragstellerin sei nicht hilfebedürftig im Sinne des § 9 Abs. 1 i.V.m. § 2 SGB II sei. Zwar stelle § 9 Abs. 1 SGB II darauf ab, ob der Hilfebedürftige Leistungen anderer Sozialleistungsträger "erhalte", und insofern sei einzuräumen, dass der Antragstellerin noch keine Rentenleistungen zuflössen. Als "bereite Mittel" würden aber auch solche Mittel gelten, die der Leistungsberechtigte einfach durchsetzen könne, d.h. bei denen die Rechtsdurchsetzung so zügig erfolgen könne, dass der Bedarf in absehbarer Zeit abgedeckt werden könne, und die Kosten der Rechtsdurchsetzung den Leistungsberechtigten nicht übermäßig belasteten. Dies sei hier der Fall, da die Rentengewährung allein an der fehlenden Mitwirkung der Klägerin scheitere und ihr dabei auch keine Kosten entstünden. Da die Antragstellerin nicht hilfebedürftig sei, habe er – der Antragsgegner – die Leistungen auch nicht (nur) nach § 66 SGB I mangels Mitwirkung versagen müssen.

Das Sächsische LSG hat es mit Beschluss vom 19.02.2015 (L 8 AS 1232/14 ER – juris) abgelehnt, die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Bescheide vom 29.07.2013 und 21.10.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 02.12.2013 anzuordnen, da diese nach summarischer Prüfung rechtlich nicht zu beanstanden seien, und mit Urteil vom 29.04.2015 (L 8 AS 780/15 – noch nicht rechtskräftig) den die Klage gegen diese Bescheide abweisenden Gerichtsbescheid des SG vom 13.05.2014 bestätigt.

Der Antragsgegner hat mit Bescheid vom 25.02.2015 den Widerspruch gegen die Ablehnung der Weiterbewilligung von Leistungen für die Zeit ab 01.12.2014 zurückgewiesen. Die Antragstellerin hat dagegen am 20.03.2015 Klage zum SG erhoben (S 14 AS 987/15), über die noch nicht entschieden ist.

Der Antragsgegner beantragt, den Beschluss des Sozialgerichts Leipzig vom 12. Januar 2015 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.

Die Antragstellerin beantragt, die Beschwerde zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen.

II.

Die zulässige Beschwerde ist unbegründet. Das SG hat den Antragsgegner im Ergebnis zu Recht im Wege der einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Weitergewährung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II verpflichtet.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn die Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Dazu sind gemäß § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG in Verbindung mit § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung sowohl der durch die Anordnung zu sichernde, im Hauptsacheverfahren geltend gemachte Anspruch (Anordnungsanspruch) als auch der Grund, weshalb die Anordnung ergehen und dieser Anspruch vorläufig bis zur Entscheidung der Hauptsache gesichert werden soll (Anordnungsgrund), glaubhaft zu machen. Drohen ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen der Rechte des Antragstellers, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr beseitigt werden können, und will sich das Gericht in solchen Fällen an den Erfolgsaussichten der Hauptsache orientieren, muss die Sach- und Rechtslage abschließend geprüft werden (Sächsisches LSG, Beschluss vom 12.02.2014 – L 8 SO 132/13 B ER – juris RdNr. 16).

Diesen Maßgaben zufolge war eine einstweilige Anordnung zu erlassen.

1. Die Antragstellerin hat einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Ihr stehen entgegen der vom Antragsgegner im Ablehnungsbescheid vom 25.11.2014 geäußerten Auffassung auch weiterhin Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II zu.

Die Antragstellerin erfüllt unstreitig die Leistungsvoraussetzungen nach § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 2 und 4 SGB II. Sie ist insbesondere erwerbsfähig und hat die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht. Da sie (noch) keine Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung bezieht, besteht kein Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II.

Die Antragstellerin ist auch im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II hilfebedürftig.

Hilfebedürftig ist gemäß § 9 Abs. 1 SGB II, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. Dies konkretisiert § 19 Abs. 1 Satz 1 und 3 und Abs. 3 Satz 1 SGB II dahingehend, dass Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts u.a. in Höhe des Regelbedarfs und der Bedarfe für Unterkunft und Heizung erbracht werden, soweit diese nicht durch zu berücksichtigendes Einkommen und Vermögen gedeckt sind.

