Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 99 AS 566/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 5 AS 449/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Tätigkeiten, die in der Bundesrepublik Deutschland zwar ausgeübt werden, aber nicht deren Rechts- und Verwaltungsvorschriften unterliegen, für die insbesondere in der Bundesrepublik Deutschland keine Sozialabgaben abgeführt werden, scheiden für eine Antwort auf die Frage, ob gem. § 2 Abs 3 S 1 Nr 2 FreizügG/EU eine Tätigkeit von mehr als einem Jahr ausgeübt wurde, aus.
Das dem Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende gem. § 41 a Abs 7 S 1 Nr 1 SGB 2 eingeräumte Ermessen ist nicht aufgrund des existenzsichernden Charakters der Leistungen zur Sicherheit des Lebensunterhaltes nach dem SGB 2 auf Null reduziert.
Das dem Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende gem. § 41 a Abs 7 S 1 Nr 1 SGB 2 eingeräumte Ermessen ist nicht aufgrund des existenzsichernden Charakters der Leistungen zur Sicherheit des Lebensunterhaltes nach dem SGB 2 auf Null reduziert.
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 20. Februar 2017 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin M G, B, beigeordnet. Beträge aus dem Vermögen oder Raten sind nicht zu zahlen.
Gründe:
I.
Die 1991 geborene, erwerbsfähige Antragstellerin ist polnische Staatsangehörige. Bis (mindestens) zum 9. April 2015 hatte sie ihren Wohnsitz in Polen. Vom 9. April 2015 bis zum 1. Oktober 2015 war sie unter der Adresse einer in B-L gelegenen Wohnung ("bei R") und vom 1. Oktober 2015 bis zum 1. Dezember 2016 unter der Adresse einer in B-R gelegenen Wohnung ("bei O") gemeldet (vgl. Bl. 191 – 192 der Akten des Gerichts ‹GA›). Seit dem 1. Dezember 2016 ist sie Mieterin einer in B-P gelegenen Wohnung. Für den Gebrauch dieser Wohnung schuldet sie eine Brutto-Warmmiete in Höhe von 429,12 EUR monatlich sowie eine Sicherheitsleistung in Höhe von 909,00 EUR (vgl. Bl. 59 – 73 GA).
Vom 4. August 2014 bis zum 23. März 2015 war sie (eigenen Angaben zufolge als "Grenzgängerin") im Wege der Arbeitnehmerüberlassung für die in B ansässige W S GmbH & Co. Gießerei KG in Vollzeit tätig. Ihr Arbeitgeber (Verleiher) – der für sie in Polen Sozialversicherungsbeiträge abführte (vgl. Bl. 25 – 26, 127 – 129, 139 GA) – war eine polnische "Arbeitsagentur für Arbeitnehmerüberlassung" ( Sp. z.o.o., Gliwice, Polen) (vgl. Bl. 91, 93, 179 GA).
Mit Vertrag vom 31. März 2015 wurde zwischen ihr und der W S GmbH & Co. Gießerei KG für die Zeit vom 23. März 2015 bis zum 24. September 2015 ein Vollzeitarbeitsverhältnis begründet (vgl. Bl. 27 – 32 GA). Am 14. April 2015 stellte die W S GmbH & Co. Gießerei KG einen Insolvenzantrag, aufgrund dessen am 10. Juni 2015 das Insolvenzverfahren eröffnet wurde (vgl. Bl. 133 – 134 GA). Mit Vertrag vom 1. September 2015 verlängerten der Insolvenzverwalter und die Antragstellerin das zwischen ihr und der W S GmbH & Co. Gießerei KG begründete Arbeitsverhältnis bis zum 31. Dezember 2015 (vgl. Bl. 33 GA).
Vom 1. Januar 2016 bis zum 31. Dezember 2016 bezog die Antragstellerin Arbeitslosengeld (vgl. Bl. 34 – 37 GA). Mit Bescheiden vom 5. September 2016 und 26. November 2016 bewilligte ihr das Jobcenter Berlin Reinickendorf für die Zeit vom 1. Oktober 2016 bis zum 31. Dezember 2016 ergänzend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) (vgl. Bl. 39 – 46 GA). Aufgrund des Umzugs der Antragstellerin nach B-P hob es die Bescheide vom 5. September 2016 und 26. November 2016 mit Bescheid vom 13. Dezember 2016 zum 1. Januar 2017 auf (vgl. Bl. 50 – 51 GA).
Mit Bescheid vom 3. Januar 2017 lehnte der Antragsgegner den Leistungsantrag der Antragstellerin vom 8. Dezember 2016 ab (vgl. Bl. 52 GA). Mit Schreiben vom 13. Januar 2017 erhob die Antragstellerin Widerspruch (vgl. Bl. 56 – 58 GA).
Am 16. Januar 2017 hat die Antragstellerin den Antrag gestellt, den Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Leistungen "nach dem SGB II in Form von Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und Kosten der Unterkunft und Heizung ab sofort zu gewähren" (vgl. Bl. 1 – 5 GA).
Das Sozialgericht Berlin hat das Land Berlin (vertreten durch das Bezirksamt Pankow, dieses vertreten durch das Amt für Soziales) beigeladen (Beschluss vom 7. Februar 2017 ‹vgl. Bl. 98 – 99 GA›) und mit Beschluss vom 20. Februar 2017 den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Die Antragstellerin habe einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Sie sei gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen des SGB II ausgeschlossen. Auf den Verlängerungstatbestand des § 2 Abs. 3 Satz 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) könne sie sich nicht berufen, da ihre Arbeitnehmereigenschaft vor mehr als sechs Monaten geendet habe. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU seien nicht erfüllt. Die bei der W S GmbH & Co. Gießerei KG ausgeübte Beschäftigung habe weniger als ein Jahr gewährt. Die für die "D" ausgeübte Beschäftigung könne nicht ergänzend herangezogen werden, da diese ihren Sitz in Polen habe und die Antragstellerin erst seit dem 9. April 2015 in Deutschland wohnhaft sei. Von den Leistungen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1, 3 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) sei die Antragstellerin nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII ausgeschlossen. Überbrückungsleistungen im Sinne des § 23 Abs. 3 Satz 3, 5, 6 SGB XII seien vom Antrag der Antragstellerin nicht umfasst (vgl. Bl. 150 – 152 R GA).
