L 25 AS 2137/16 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
25
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 61 AS 9990/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 25 AS 2137/16 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 27. Juli 2016 insoweit aufgehoben, als das Sozialgericht mit ihm den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung für den Zeitraum vom 12. September bis zum 30. November 2016 abgelehnt hat. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller für den Zeitraum vom 12. September 2016 bis zum 30. November 2016, längstens jedoch bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, vorläufig Arbeitslosengeld II in Höhe von monatlich weiteren 385,- Euro (80,- Euro Regelbedarf; 305,- Euro Kosten für Unterkunft und Heizung; für September 2016 anteilig) zu gewähren. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller dessen außergerichtliche Kosten für das gesamte einstweilige Rechtsschutzverfahren zu erstatten. Der Antrag des Antragstellers, ihm Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren unter Beiordnung seines Verfahrensbevollmächtigten zu gewähren, wird abgelehnt.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde des Antragstellers, mit der er bei sinngemäßer Auslegung seines Schriftsatzes vom 8. September 2016 unter Berücksichtigung des gerichtlichen Schreibens vom 5. September 2016 nur noch Leistungen für die Zeit ab Beschluss des Senats bis zum 30. November 2016 begehrt, ist auch begründet. Der Beschluss des Sozialgerichts ist insoweit unzutreffend. Dem Antragsteller stehen im Wege der einstweiligen Anordnung Leistungen in tenorierter Höhe und für den tenorierten Zeitraum zu.

Nach § 86b Abs. 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis ergehen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Hierzu hat der betreffende Antragsteller das Bestehen des zu sichernden materiellen Anspruchs (Anordnungsanspruch) sowie die besondere Dringlichkeit des Erlasses der begehrten einstweiligen Anordnung (Anordnungsgrund) glaubhaft zu machen (vgl. § 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. §§ 920 Abs. 2, 294 der Zivilprozessordnung (ZPO)). Der Antragsteller hat sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Antragsgegner zu Recht mit seinem Bewilligungsbescheid vom 24. Juni 2016 die Gewährung von Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung gemäß § 22 Abs. 5 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch (SGB II) abgelehnt und daran anknüpfend gemäß § 20 Abs. 3 SGB II den Regelbedarf auf 80 Prozent des Alleinstehendenregelbedarfs "gekürzt" hat. Nach § 22 Abs. 5 Satz 1 SGB II werden, sofern Personen, die das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, umziehen, Bedarfe für Unterkunft und Heizung für die Zeit nach einem Umzug bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres nur anerkannt, wenn der kommunale Träger dies vor Abschluss des Vertrages über die Unterkunft zugesichert hat. § 22 Abs. 5 SGB II steht bei der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Betrachtungsweise hier indes dem geltend gemachten Anspruch nicht entgegen.

Das Bundessozialgericht (BSG) hat zur wortgleichen Vorgängerregelung des § 22 Abs. 2a SGB II ausgeführt, dass ein Konflikt zwischen den Mitgliedern einer Bedarfsgemeinschaft, der in der (ernstlichen) Weigerung einer materiellen und/oder immateriellen Unterstützung der Eltern für ihre erwachsenen Kinder münde, (volljährige) Kinder und Eltern zur grundsicherungsrechtlich folgenlosen Auflösung des gemeinsamen Haushalts berechtige. Nur eine entsprechend enge Auslegung des § 22 Abs. 2a SGB II wahre die von Verfassungs wegen zu schützenden Belange der Mitglieder einer Bedarfsgemeinschaft (Urteil vom 14. März 2012 – B 14 AS 17/11 R – juris). Unter dieser Maßgabe hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