Vorliegend bestehen ein Regelbedarf gemäß § 20 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB II in Höhe von 391,00 EUR bis 31.12.2014 und von 399,00 EUR ab 01.01.2015 sowie ein Bedarf für Unterkunft und Heizung gemäß § 22 SGB II in Höhe von 321,46 EUR. Der monatliche Bedarf der Antragstellerin hat also bis 31.12.2014 insgesamt 712,46 EUR betragen und beträgt seit dem 01.01.2015 insgesamt 720,46 EUR.

Zur Deckung dieses Bedarfs steht der Antragstellerin unstreitig kein Vermögen im Sinne des § 12 SGB II zur Verfügung. Als einzusetzendes Einkommen im Sinne des § 11 SGB II ist das Arbeitsentgelt der Antragstellerin aus der im bisherigen Umfang fortgesetzten geringfügigen Beschäftigung – d.h. brutto zwischen 120,00 und 150,00 EUR bzw. nach Abzug der Absetzbeträge gemäß § 11b Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 SGB II zwischen 16,00 und 40,00 EUR – zu berücksichtigen.

Darüber hinaus mindert der Umstand, dass die Antragstellerin eine vorzeitige Altersrente erhalten könnte, ihre Hilfebedürftigkeit nicht. Aufgrund der Möglichkeit, eine solche Rente von der DRV zu erhalten, erzielt sie noch kein Einkommen im Sinne des § 11 SGB II.

Unabhängig davon, dass der Bezug einer gesetzlichen Altersrente durch den Hilfebedürftigen einen Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 4 Satz 1 SGB II bewirkt, ist die Altersrente eine Leistung in Geld und damit grundsätzlich Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II (was z.B. Bedeutung haben kann, wenn es um die Rente eines Ehegatten geht, vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 23.11.2006 – B 11b AS 1/06 R – juris RdNr. 13).

Einnahmen in Geld sind allerdings nur dann Einkommen im Sinne des § 11 Abs. 1 Satz 1 SGB II, wenn sie zugeflossen und geeignet sind, den konkreten Bedarf im jeweiligen Monat zu decken (BSG Urteil vom 18.02.2010 – B 14 AS 32/08 R – juris RdNr. 20; Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand 1/15, § 11 RdNr. 243 m.w.N.; Schmidt in: Eicher, SGB II, 3. Aufl., § 11 RdNr. 23). Gerade die Formulierung in § 9 Abs. 1 SGB II, dass die Leistungen anderer Sozialleistungsträger nur zu berücksichtigen sind, wenn der Hilfebedürftige sie "erhält", verdeutlicht, dass es auf deren tatsächlichen Zufluss ankommt (vgl. BSG, Urteil vom 18.02.2010 – B 14 AS 32/08 R – juris RdNr. 20). Dementsprechend ist die Anrechnung fiktiven Einkommens zur Bedarfsminderung ausgeschlossen (BSG, Urteil vom 29.11.2012 – B 14 AS 161/11 R – juris RdNr. 18; Urteil vom 29.11.2012 – B 14 AS 33/12 R – juris RdNr. 14; Urteil vom 17.10.2013 – B 14 AS 38/12 R – juris RdNr. 13; Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand 1/15, § 11 RdNr. 250 ff.) – und zwar selbst dann, wenn der Hilfebedürftige eine naheliegende Selbsthilfe unterlässt (vgl. Thie in: Münder, SGB II, 5. Aufl., § 9 RdNr. 12) oder Ansprüche aufgrund des Verhaltens des Hilfebedürftigen nicht in Form von Einnahmen realisiert werden (vgl. Schmidt in: Eicher, SGB II, 3. Aufl., § 11 RdNr. 26). Demnach sind – ausgehend davon, dass das BSG nach nunmehr gefestigter Rechtsprechung beim Einkommen auf den tatsächlichen Zufluss abstellt – entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht Sozialleistungen fiktiv als Einkommen zu berücksichtigen, die der Hilfebedürftige in zumutbarer Weise und zeitnah durchsetzen könnte (in diese Richtung wohl noch Bieback in: Gagel, SGB II/SGB III, Lfg. Juni 2011 § 5 SGB II RdNr. 15). Mithin ist auch nicht darauf abzustellen, ob ein Zufluss bei zumutbaren Anstrengungen des Hilfebedürftigen kurzfristig, d.h. "bis zum Ende des folgenden Monats" erfolgen könnte (so aber Nr. 9.7a der Fachlichen Hinweise SGB II der Bundesagentur für Arbeit [FH-BA]). Diese Grundsätze gelten jedenfalls dann, wenn es – wie hier – um die aktuelle Bewilligung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts geht und nicht um Aufhebungs- und Erstattungsentscheidungen (vgl. BSG, Urteil vom 29.11.2012 – B 14 AS 33/12 R – juris RdNr. 15 ff.; Hegelhaupt, in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand 1/15, § 11 RdNr. 258).