Am 1. März 2017 hat die Antragstellerin Beschwerde eingelegt und beantragt, den Antragsgegner unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Berlin vom 20. Februar 2017 zu verpflichten, ihr Leistungen "nach dem SGB II in Form von Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und Kosten der Unterkunft und Heizung ab sofort zu gewähren". Zugleich hat sie beantragt, ihr für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin M G zu bewilligen. Sie sei nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen des SGB II ausgeschlossen, da sie sich auf die Regelung des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU berufen könne. In jedem Fall seien ihr aufgrund des Vorlagebeschlusses des Sozialgerichts Mainz vom 18. April 2016 (S 3 AS 149/16) gemäß § 41a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II Leistungen nach dem SGB II zu gewähren. Das dem Antragsgegner eingeräumte Ermessen sei "aufgrund des existenzsichernden Charakters des Arbeitslosengeldes II und des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf Null reduziert" (vgl. Bl. 164 – 169 GA).
II.
1. Die Beschwerde ist zulässig, jedoch nicht begründet. Ein Anordnungsanspruch ist nicht glaubhaft gemacht (§ 86b Abs. 2 Satz 2, 4 Sozialgerichtsgesetz ‹SGG› in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung ‹ZPO›).
a. Die Antragstellerin ist gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a) SGB II und gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII (beide in der seit dem 29. Dezember 2016 gültigen Fassung des "Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch" vom 22. Dezember 2016 ‹Bundesgesetzblatt 2016 Teil I S. 3155›) von den Leistungen des SGB II und SGB XII ausgeschlossen. Die Antragstellerin hat kein Aufenthaltsrecht. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU erfüllt sie nicht (auch nicht die des § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU, da sie nicht nachgewiesen hat, weiterhin Arbeit zu suchen und begründete Aussicht zu haben, eingestellt zu werden). Auf § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU kann sie sich nicht berufen. Die Beschäftigung, die sie zuletzt (für die W S GmbH & Co. Gießerei KG) ausgeübt hat, hat vor mehr als sechs Monaten geendet. Auch auf § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU kann sie sich nicht berufen. Ob die Worte "nach mehr als einem Jahr Tätigkeit", die § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU enthält, voraussetzen, dass die zuletzt ausgeübte Tätigkeit ein Jahr lang ununterbrochen gewährt hat, oder ob sie es genügen lassen, dass mehrere verschiedene (selbständige oder unselbständige), aneinander anschließende (vgl. Ziffer 2.3.1.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum FreizügG/EU des Bundesministerium des Innern vom 3. Februar 2016; Bayrisches Landessozialgericht ‹LSG›, Beschluss vom 20. Juni 2016, L 16 AS 284/16 B ER; a. A.: Hailbronner, Ausländerrecht, D 1, § 2 FreizügG/EU Rn. 85) oder gar durch Zeiten der Arbeitslosigkeit unterbrochene (so: Sozialgericht ‹SG› Düsseldorf, Urteil vom 31. März 2016, S 18 AS 4381/ 15; a. A.: Oberverwaltungsgericht ‹OVG› Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. Mai 2015, 12 B 312/15; Epe, in: GK-Aufenthaltsgesetz, § 2 FreizügG/EU Rn. 122; Hailbronner, Ausländerrecht, D 1, § 2 FreizügG/EU Rn. 85), kann dahinstehen. Denn selbst wenn die Worte "nach mehr als einem Jahr Tätigkeit", die § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU enthält, mehrere verschiedene, aneinander anschließende Beschäftigungen, die zusammengerechnet mehr als ein Jahr gedauert haben, genügen lassen sollten, könnte sich die Antragstellerin auf § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU nicht berufen. Tätigkeiten nämlich, die nicht den "Rechts- und Verwaltungsvorschriften" der Bundesrepublik Deutschland unterlagen/unterliegen, scheiden für eine Antwort auf die Frage, ob gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU eine Tätigkeit von mehr als einem Jahr ausgeübt wurde, aus. Dies ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU, wohl aber aus dessen Sinn und Zweck/Entstehungsgeschichte.
§ 2 Abs. 3 FreizügG/EU erhielt seine bis heute gültige Fassung durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (Bundesgesetzblatt 2007 Teil I S. 1970). Im Gesetzentwurf der Bundesregierung heißt es (Bundestags-Drucksache 16/5065 S. 208), die Neufassung des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU setze Art. 7 Abs. 3 der "Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/ EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG" (RL 2004/38/EG) um.
Nach Art. 7 Abs. 3 Buchstabe b RL 2004/38/EG bleibt dem Unionsbürger, "der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger nicht mehr ausübt", und der "sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung" stellt "für die Zwecke des [Art 7] Abs. 1 Buchstabe a" die "Erwerbstätigeneigenschaft" erhalten. Gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchstabe a RL 2004/38/EG hat "jeder Unionsbürger das "Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist". Ergänzend hierzu bestimmen die "Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft" und die "Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union", dass "jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaates [ ] ungeachtet seines Wohnortes berechtigt ist, eine Tätigkeit im Lohn- und Gehaltsverhältnis im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften aufzunehmen und auszuüben".
Anders als in der "Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Koordinierung der System der Sozialen Sicherheit" (vgl. dort Art. 6) findet sich in der RL 2004/38/EG zudem keine Regelung, die anordnet, dass Beschäftigungszeiten, die nach den "Rechts- und Verwaltungsvorschriften" eines anderen Mitgliedstaates (als des Aufnahmemitgliedstaates im Sinne des Art. 2 Nr. 3 RL 2004/38/EG) zurückgelegt wurden, anzurechnen sind. Hinzu kommt, dass sich Unionsbürger, die im Wege der Arbeitnehmerüberlassung in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werden, zwar auf die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 ff. des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ‹AEUV›) des sie entsendenden Unternehmens berufen können ("Annexrecht mit Schutzwirkung für die Beschäftigten" ‹vgl. Frenz, Handbuch Europarecht, Band 1, Europäische Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2012, Rn. 3440, 3442›), nicht aber auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 ff. AEUV). Denn da diese Unionsbürger weiterhin beim Verleihunternehmen beschäftigt sind und von diesem in einen anderen Mitgliedstaat geschickt werden, ohne auf dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaates aufzutreten, fehlt es am "grenzüberschreitenden Element". Dieses besteht bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit grundsätzlich darin, dass sich ein Arbeitnehmer in die Volkswirtschaft eines anderen Mitgliedstaates integriert, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, mithin dort eine Beschäftigung aufnimmt (vgl. Frenz, Handbuch Europarecht, Band 1, Europäische Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2012, Rn. 1345, 1451; Oberhäuser, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 2 FreizügG/EU Rn. 18; der Gerichtshof der Europäischen Union ‹EuGH› hat in seinen Urteil vom 17. Dezember 1981 ‹Aktenzeichen 279/80, Entscheidungsname: Webb› und 10. Februar 2011 ‹Aktenzeichen C-307/09 bis C-309/09, C-307/09; Entscheidungsname: Vicoplus› offen gelassen, ob sich Unionsbürger, die im Wege der Arbeitnehmerüberlassung in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werden, auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen können).