Hier hat der Antragsteller durch eidesstattliche Versicherung glaubhaft gemacht, von seinen Eltern "rausgeworfen" worden zu sein; eine Rückkehr in den elterlichen Haushalt sei ihm nicht möglich, weil seine Eltern ihn nicht zurücklassen würden. Sein Bruder hat diesen Vortrag bestätigt und eidesstattlich versichert, dass sich insbesondere die Mutter des Antragstellers vehement weigere, den Antragsteller wieder aufzunehmen. Mithin dokumentiert hier der "Rauswurf" des Antragstellers aus der elterlichen Wohnung die ernstliche Weigerung einer materiellen und/oder immateriellen Unterstützung der Eltern für den Antragsteller und waren Antragsteller und Eltern im Sinne der Rechtsprechung des BSG zur grundsicherungsrechtlich folgenlosen Auflösung des gemeinsamen Haushalts berechtigt. Dabei kann die konkrete dogmatische Begründung für dieses Ergebnis hier dahinstehen. Denn entweder ist § 22 Abs. 5 SGB II hier schon deshalb unanwendbar, weil dieser nur dann greift, wenn durch den Auszug eine Bedarfsgemeinschaft mit den Eltern aufgelöst wird (vgl. Krauß in: Hauck/Noftz, § 22 SGB II, Rn. 266; ähnlich Lauterbach in Gagel, SGB II/SGB III, § 22 SGB II, Rn. 111), was hier nicht der Fall ist, weil letztlich schon kein "Auszug" des Antragstellers im Wortsinne in Rede steht und weil mit dem "Rauswurf" aus der elterlichen Wohnung bereits keine Bedarfsgemeinschaft mehr bestanden hat. Oder man nimmt an, hier liege ein Fall des § 22 Abs. 5 Satz 2 Nr. 1, Satz 3 SGB II vor, wonach in dem Fall, in dem der Betroffene aus schwerwiegenden sozialen Gründen nicht auf die Wohnung der Eltern oder eines Elternteils verwiesen werden kann, vom Erfordernis der Zusicherung vor Abschluss des Vertrages über die Unterkunft im Sinne des § 22 Abs. 5 Satz 1 SGB II abgesehen werden kann, wenn es der oder dem Betroffenen aus wichtigem Grund nicht zumutbar war, die Zusicherung einzuholen. Denn zwar mag es dem Antragsteller möglich gewesen sein, eine Zusicherung nach § 22 Abs. 5 Satz 1 SGB II nach "Auszug" aus der elterlichen Wohnung und vor Abschluss des Mietvertrages über die zum 16. April 2016 angemietete Wohnung einzuholen. Sinn und Zweck des Zusicherungserfordernisses gebieten hier indes eine andere Betrachtungsweise. Denn Regelungsgegenstand der Zusicherung nach § 22 Abs. 5 Satz 1 SGB II ist nicht, in welchem Umfang für die neue Wohnung Kosten übernommen werden. Inhalt der Zusicherung ist vielmehr, dass überhaupt Leistungen für Unterkunft und Heizung gewährt werden (vgl. nur Lauterbach, a. a. O., Rn. 112). Dieser Umstand gebietet es im Regelfall, entsprechend § 22 Abs. 5 Satz 3 SGB II vom Zusicherungserfordernis in den Fällen abzusehen, in denen wie hier eine Zusicherung vor dem Auszug aus der elterlichen Wohnung nicht mehr eingeholt werden konnte.

Ob § 22 Abs. 5 SGB II demnach nur bei einem erstmaligen Auszug anwendbar ist und ein solcher im vorliegenden Fall, in dem der Antragsteller zwischen dem Verlassen der elterlichen Wohnung und dem Einzug in die eigene Wohnung übergangsweise bei seinem Cousin untergekommen war, überhaupt noch in Rede stand, ist demnach ebenso wenig streitentscheidend wie der Umstand, dass das bisher möglicherweise zuständige Jobcenter die Zusicherung mit Bescheid vom 30. Mai 2016 nach Lage der Akten bestandskräftig abgelehnt hat.

Dem Antragsteller stehen demnach der Alleinstehendenregelbedarf in voller Höhe von 404,- Euro monatlich sowie Leistungen für Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von monatlich 305,- Euro – Zweifel an der Angemessenheit bestehen insoweit nicht – zu. In diesem Umfang hat der Antragsteller auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in analoger Anwendung und berücksichtigt den Ausgang des Verfahrens. Hierbei sind dem Antragsgegner die außergerichtlichen Verfahrenskosten des Antragstellers unter Veranlassungsgesichtspunkten auch insoweit auferlegt worden, als der Antragsteller von seinem ursprünglich auch für die Zeit ab Antragstellung (bei Gericht) bis zum Tag vor dem Beschluss des Senats geltend gemachten Begehren letztlich allein wegen Zeitablaufs Abstand genommen hat.

Der Antrag des Antragstellers, ihm für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe zu bewilligen, war abzulehnen, weil er angesichts der Kosten-entscheidung des Senats der Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht mehr bedarf (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit §§ 114 ff. ZPO).

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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