Vorliegend ist eine vorzeitige Altersrente zwar im Wege des § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II beantragt, der Antragstellerin nicht aber bewilligt worden, ihr folglich nicht tatsächlich zugeflossen und damit auch kein Einkommen. Dies gilt nach vorstehenden Ausführungen ungeachtet dessen, dass die Antragstellerin gemäß § 12a Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 SGB II verpflichtet war, ab Vollendung des 63. Lebensjahrs eine vorzeitige Altersrente zu beantragen (so das Urteil des Senats vom 29.04.2014 – L 8 AS 780/14), diese Rente nach zumutbarer Mitwirkung zeitnah bewilligt werden könnte und dies zur Beseitigung der Hilfebedürftigkeit führen würde (anders Nr. 5.11 FH-BA unter Verweis auf Nr. 9.7a FH-BA; kritisch zu diesem Hinweis auch Armborst in: Münder, SGB II, 5. Aufl., § 5 RdNr. 47).

Die Hilfebedürftigkeit kann auch nicht unabhängig vom Einkommen im Sinne des § 11 SGB II unter Rückgriff auf § 9 Abs. 1 oder §§ 2, 3 SGB II verneint werden.

Soweit der Antragsgegner auf § 9 Abs. 1 SGB II verweist, verdeutlicht – wie bereits aufgezeigt – gerade der Wortlaut dieser Bestimmung, dass es auf den tatsächlichen Zufluss ankommt ("erhält"). Abgesehen davon regelt diese Vorschrift keine weitere Möglichkeit der faktischen Bedarfsdeckung neben der Bedarfsdeckung durch Einkommen und Vermögen (BSG, Urteil vom 18.02.2010 – B 14 AS 32/08 R – juris RdNr. 20).

Im Übrigen trifft zwar zu, dass nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB II Leistungsberechtigte alle Möglichkeiten zur Beendigung oder Verringerung ihrer Hilfebedürftigkeit ausschöpfen müssen und nach § 3 Abs. 3 SGB II Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nur erbracht werden dürfen, soweit die Hilfebedürftigkeit nicht anderweitig beseitigt werden kann. Hierbei handelt es sich jedoch um Grundsatznormen, die durch die Regelungen insbesondere über den Einsatz von Einkommen und Vermögen bzw. sonstige leistungshindernde Normen konkretisiert werden und nur im Zusammenhang mit ihnen Wirkung entfalten (BSG, Urteil vom 27.09.2011 – B 4 AS 202/10 R – juris RdNr. 21 f.). Sie können daher nicht als allgemeine Rechtsgrundlage für Leistungsausschlüsse oder zur Minderung von Grundsicherungsleistungen im Falle fehlender spezieller Regelungen herangezogen werden, wenn Sozialleistungen vorwerfbar nicht in Anspruch genommen werden.

Daraus folgt jedoch nicht, dass der Hilfebedürftige nach einem vom Grundsicherungsträger gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II gestellten Rentenantrag die Bewilligung der Rente durch Verletzung von Mitwirkungspflichten im Rentenverfahren beliebig herauszögern könnte. Der Grundsicherungsträger muss vielmehr die Möglichkeit haben, wenigstens in entsprechender Anwendung des § 66 SGB I die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu versagen oder zu kürzen (so auch Luthe in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand 10/14, § 5 RdNr. 165 f.; Armborst in: Münder, SGB II, 5. Aufl., § 5 RdNr. 47; im Ergebnis ebenso Knickrehm/Hahn in: Eicher, SGB II, 3. Aufl. § 5 RdNr. 37).