Den Erwägungsgründen 10 und 16 RL 2004/38/EG ("Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaates nicht unangemessen in Anspruch nehmen"), dem Erwägungsgrund 18 RL 2004/38/EG ("Integration in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaates"), dem Erwägungsgrund 24 RL 2004/38/EG ("wie die Unionsbürger [ ] in den Aufnahmemitgliedstaat stärker integriert sind"), Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38/EG ("Die Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch einen Unionsbürger [ ] im Aufnahmemitgliedstaat darf nicht automatisch zu einer Ausweisung führen.") und der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, Urteil vom 14. Juni 2012, C-542/09: "Was Wander- und Grenzarbeitnehmer angeht, schafft der Umstand, dass sie Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats gefunden haben, grundsätzlich ein hinreichendes Band der Integration in die Gesellschaft dieses Staates, das es ihnen erlaubt, hinsichtlich sozialer Vergünstigungen in den Genuss des Grundsatzes der Gleichbehandlung im Verhältnis zu inländischen Arbeitnehmern zu kommen. [ ] Das Band der Integration ergibt sich insbesondere daraus, dass der Wanderarbeitnehmer mit den Abgaben, die er im Aufnahmemitgliedstaat aufgrund der dort von ihm ausgeübten unselbständigen Erwerbstätigkeit entrichtet, auch zur Finanzierung der sozialpolitischen Maßnahmen dieses Staates beiträgt und davon unter den gleichen Bedingungen profitieren muss wie die inländischen Arbeitnehmer.") ist darüber hinaus zu entnehmen, dass Art. 7 Abs. 3 Buchstabe b RL 2004/38/EG folgende Annahme zugrunde liegt: Ein Unionsbürger, der im Aufnahmemitgliedstaat mindestens ein Jahr lang eine selbständige oder unselbständige Tätigkeit, die den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaates unterlag, ausgeübt hat, ist im Aufnahmemitgliedstaat derart hinreichend integriert (weil er mit den Abgaben, die er im Aufnahmemitgliedstaat aufgrund der dort von ihm ausgeübten unselbständigen Erwerbstätigkeit entrichtet hat, auch zur Finanzierung der sozialpolitischen Maßnahmen dieses Staates beigetragen hat), dass die Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch ihn nicht unangemessen ist (ähnlich: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. Mai 2015, 12 B 312/15).
b. Auf § 41a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II in der seit dem 1. August 2016 gültigen Fassung des "Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung – sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht" vom 26. Juli 2016 (Bundesgesetzblatt 2016 Teil I S. 1824) kann die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch nicht stützen. Das dem Antragsgegner eingeräumte Ermessen ("kann") ist nicht auf Null reduziert. Die Auffassung, bereits aus dem existenzsichernden Charakter der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ergebe sich, dass der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende kein Entschließungsermessen habe (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. Juni 2014, L 6 AS 980/14 B ER, L 6 AS 981/14 B; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Mai 2014, L 34 AS 1150/14 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29. Januar 2015, L 6 AS 2085/14 B ER, L 6 AS 2086/14 B), konnte schon unter der Geltung von § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) in Verbindung mit § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II in der bis zum 31. Juli 2016 gültigen Fassung (a. F.) des "Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch" vom 24. März 2011 (Bundesgesetzblatt 2011 Teil I S. 453) nicht überzeugen.
Denn leitend bei der Ausübung des nach § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III eingeräumten Ermessens ist nicht die Höhe des Geldbedarfs oder die Dringlichkeit der Leistungsgewährung (vgl. Wehrhahn, in: Estelmann, SGB II, § 40 Rn. 93; Kallert, in: Gagel, SGB III, § 328 Rn. 58), sondern die Antwort auf die Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass das Bundesverfassungsgericht oder der Gerichtshof der Europäischen Union zu dem Schluss gelangt/gelangen, dass eine Vorschrift des SGB II oder SGB III mit höherrangigem Recht nicht in Einklang steht. § 328 Abs. 1 Satz 1 SGB III dient vorrangig fiskalischen Interessen. Er soll Massenwidersprüche und –klagen, mithin Personal- und Sachkosten (vor allem die Erstattung von Vorverfahrens- und Gerichtskosten gemäß § 63 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch ‹SGB X›, § 193 Abs. 1 und 2 SGG) vermeiden helfen. Dies ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte des § 328 Abs. 1 Satz 1 SGB III.
§ 328 Abs. 1 Satz 1 SGB III geht zurück auf § 147 Abs. 1 Satz 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Dieser war Teil des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (SKWPG) vom 21. Dezember 1993 (Bundesgesetzblatt 1993 Teil I S. 2353), dessen Ziel es war, durch "Kürzungen bei Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit und beim Kindergeld/Erziehungsgeld" den Bundeshaushalt zu entlasten (vgl. BT-Drucks. 12/5502 S. 1 f.). Eingefügt wurde § 147 Abs. 1 Satz 1 AFG auf Empfehlung des Haushaltsausschusses (vgl. BT-Drucks. 12/5902 S. 20). In dessen Bericht vom 20. Oktober 1993 heißt es, dass es "in bestimmten Fällen [ ] sinnvoll" sei, "vorläufige Bescheide erlassen zu können, entsprechend gängiger Praxis im Steuerrecht, um nicht mit einer Vielzahl von Rechtsbehelfen konfrontiert werden zu müssen" (vgl. BT-Drucks. 12/5929 S. 9, ‹linke Spalte, dritter Absatz, achte Zeile›). Hinzu kommt: Durch das Gesetz zur Modernisierung und Entbürokratisierung des Steuerverfahrens vom 20. Dezember 2008 wurden die Voraussetzungen, unter denen gemäß § 165 Abs. 1 Abgabenordnung (AO) – dem § 147 Abs. 1 Satz 1 AFG und § 328 Abs. 1 Satz 1 SGB III nachgebildet wurden (siehe oben) – eine Steuer vorläufig festgesetzt werden kann, ergänzt. Zur Begründung gab der Gesetzgeber an (vgl. BT-Drucks. 16/10188 S. 30): "Nach den in der Verwaltungspraxis gesammelten Erfahrungen kann durch eine auf diese Vorschrift gestützte vorläufige Steuerfestsetzung der Einlegung von Masseneinsprüchen allerdings nur unzureichend begegnet werden, insbesondere dann, wenn eine strittige Frage (wie z. B. die Frage der Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen) sowohl unter verfassungsrechtlichen als auch unter ´einfachgesetzlichen` Aspekten zu beurteilen ist. Die neue Nummer 4 in § 165 Abs. 1 Satz 2 AO soll eine vorläufige Steuerfestsetzung deshalb auch dann ermöglichen, wenn wegen einer ´einfachgesetzlichen` Rechtsfrage ein Verfahren bei dem Bundesfinanzhof anhängig ist."
Jedenfalls mit der Übernahme der Regelung des § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III in § 41a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II kann die Auffassung, bereits aus dem existenzsichernden Charakter der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ergebe sich, dass der Träger der Grundsicherung kein Entschlie¬ßungsermessen habe, nicht mehr überzeugen. Obgleich nämlich der Gesetzgeber um den existenzsichernden Charakter der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II weiß und nicht angenommen werden kann, dass ihm die zu § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III in Verbindung mit § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II a. F. vertretene Auffassung, bereits aus dem existenzsichernden Charakter der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ergebe sich, dass der Träger der Grundsiche¬rung für Arbeitsuchende kein Entschließungsermessen habe, unbekannt ist, hat er dem Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende in § 41a Abs. 7 Satz 1 SGB II Ermessen eingeräumt. Zugleich hat er in § 41a Abs. 1 Satz 1 SGB II für die Fälle, in denen zur Feststellung der Voraussetzungen oder der Höhe des Anspruchs auf Geld- oder Sachleistungen voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist, die Voraussetzungen für den Anspruch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorliegen respektive ein Anspruch auf Geld- und Sachleistungen dem Grunde nach besteht und der Leistungsberechtigte die Umstände, die einer sofortigen abschließenden Entscheidung entgegenstehen, nicht zu vertreten hat, geregelt, dass über die Erbringung von Leistungen von Amts wegen vorläufig zu entscheiden "ist". Im Gegensatz dazu bestimmt § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Satz 3 SGB III, dass in den Fällen, in denen zur Feststellung der Voraussetzungen des Anspruchs auf Geldleistungen voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist, die Voraussetzungen für den Anspruch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorliegen und der Leistungsberechtigte die Umstände, die einer sofortigen abschließenden Entscheidung entgegenstehen, nicht zu vertreten hat, nur "auf Antrag" über die Erbringung von Leistungen vorläufig zu entscheiden "ist".
Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) und Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG gebieten ebenfalls, § 41a Abs. 7 Satz 1 SGB II dahin auszulegen, dass bei der Ausübung des durch diese Vorschrift eingeräumten Ermessens leitend die Antwort auf die Frage ist, mit welcher Wahrscheinlichkeit das Bundesverfassungsgericht oder der Gerichtshof der Europäischen Union zu dem Schluss gelangt/gelangen, dass eine Vorschrift des SGB II oder SGB III mit höherrangigem Recht nicht in Einklang steht. Denn aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ergibt sich, dass eine Behörde ein nationales Parlamentsgesetz allenfalls dann nicht anzuwenden braucht, wenn sie nach sorgfältiger Prüfung zu der Überzeugung (nicht: Vermutung) gelangt ist/gelangen musste, dass dieses Gesetzes mit (höherrangigem) nationalem Recht/Europäischem Unionsrecht nicht in Einklang steht (vgl. OVG Saarlouis, Beschluss vom 22. Januar 2007, 3 W 14/06).
Die Wahrscheinlichkeit, dass aufgrund der Ent¬schei¬dung des Bundesverfassungsgerichts (1 BvL 4/16) über den Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Mainz vom 18. April 2016 (S 3 AS 99/14) § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a) SGB II nicht weiter angewandt werden kann, ist gering. Nach überwiegender Ansicht steht (stehen) der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (und der des § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII) mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang (vgl. die Stellungnahmen der vom Ausschuss für Arbeit und Soziales gehörten Sachverständigen Franz Wilhelm Dollinger und Björn Harich ‹Ausschussdrucksache 18(11)827 S. 7 – 10, 22 – 25›; Ulmer, ZRP 2016, 224 – 226; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 17. März 2016, L 9 AS 1580/15 B ER; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 11. Februar 2016, L 3 AS 668/15 B ER; LSG Hamburg, Beschluss vom 14. April 2016, L 4 AS 76/16 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. März 2016, L 12 SO 79/16 B ER; SG Dresden, Beschluss vom 24. November 2016, S 32 AS 4260/16 ER; SG Dortmund, Beschluss vom 31. Januar 2017, S 62 SO 628/16 ER; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 13. Februar 2017, L 23 SO 30/17 B ER; SG Gelsenkirchen, Beschluss vom 7. März 2017, S 31 AS 370/17 ER; vgl. auch: Bundessozialgericht ‹BSG›, Urteil vom 16. Dezember 2015, B 14 AS 15/14 R; BSG, Urteil vom 20. Januar 2016, B 14 AS 35/15 R).
Selbst wenn jedoch das dem Antragsgegner über § 41a Abs. 7 Satz 1 SGB II eingeräumte Entschließungsermessen auf Null reduziert wäre, gälte Gleiches nicht für das ihm über § 41a Abs. 7 Satz 1 SGB II eingeräumte Auswahlermessen. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass § 41a Abs. 7 Satz 2 SGB II auf § 41a Abs. 2 Satz 1 SGB II, nicht jedoch auf § 41a Abs. 2 Satz 2, 3 SGB II verweist.
c. Ob die Antragstellerin dem Beigeladenen gegenüber einen Anspruch auf Überbrückungsleistungen (§ 23 Abs. 3 Satz 3, 5, 6 SGB XII) hat, kann dahinstehen. Denn diese sind von ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht umfasst. Die Antragstellerin hat der Ansicht des Sozialgerichts Berlin, dass sie diese Leistungen nicht begehre, nicht widersprochen. Hinzu kommt, dass die Überbrückungsleistungen im Sinne des § 23 Abs. 3 Satz 3, 5, 6 SGB XII im Verhältnis zu dem Anspruch auf laufende Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII einen eigenständigen Streitgegenstand darstellen (vgl. SG Dortmund, Beschluss vom 31. Januar 2017, S 62 SO 628/16 ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Februar 2017, L 23 SO 30/17 B ER).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG (analog).
3. Der Antragstellerin war gemäß § 73a Absatz 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit §§ 114 ff. ZPO Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin M G, Berlin, zu bewilligen. Die Beschwerde bot zumindest hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Antragstellerin ist nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung aufzubringen. Die Vertretung durch eine Rechtsanwältin war/ist erforderlich (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 ZPO).
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Kosten sind nicht zu erstatten.
Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwältin M G, B, beigeordnet. Beträge aus dem Vermögen oder Raten sind nicht zu zahlen.
Gründe:
I.