Grundsätzlich hat derjenige, der eine Sozialleistung beantragt, gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB I alle Tatsachen anzugeben, die für die Leistung erheblich sind, und auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers der Erteilung der erforderlichen Auskünfte durch Dritte zuzustimmen; dabei soll er gemäß § 60 Abs. 2 SGB I auch Vordrucke benutzen. Kommt er dieser Mitwirkungspflicht nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, kann der Leistungsträger gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind. Jedoch darf dies gemäß § 66 Abs. 3 SGB I nur geschehen, wenn der Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist.

Der Wortlaut der maßgeblichen Bestimmungen passt nicht, wenn nicht der Hilfebedürftige, sondern gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II der Grundsicherungsträger eine vorrangige Leistung beantragt. Denn nach dem Wortlaut dieser Bestimmungen trifft die Mitwirkungspflicht nur den Antragsteller (§ 60 Abs. 1 SGB I: "Wer Sozialleistungen beantragt , hat ..."), der aber in diesen Fällen nicht der Hilfebedürftige ist. Ferner sieht der Wortlaut des § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I bei mangelnder Mitwirkung nur eine Sanktionierung durch den für die beantragte Leistung zuständigen Leistungsträger vor, in Fällen wie dem vorliegenden also durch den Rentenversicherungsträger. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass die Pflicht des Hilfebedürftigen aus § 12a Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 SGB II zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente auch dann, wenn der Grundsicherungsträger gemäß § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II den Rentenantrag stellt, zugleich die Pflicht umfassen muss, den Mitwirkungspflichten aus § 60 Abs. 1 SGB I so nachzukommen, als hätte er selbst den Rentenantrag gestellt (vgl. Bieback in: Gagel, SGB II/SGB III, Lfg. Juni 2011, § 5 SGB II RdNr. 97). Denn anderenfalls könnte der Hilfebedürftige das Antragsrecht des Grundsicherungsträgers und dessen Recht, die Leistung notfalls gerichtlich durchzusetzen, mutwillig ins Leere laufen lassen, was mit dem Regelungszweck der § 12a Satz 1, § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II, den Grundsicherungsträgern zur Durchsetzung von Sozialleistungsansprüchen des Hilfebedürftigen ein effektives Instrumentarium an die Hand zu geben (zu anderen Ansprüchen vgl. § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB II), nicht vereinbar wäre. Unter Berücksichtigung dieses Regelungszwecks muss auch § 66 SGB I ausgelegt bzw. entsprechend angewendet werden. Denn wäre nur eine strikt wörtliche Auslegung dieser Bestimmung möglich, könnte lediglich der Rentenversicherungsträger die vorzeitige Altersrente versagen, womit der Hilfebedürftige sein "Ziel" erreicht hätte, nicht schon diese niedrigere Altersrente in Anspruch nehmen zu müssen. Folglich muss § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I in der besonderen Konstellation eines Antrags nach § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II zumindest analog dahingehend ausgelegt werden, dass der Hilfebedürftige auch gegenüber dem Grundsicherungsträger seine Mitwirkungspflichten im Hinblick auf das mit ihm bestehende Leistungsverhältnis verletzt, wenn er seinen Mitwirkungspflichten im Rentenverfahren nicht nachkommt, insbesondere entgegen § 60 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB I notwendige Angaben verweigert. Zur Begründung dieser ergänzenden Auslegung der §§ 60, 66 SGB I kann auch auf die vom Antragsgegner hervorgestellten allgemeinen Pflichten aus § 2 Abs. 1 Satz 1, § 3 Abs. 3 SGB II verwiesen werden (vgl. Knickrehm/Hahn in: Eicher, SGB II, 3. Aufl., § 5 RdNr. 37).

Eine Versagung von Leistungen in entsprechender Anwendung des § 66 Abs. 1 SGB I kann jedoch nur dann erfolgen, wenn auch die Vorgaben des § 66 Abs. 3 SGB I beachtet wurden (Knickrehm/Hahn in: Eicher, SGB II, 3. Aufl. § 5 RdNr. 37; Bieback in: Gagel, SGB II/SGB III, Lfg. Juni 2011, § 5 SGB II RdNr. 99). Der Hilfebedürftige muss folglich konkret und verständlich auf seine Mitwirkungspflichten hingewiesen werden – d.h. darauf, was in welchem Zusammenhang von ihm verlangt wird – und ihm muss hierfür eine angemessene Frist gesetzt werden (vgl. Bieback, a.a.O.). Unabhängig davon, dass der Antragsgegner – wie er mehrfach betont hat – schon keinen Versagungsbescheid erlassen wollte (weisungsgemäß, vgl. Nr. 5.11 FH-BA), fehlt es hier an diesen Voraussetzungen.