Die 1991 geborene, erwerbsfähige Antragstellerin ist polnische Staatsangehörige. Bis (mindestens) zum 9. April 2015 hatte sie ihren Wohnsitz in Polen. Vom 9. April 2015 bis zum 1. Oktober 2015 war sie unter der Adresse einer in B-L gelegenen Wohnung ("bei R") und vom 1. Oktober 2015 bis zum 1. Dezember 2016 unter der Adresse einer in B-R gelegenen Wohnung ("bei O") gemeldet (vgl. Bl. 191 – 192 der Akten des Gerichts ‹GA›). Seit dem 1. Dezember 2016 ist sie Mieterin einer in B-P gelegenen Wohnung. Für den Gebrauch dieser Wohnung schuldet sie eine Brutto-Warmmiete in Höhe von 429,12 EUR monatlich sowie eine Sicherheitsleistung in Höhe von 909,00 EUR (vgl. Bl. 59 – 73 GA).
Vom 4. August 2014 bis zum 23. März 2015 war sie (eigenen Angaben zufolge als "Grenzgängerin") im Wege der Arbeitnehmerüberlassung für die in B ansässige W S GmbH & Co. Gießerei KG in Vollzeit tätig. Ihr Arbeitgeber (Verleiher) – der für sie in Polen Sozialversicherungsbeiträge abführte (vgl. Bl. 25 – 26, 127 – 129, 139 GA) – war eine polnische "Arbeitsagentur für Arbeitnehmerüberlassung" ( Sp. z.o.o., Gliwice, Polen) (vgl. Bl. 91, 93, 179 GA).
Mit Vertrag vom 31. März 2015 wurde zwischen ihr und der W S GmbH & Co. Gießerei KG für die Zeit vom 23. März 2015 bis zum 24. September 2015 ein Vollzeitarbeitsverhältnis begründet (vgl. Bl. 27 – 32 GA). Am 14. April 2015 stellte die W S GmbH & Co. Gießerei KG einen Insolvenzantrag, aufgrund dessen am 10. Juni 2015 das Insolvenzverfahren eröffnet wurde (vgl. Bl. 133 – 134 GA). Mit Vertrag vom 1. September 2015 verlängerten der Insolvenzverwalter und die Antragstellerin das zwischen ihr und der W S GmbH & Co. Gießerei KG begründete Arbeitsverhältnis bis zum 31. Dezember 2015 (vgl. Bl. 33 GA).
Vom 1. Januar 2016 bis zum 31. Dezember 2016 bezog die Antragstellerin Arbeitslosengeld (vgl. Bl. 34 – 37 GA). Mit Bescheiden vom 5. September 2016 und 26. November 2016 bewilligte ihr das Jobcenter Berlin Reinickendorf für die Zeit vom 1. Oktober 2016 bis zum 31. Dezember 2016 ergänzend Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) (vgl. Bl. 39 – 46 GA). Aufgrund des Umzugs der Antragstellerin nach B-P hob es die Bescheide vom 5. September 2016 und 26. November 2016 mit Bescheid vom 13. Dezember 2016 zum 1. Januar 2017 auf (vgl. Bl. 50 – 51 GA).
Mit Bescheid vom 3. Januar 2017 lehnte der Antragsgegner den Leistungsantrag der Antragstellerin vom 8. Dezember 2016 ab (vgl. Bl. 52 GA). Mit Schreiben vom 13. Januar 2017 erhob die Antragstellerin Widerspruch (vgl. Bl. 56 – 58 GA).
Am 16. Januar 2017 hat die Antragstellerin den Antrag gestellt, den Antragsgegner im Wege des Erlasses einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihr Leistungen "nach dem SGB II in Form von Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und Kosten der Unterkunft und Heizung ab sofort zu gewähren" (vgl. Bl. 1 – 5 GA).
Das Sozialgericht Berlin hat das Land Berlin (vertreten durch das Bezirksamt Pankow, dieses vertreten durch das Amt für Soziales) beigeladen (Beschluss vom 7. Februar 2017 ‹vgl. Bl. 98 – 99 GA›) und mit Beschluss vom 20. Februar 2017 den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Die Antragstellerin habe einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Sie sei gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen des SGB II ausgeschlossen. Auf den Verlängerungstatbestand des § 2 Abs. 3 Satz 2 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) könne sie sich nicht berufen, da ihre Arbeitnehmereigenschaft vor mehr als sechs Monaten geendet habe. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU seien nicht erfüllt. Die bei der W S GmbH & Co. Gießerei KG ausgeübte Beschäftigung habe weniger als ein Jahr gewährt. Die für die "D" ausgeübte Beschäftigung könne nicht ergänzend herangezogen werden, da diese ihren Sitz in Polen habe und die Antragstellerin erst seit dem 9. April 2015 in Deutschland wohnhaft sei. Von den Leistungen gemäß § 23 Abs. 1 Satz 1, 3 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) sei die Antragstellerin nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII ausgeschlossen. Überbrückungsleistungen im Sinne des § 23 Abs. 3 Satz 3, 5, 6 SGB XII seien vom Antrag der Antragstellerin nicht umfasst (vgl. Bl. 150 – 152 R GA).
Am 1. März 2017 hat die Antragstellerin Beschwerde eingelegt und beantragt, den Antragsgegner unter Aufhebung des Beschlusses des Sozialgerichts Berlin vom 20. Februar 2017 zu verpflichten, ihr Leistungen "nach dem SGB II in Form von Regelleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und Kosten der Unterkunft und Heizung ab sofort zu gewähren". Zugleich hat sie beantragt, ihr für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin M G zu bewilligen. Sie sei nicht nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II von den Leistungen des SGB II ausgeschlossen, da sie sich auf die Regelung des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU berufen könne. In jedem Fall seien ihr aufgrund des Vorlagebeschlusses des Sozialgerichts Mainz vom 18. April 2016 (S 3 AS 149/16) gemäß § 41a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II Leistungen nach dem SGB II zu gewähren. Das dem Antragsgegner eingeräumte Ermessen sei "aufgrund des existenzsichernden Charakters des Arbeitslosengeldes II und des Grundrechts auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums auf Null reduziert" (vgl. Bl. 164 – 169 GA).
II.
1. Die Beschwerde ist zulässig, jedoch nicht begründet. Ein Anordnungsanspruch ist nicht glaubhaft gemacht (§ 86b Abs. 2 Satz 2, 4 Sozialgerichtsgesetz ‹SGG› in Verbindung mit § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung ‹ZPO›).
a. Die Antragstellerin ist gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a) SGB II und gemäß § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII (beide in der seit dem 29. Dezember 2016 gültigen Fassung des "Gesetzes zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch" vom 22. Dezember 2016 ‹Bundesgesetzblatt 2016 Teil I S. 3155›) von den Leistungen des SGB II und SGB XII ausgeschlossen. Die Antragstellerin hat kein Aufenthaltsrecht. Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU erfüllt sie nicht (auch nicht die des § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU, da sie nicht nachgewiesen hat, weiterhin Arbeit zu suchen und begründete Aussicht zu haben, eingestellt zu werden). Auf § 2 Abs. 3 Satz 2 FreizügG/EU kann sie sich nicht berufen. Die Beschäftigung, die sie zuletzt (für die W S GmbH & Co. Gießerei KG) ausgeübt hat, hat vor mehr als sechs Monaten geendet. Auch auf § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU kann sie sich nicht berufen. Ob die Worte "nach mehr als einem Jahr Tätigkeit", die § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU enthält, voraussetzen, dass die zuletzt ausgeübte Tätigkeit ein Jahr lang ununterbrochen gewährt hat, oder ob sie es genügen lassen, dass mehrere verschiedene (selbständige oder unselbständige), aneinander anschließende (vgl. Ziffer 2.3.1.2 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum FreizügG/EU des Bundesministerium des Innern vom 3. Februar 2016; Bayrisches Landessozialgericht ‹LSG›, Beschluss vom 20. Juni 2016, L 16 AS 284/16 B ER; a. A.: Hailbronner, Ausländerrecht, D 1, § 2 FreizügG/EU Rn. 85) oder gar durch Zeiten der Arbeitslosigkeit unterbrochene (so: Sozialgericht ‹SG› Düsseldorf, Urteil vom 31. März 2016, S 18 AS 4381/ 15; a. A.: Oberverwaltungsgericht ‹OVG› Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. Mai 2015, 12 B 312/15; Epe, in: GK-Aufenthaltsgesetz, § 2 FreizügG/EU Rn. 122; Hailbronner, Ausländerrecht, D 1, § 2 FreizügG/EU Rn. 85), kann dahinstehen. Denn selbst wenn die Worte "nach mehr als einem Jahr Tätigkeit", die § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU enthält, mehrere verschiedene, aneinander anschließende Beschäftigungen, die zusammengerechnet mehr als ein Jahr gedauert haben, genügen lassen sollten, könnte sich die Antragstellerin auf § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU nicht berufen. Tätigkeiten nämlich, die nicht den "Rechts- und Verwaltungsvorschriften" der Bundesrepublik Deutschland unterlagen/unterliegen, scheiden für eine Antwort auf die Frage, ob gemäß § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU eine Tätigkeit von mehr als einem Jahr ausgeübt wurde, aus. Dies ergibt sich zwar nicht aus dem Wortlaut des § 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU, wohl aber aus dessen Sinn und Zweck/Entstehungsgeschichte.
§ 2 Abs. 3 FreizügG/EU erhielt seine bis heute gültige Fassung durch das Gesetz zur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtlinien der Europäischen Union vom 19. August 2007 (Bundesgesetzblatt 2007 Teil I S. 1970). Im Gesetzentwurf der Bundesregierung heißt es (Bundestags-Drucksache 16/5065 S. 208), die Neufassung des § 2 Abs. 3 FreizügG/EU setze Art. 7 Abs. 3 der "Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zur Änderung der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 und zur Aufhebung der Richtlinien 64/221/EWG, 68/360/EWG, 72/194/EWG, 73/148/EWG, 75/34/EWG, 75/35/ EWG, 90/364/EWG, 90/365/EWG und 93/96/EWG" (RL 2004/38/EG) um.
Nach Art. 7 Abs. 3 Buchstabe b RL 2004/38/EG bleibt dem Unionsbürger, "der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger nicht mehr ausübt", und der "sich bei ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung dem zuständigen Arbeitsamt zur Verfügung" stellt "für die Zwecke des [Art 7] Abs. 1 Buchstabe a" die "Erwerbstätigeneigenschaft" erhalten. Gemäß Art. 7 Abs. 1 Buchstabe a RL 2004/38/EG hat "jeder Unionsbürger das "Recht auf Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates für einen Zeitraum von über drei Monaten, wenn er Arbeitnehmer oder Selbständiger im Aufnahmemitgliedstaat ist". Ergänzend hierzu bestimmen die "Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft" und die "Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union", dass "jeder Staatsangehörige eines Mitgliedstaates [ ] ungeachtet seines Wohnortes berechtigt ist, eine Tätigkeit im Lohn- und Gehaltsverhältnis im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften aufzunehmen und auszuüben".
Anders als in der "Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Koordinierung der System der Sozialen Sicherheit" (vgl. dort Art. 6) findet sich in der RL 2004/38/EG zudem keine Regelung, die anordnet, dass Beschäftigungszeiten, die nach den "Rechts- und Verwaltungsvorschriften" eines anderen Mitgliedstaates (als des Aufnahmemitgliedstaates im Sinne des Art. 2 Nr. 3 RL 2004/38/EG) zurückgelegt wurden, anzurechnen sind. Hinzu kommt, dass sich Unionsbürger, die im Wege der Arbeitnehmerüberlassung in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werden, zwar auf die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 ff. des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union ‹AEUV›) des sie entsendenden Unternehmens berufen können ("Annexrecht mit Schutzwirkung für die Beschäftigten" ‹vgl. Frenz, Handbuch Europarecht, Band 1, Europäische Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2012, Rn. 3440, 3442›), nicht aber auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Art. 45 ff. AEUV). Denn da diese Unionsbürger weiterhin beim Verleihunternehmen beschäftigt sind und von diesem in einen anderen Mitgliedstaat geschickt werden, ohne auf dem Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaates aufzutreten, fehlt es am "grenzüberschreitenden Element". Dieses besteht bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit grundsätzlich darin, dass sich ein Arbeitnehmer in die Volkswirtschaft eines anderen Mitgliedstaates integriert, dessen Staatsangehörigkeit er nicht besitzt, mithin dort eine Beschäftigung aufnimmt (vgl. Frenz, Handbuch Europarecht, Band 1, Europäische Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2012, Rn. 1345, 1451; Oberhäuser, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 2 FreizügG/EU Rn. 18; der Gerichtshof der Europäischen Union ‹EuGH› hat in seinen Urteil vom 17. Dezember 1981 ‹Aktenzeichen 279/80, Entscheidungsname: Webb› und 10. Februar 2011 ‹Aktenzeichen C-307/09 bis C-309/09, C-307/09; Entscheidungsname: Vicoplus› offen gelassen, ob sich Unionsbürger, die im Wege der Arbeitnehmerüberlassung in einen anderen Mitgliedstaat entsandt werden, auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit berufen können).