Mit Schreiben vom 28.10.2014 forderte der Antragsgegner die Antragstellerin zwar auf, bis zum 14.11.2014 einen "Nachweis über die formelle Rentenantragstellung" erbringen. Hierzu ist allerdings zu bemerken, dass die Antragstellung aufgrund der Sonderregelung des § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II gerade nicht zu den Mitwirkungspflichten der Antragstellerin gehörte (vgl. Knickrehm/Hahn in: Eicher, SGB II, 3. Aufl. § 5 RdNr. 37; Luthe in: Hauck/Noftz, SGB II, Stand 10/14, § 5 RdNr. 165; unzutreffend daher Meyerhoff in: jurisPK-SGB II, 4. Aufl., § 5 RdNr. 92). Ebenso wenig kann ein "formeller" Rentenantrag auf den dafür vorgesehenen Vordrucken des Rentenversicherungsträgers verlangt werden, wenn der Grundsicherungsträger – wie hier – bereits einen "informellen" Rentenantrag gestellt hat, da dieser ebenso rechtserheblich ist wie jener, insbesondere ebenso den für den Rentenbeginn gemäß § 99 Abs. 1 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch relevanten Zeitpunkt definiert.

Richtigerweise hätte der Antragsgegner im Rahmen des "ständigen Kontakts" mit dem Rentenversicherungsträger (wie ihn Nr. 5.11 FH-BA fordert) ermitteln müssen, welchen konkreten Pflichten die Antragstellerin nicht nachgekommen ist und welche notwendigen Angaben zur Rentenbewilligung ggf. noch fehlen. Dabei verkennt der Senat nicht, dass die Rentenversicherungsträger üblicherweise mit Vordrucken arbeiten und diese grundsätzlich auch verwendet werden sollen (§ 60 Abs. 2 SGB I). Im Hinblick darauf wäre es aber etwa möglich gewesen, die Antragstellerin aufzufordern, binnen einer angemessenen Frist nach dem Rentenantrag des Antragsgegners (hier vom 04.12.2013 auf Altersrente für Frauen/Vollrente ab 01.02.2014) sich die relevanten Vordrucke – erforderlichenfalls unter Mithilfe des Rentenversicherungsträgers – zu beschaffen, diese mit Ausnahme der Felder zum eigentlichen Rentenantrag (vor allem Nr. 1 und 3 des Vordrucks "R100") vollständig auszufüllen und beim Rentenversicherungsträger abzugeben.

Solange die Antragstellerin nicht eine solche konkrete Aufforderung des Antragsgegners zur Mitwirkung im Rentenversicherungsverfahren erhalten hat und die hierzu gesetzte angemessene Frist nicht ergebnislos abgelaufen ist, hat ihr der Antragsgegner vorerst Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts weiterzuzahlen.

Ausgehend von dem oben dargestellten Bedarf der Antragstellerin und ihrem Einkommen aus geringfügiger Beschäftigung sind die nach Auffassung des SG vorläufig zu leistenden Beträge jedenfalls nicht zu hoch; dies hat der Antragsgegner auch nicht behauptet.

2. Der Anordnungsgrund ergibt sich ohne Weiteres aus der Höhe der vorenthaltenen Leistungen. Der Antragstellerin stünde ohne Grundsicherungsleistungen zur Deckung ihres Bedarfs von über 700,00 EUR monatlich lediglich Arbeitsentgelt aus ihrer geringfügigen Beschäftigung in Höhe von weniger als 150,00 EUR monatlich zur Verfügung. Einer Begrenzung der vorläufigen Leistungspflicht bis zur Auszahlung einer Altersrente bedarf es nicht, da mit einer Rentenbewilligung bis zum Ablauf des Monats nicht mehr zu rechnen ist.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 Abs. 1 SGG.

IV.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde angefochten werden (§ 177 SGG).

Dr. Wahl Kirchberg Stinshoff
Rechtskraft
Aus
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