Den Erwägungsgründen 10 und 16 RL 2004/38/EG ("Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaates nicht unangemessen in Anspruch nehmen"), dem Erwägungsgrund 18 RL 2004/38/EG ("Integration in die Gesellschaft des Aufnahmemitgliedstaates"), dem Erwägungsgrund 24 RL 2004/38/EG ("wie die Unionsbürger [ ] in den Aufnahmemitgliedstaat stärker integriert sind"), Art. 14 Abs. 3 RL 2004/38/EG ("Die Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch einen Unionsbürger [ ] im Aufnahmemitgliedstaat darf nicht automatisch zu einer Ausweisung führen.") und der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (vgl. EuGH, Urteil vom 14. Juni 2012, C-542/09: "Was Wander- und Grenzarbeitnehmer angeht, schafft der Umstand, dass sie Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats gefunden haben, grundsätzlich ein hinreichendes Band der Integration in die Gesellschaft dieses Staates, das es ihnen erlaubt, hinsichtlich sozialer Vergünstigungen in den Genuss des Grundsatzes der Gleichbehandlung im Verhältnis zu inländischen Arbeitnehmern zu kommen. [ ] Das Band der Integration ergibt sich insbesondere daraus, dass der Wanderarbeitnehmer mit den Abgaben, die er im Aufnahmemitgliedstaat aufgrund der dort von ihm ausgeübten unselbständigen Erwerbstätigkeit entrichtet, auch zur Finanzierung der sozialpolitischen Maßnahmen dieses Staates beiträgt und davon unter den gleichen Bedingungen profitieren muss wie die inländischen Arbeitnehmer.") ist darüber hinaus zu entnehmen, dass Art. 7 Abs. 3 Buchstabe b RL 2004/38/EG folgende Annahme zugrunde liegt: Ein Unionsbürger, der im Aufnahmemitgliedstaat mindestens ein Jahr lang eine selbständige oder unselbständige Tätigkeit, die den Rechts- und Verwaltungsvorschriften des Aufnahmemitgliedstaates unterlag, ausgeübt hat, ist im Aufnahmemitgliedstaat derart hinreichend integriert (weil er mit den Abgaben, die er im Aufnahmemitgliedstaat aufgrund der dort von ihm ausgeübten unselbständigen Erwerbstätigkeit entrichtet hat, auch zur Finanzierung der sozialpolitischen Maßnahmen dieses Staates beigetragen hat), dass die Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch ihn nicht unangemessen ist (ähnlich: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22. Mai 2015, 12 B 312/15).
b. Auf § 41a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II in der seit dem 1. August 2016 gültigen Fassung des "Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch – Rechtsvereinfachung – sowie zur vorübergehenden Aussetzung der Insolvenzantragspflicht" vom 26. Juli 2016 (Bundesgesetzblatt 2016 Teil I S. 1824) kann die Antragstellerin einen Anordnungsanspruch nicht stützen. Das dem Antragsgegner eingeräumte Ermessen ("kann") ist nicht auf Null reduziert. Die Auffassung, bereits aus dem existenzsichernden Charakter der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ergebe sich, dass der Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende kein Entschließungsermessen habe (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. Juni 2014, L 6 AS 980/14 B ER, L 6 AS 981/14 B; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 27. Mai 2014, L 34 AS 1150/14 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 29. Januar 2015, L 6 AS 2085/14 B ER, L 6 AS 2086/14 B), konnte schon unter der Geltung von § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgesetzbuch Drittes Buch (SGB III) in Verbindung mit § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II in der bis zum 31. Juli 2016 gültigen Fassung (a. F.) des "Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch" vom 24. März 2011 (Bundesgesetzblatt 2011 Teil I S. 453) nicht überzeugen.
Denn leitend bei der Ausübung des nach § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III eingeräumten Ermessens ist nicht die Höhe des Geldbedarfs oder die Dringlichkeit der Leistungsgewährung (vgl. Wehrhahn, in: Estelmann, SGB II, § 40 Rn. 93; Kallert, in: Gagel, SGB III, § 328 Rn. 58), sondern die Antwort auf die Frage, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass das Bundesverfassungsgericht oder der Gerichtshof der Europäischen Union zu dem Schluss gelangt/gelangen, dass eine Vorschrift des SGB II oder SGB III mit höherrangigem Recht nicht in Einklang steht. § 328 Abs. 1 Satz 1 SGB III dient vorrangig fiskalischen Interessen. Er soll Massenwidersprüche und –klagen, mithin Personal- und Sachkosten (vor allem die Erstattung von Vorverfahrens- und Gerichtskosten gemäß § 63 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch ‹SGB X›, § 193 Abs. 1 und 2 SGG) vermeiden helfen. Dies ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte des § 328 Abs. 1 Satz 1 SGB III.
§ 328 Abs. 1 Satz 1 SGB III geht zurück auf § 147 Abs. 1 Satz 1 Arbeitsförderungsgesetz (AFG). Dieser war Teil des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (SKWPG) vom 21. Dezember 1993 (Bundesgesetzblatt 1993 Teil I S. 2353), dessen Ziel es war, durch "Kürzungen bei Leistungen der Bundesanstalt für Arbeit und beim Kindergeld/Erziehungsgeld" den Bundeshaushalt zu entlasten (vgl. BT-Drucks. 12/5502 S. 1 f.). Eingefügt wurde § 147 Abs. 1 Satz 1 AFG auf Empfehlung des Haushaltsausschusses (vgl. BT-Drucks. 12/5902 S. 20). In dessen Bericht vom 20. Oktober 1993 heißt es, dass es "in bestimmten Fällen [ ] sinnvoll" sei, "vorläufige Bescheide erlassen zu können, entsprechend gängiger Praxis im Steuerrecht, um nicht mit einer Vielzahl von Rechtsbehelfen konfrontiert werden zu müssen" (vgl. BT-Drucks. 12/5929 S. 9, ‹linke Spalte, dritter Absatz, achte Zeile›). Hinzu kommt: Durch das Gesetz zur Modernisierung und Entbürokratisierung des Steuerverfahrens vom 20. Dezember 2008 wurden die Voraussetzungen, unter denen gemäß § 165 Abs. 1 Abgabenordnung (AO) – dem § 147 Abs. 1 Satz 1 AFG und § 328 Abs. 1 Satz 1 SGB III nachgebildet wurden (siehe oben) – eine Steuer vorläufig festgesetzt werden kann, ergänzt. Zur Begründung gab der Gesetzgeber an (vgl. BT-Drucks. 16/10188 S. 30): "Nach den in der Verwaltungspraxis gesammelten Erfahrungen kann durch eine auf diese Vorschrift gestützte vorläufige Steuerfestsetzung der Einlegung von Masseneinsprüchen allerdings nur unzureichend begegnet werden, insbesondere dann, wenn eine strittige Frage (wie z. B. die Frage der Abziehbarkeit von Vorsorgeaufwendungen) sowohl unter verfassungsrechtlichen als auch unter ´einfachgesetzlichen` Aspekten zu beurteilen ist. Die neue Nummer 4 in § 165 Abs. 1 Satz 2 AO soll eine vorläufige Steuerfestsetzung deshalb auch dann ermöglichen, wenn wegen einer ´einfachgesetzlichen` Rechtsfrage ein Verfahren bei dem Bundesfinanzhof anhängig ist."
Jedenfalls mit der Übernahme der Regelung des § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III in § 41a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 SGB II kann die Auffassung, bereits aus dem existenzsichernden Charakter der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ergebe sich, dass der Träger der Grundsicherung kein Entschlie¬ßungsermessen habe, nicht mehr überzeugen. Obgleich nämlich der Gesetzgeber um den existenzsichernden Charakter der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II weiß und nicht angenommen werden kann, dass ihm die zu § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB III in Verbindung mit § 40 Abs. 2 Nr. 1 SGB II a. F. vertretene Auffassung, bereits aus dem existenzsichernden Charakter der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ergebe sich, dass der Träger der Grundsiche¬rung für Arbeitsuchende kein Entschließungsermessen habe, unbekannt ist, hat er dem Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende in § 41a Abs. 7 Satz 1 SGB II Ermessen eingeräumt. Zugleich hat er in § 41a Abs. 1 Satz 1 SGB II für die Fälle, in denen zur Feststellung der Voraussetzungen oder der Höhe des Anspruchs auf Geld- oder Sachleistungen voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist, die Voraussetzungen für den Anspruch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorliegen respektive ein Anspruch auf Geld- und Sachleistungen dem Grunde nach besteht und der Leistungsberechtigte die Umstände, die einer sofortigen abschließenden Entscheidung entgegenstehen, nicht zu vertreten hat, geregelt, dass über die Erbringung von Leistungen von Amts wegen vorläufig zu entscheiden "ist". Im Gegensatz dazu bestimmt § 328 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3, Satz 3 SGB III, dass in den Fällen, in denen zur Feststellung der Voraussetzungen des Anspruchs auf Geldleistungen voraussichtlich längere Zeit erforderlich ist, die Voraussetzungen für den Anspruch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit vorliegen und der Leistungsberechtigte die Umstände, die einer sofortigen abschließenden Entscheidung entgegenstehen, nicht zu vertreten hat, nur "auf Antrag" über die Erbringung von Leistungen vorläufig zu entscheiden "ist".
Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz (GG) und Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG gebieten ebenfalls, § 41a Abs. 7 Satz 1 SGB II dahin auszulegen, dass bei der Ausübung des durch diese Vorschrift eingeräumten Ermessens leitend die Antwort auf die Frage ist, mit welcher Wahrscheinlichkeit das Bundesverfassungsgericht oder der Gerichtshof der Europäischen Union zu dem Schluss gelangt/gelangen, dass eine Vorschrift des SGB II oder SGB III mit höherrangigem Recht nicht in Einklang steht. Denn aus Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ergibt sich, dass eine Behörde ein nationales Parlamentsgesetz allenfalls dann nicht anzuwenden braucht, wenn sie nach sorgfältiger Prüfung zu der Überzeugung (nicht: Vermutung) gelangt ist/gelangen musste, dass dieses Gesetzes mit (höherrangigem) nationalem Recht/Europäischem Unionsrecht nicht in Einklang steht (vgl. OVG Saarlouis, Beschluss vom 22. Januar 2007, 3 W 14/06).
Die Wahrscheinlichkeit, dass aufgrund der Ent¬schei¬dung des Bundesverfassungsgerichts (1 BvL 4/16) über den Vorlagebeschluss des Sozialgerichts Mainz vom 18. April 2016 (S 3 AS 99/14) § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 a) SGB II nicht weiter angewandt werden kann, ist gering. Nach überwiegender Ansicht steht (stehen) der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II (und der des § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 SGB XII) mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG in Einklang (vgl. die Stellungnahmen der vom Ausschuss für Arbeit und Soziales gehörten Sachverständigen Franz Wilhelm Dollinger und Björn Harich ‹Ausschussdrucksache 18(11)827 S. 7 – 10, 22 – 25›; Ulmer, ZRP 2016, 224 – 226; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 17. März 2016, L 9 AS 1580/15 B ER; LSG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 11. Februar 2016, L 3 AS 668/15 B ER; LSG Hamburg, Beschluss vom 14. April 2016, L 4 AS 76/16 B ER; LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 7. März 2016, L 12 SO 79/16 B ER; SG Dresden, Beschluss vom 24. November 2016, S 32 AS 4260/16 ER; SG Dortmund, Beschluss vom 31. Januar 2017, S 62 SO 628/16 ER; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 13. Februar 2017, L 23 SO 30/17 B ER; SG Gelsenkirchen, Beschluss vom 7. März 2017, S 31 AS 370/17 ER; vgl. auch: Bundessozialgericht ‹BSG›, Urteil vom 16. Dezember 2015, B 14 AS 15/14 R; BSG, Urteil vom 20. Januar 2016, B 14 AS 35/15 R).
Selbst wenn jedoch das dem Antragsgegner über § 41a Abs. 7 Satz 1 SGB II eingeräumte Entschließungsermessen auf Null reduziert wäre, gälte Gleiches nicht für das ihm über § 41a Abs. 7 Satz 1 SGB II eingeräumte Auswahlermessen. Dies ergibt sich aus der Tatsache, dass § 41a Abs. 7 Satz 2 SGB II auf § 41a Abs. 2 Satz 1 SGB II, nicht jedoch auf § 41a Abs. 2 Satz 2, 3 SGB II verweist.
c. Ob die Antragstellerin dem Beigeladenen gegenüber einen Anspruch auf Überbrückungsleistungen (§ 23 Abs. 3 Satz 3, 5, 6 SGB XII) hat, kann dahinstehen. Denn diese sind von ihrem Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht umfasst. Die Antragstellerin hat der Ansicht des Sozialgerichts Berlin, dass sie diese Leistungen nicht begehre, nicht widersprochen. Hinzu kommt, dass die Überbrückungsleistungen im Sinne des § 23 Abs. 3 Satz 3, 5, 6 SGB XII im Verhältnis zu dem Anspruch auf laufende Leistungen nach dem SGB II oder SGB XII einen eigenständigen Streitgegenstand darstellen (vgl. SG Dortmund, Beschluss vom 31. Januar 2017, S 62 SO 628/16 ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 13. Februar 2017, L 23 SO 30/17 B ER).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 Satz 1 SGG (analog).
3. Der Antragstellerin war gemäß § 73a Absatz 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit §§ 114 ff. ZPO Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwältin M G, Berlin, zu bewilligen. Die Beschwerde bot zumindest hinreichende Aussicht auf Erfolg. Die Antragstellerin ist nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung aufzubringen. Die Vertretung durch eine Rechtsanwältin war/ist erforderlich (§ 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 121 Abs. 2 ZPO).
Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
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