L 32 AS 2146/16 B PKH

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
32
1. Instanz
SG Frankfurt (Oder) (BRB)
Aktenzeichen
S 33 AS 774/16
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 32 AS 2146/16 B PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Frankfurt (Oder) vom 1. August 2016 geändert.

Der Antragstellerin wird ab dem 18. Mai 2016 für das Klageverfahren vor dem Sozialgericht Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung oder Beiträge aus dem Vermögen bewilligt und Rechtsanwältin H beigeordnet.

Kosten sind für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.

Gründe:

I.

Gegenstand des Rechtsstreites ist die Gewährung von Prozesskostenhilfe für ein Verfahren, in welchem sich die Antragstellerin gegen den Bescheid der Beklagten vom 2. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 4. April 2016 und die damit erfolgte Aufforderung zur Rentenantragstellung wendet.

Die Antragstellerin begründet ihre Klage damit, dass sie bereits ab September 2017 Altersrente abschlagsfrei erhalten könne und ihr Bundesfreiwilligendienst seit März 2016 eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung sei, die zudem nach Ablauf eines Jahres einen Anspruch auf Arbeitslosengeld begründe. Die Entscheidung widerspreche deshalb § 4 UnbilligkeitsVO. Zudem habe die Beklagte ihr Ermessen nicht pflichtgemäß ausgeübt.

Das Sozialgericht Frankfurt (Oder) hat mit Beschluss vom 1. August 2016 den Antrag auf Prozesskostenhilfe abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, dass für die Klage keine Erfolgsaussichten bestünden. Der angefochtene Bescheid sei rechtmäßig. Die Voraussetzungen für eine Aufforderung nach §§ 12a Satz 1, 5 Abs 3 Satz 1 SGB II lägen vor. Die Antragstellerin habe das 63. Lebensjahr vollendet und es lägen keine Sachverhalte vor, aufgrund derer Leistungsberechtigte nach der UnbilligkeitsVO nicht verpflichtet seien, eine Altersrente vorzeitig in Anspruch zu nehmen. § 2 UnbilligkeitsVO greife nicht, weil die Antragstellerin keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld verliere. Ein ab März 2017 bestehender Anspruch auf Arbeitslosengeld sei unerheblich, weil es auf eine Anwartschaft im Zeitpunkt der Entscheidung ankomme. Ein Fall von § 3 UnbilligkeitsVO liege nicht vor, weil die Antragstellerin die abschlagsfreie Rente nicht innerhalb von drei Monaten beanspruchen könne. Die Antragstellerin sei auch nicht im Sinne von § 4 UnbilligkeitsVO erwerbstätig gewesen, weil es sich nicht um eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung gehandelt habe, da das Bruttoein-kommen der Antragstellerin nicht mindestens 450,01 EUR monatlich (§ 8 Abs 1 Nr 1 SGB IV) betragen, sondern sie nur ein Taschengeld von 200,00 EUR bezogen habe. Sozialversicherungsbeiträge davon zahle die Antragstellerin nicht, diese würden allein von der Einsatzstelle erbracht. Ermessensfehler seien im Rahmen des von der Beklagten auszuübenden intendierten Ermessens nicht zu erkennen.

Die Antragstellerin verfolgt ihr Begehren mit ihrer am 19. August 2016 erhobenen Beschwerde aus den Gründen der Klage weiter.

Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter nach § 155 Abs 3, 4 SGG erklärt.

II.

Über die Beschwerde kann der Senat gemäß § 155 Abs 3, 4 SGG allein durch seinen Berichterstatter entscheiden, weil die Beteiligten ihr Einverständnis damit erklärt haben und die Sache in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht keine besonderen Schwierigkeiten aufwirft. Die rechtlichen, einschließlich der verfassungsrechtlichen Maßstäbe zur Beurteilung des Anspruchs auf Prozesskostenhilfe sind durch die Rechtsprechung des BVerfG geklärt. Der vorliegende Fall wirft, an diesen Maßstäben gemessen, keine neuen rechtlichen Fragen auf. Die Ermessensausübung hat zudem den Zweck der Regelung beachtet, zu einer Straffung des Verfahrens und einer Entlastung des LSG beizutragen, ohne den Anspruch der Beteiligten auf einen angemessenen Rechtsschutz zu vernachlässigen (vgl die Begründung des Entwurfs eines Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege, BT-Drs 12/1217 S 53 zu Nr 9 - § 155 SGG; BSG, Urteil vom 07.08.2014, B 13 R 37/13 R, RdNr 14).

Die Beschwerde ist zulässig; sie ist insbesondere statthaft. Ein Ausschluss der Beschwerde nach § 172 Abs 3 SGG liegt nicht vor. Die Vorschrift lautet: Die Beschwerde ist ausgeschlossen gegen die Ablehnung von Prozesskostenhilfe, wenn in der Hauptsache die Berufung der Zulassung bedürfte. Die Berufung bedürfte bei voller Klagestattgabe oder -abweisung nicht der Zulassung, weil die von der Antragstellerin verfolgte isolierte Anfechtungsklage wertunabhängig die Zulässigkeit der Berufung begründen würde. Die auch im Übrigen zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist für die Zeit ab Zugang des Antrags auf Prozesskostenhilfe am 18. Mai 2016 begründet. Der ausweislich des Leistungsbezuges bei der Beklagten und ohne berücksichtigungsfähigem Vermögen bedürftigen Antragstellerin war für das Klageverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen, denn die beabsichtigte Rechtsverfolgung bietet hinreichende Aussicht auf Erfolg und ist nicht mutwillig. Die Beiordnung anwaltlichen Beistandes ist dafür auch im Sinne von §§ 73a Abs 1 SGG, 121 Abs 2 ZPO erforderlich.

Nach § 73a Abs 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 114 ZPO erhält auf Antrag Prozesskostenhilfe ein Beteiligter, der nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Hinreichende Erfolgsaussicht ist dann anzunehmen, wenn das Gericht aufgrund summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage (BVerfG, Beschluss vom 15.12.2008, 1 BvR 1404/04, RdNr 29) zu dem Ergebnis gelangt, dass der Erfolg der Rechtsverfolgung eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat. Diese gewisse Wahrscheinlichkeit liegt dann vor, wenn das Gericht den Rechtsstandpunkt des Beteiligten aufgrund der Sachverhaltsschilderung, der vorgelegten Unterlagen für zutreffend oder zumindest für vertretbar hält und in tatsächlicher Hinsicht von der Möglichkeit der Beweisführung überzeugt ist (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage § 73a, RdNr. 7a). Bei nur teilweise anzunehmender Erfolgsaussicht ist in den gerichtskostenfreien Verfahren Prozesskostenhilfe unbeschränkt zu gewähren (vgl Leitherer ebd. mwN); Ausnahmen kommen bei selbständigen Streitgegenständen, also insbesondere bei Klagenhäufung in Betracht. Einerseits dürfen die Anforderungen an eine hinreichende Erfolgsaussicht nicht überspannt werden (BVerfG, Beschluss vom 13.03.1990, 2 BvR 94/88, BVerfGE 81, 347, 358 - JURIS-RdNr 27). Andererseits darf Prozesskostenhilfe auch verweigert werden, wenn der Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine entfernte ist (vgl BVerfG ebd JURIS-RdNr 26). Kommt eine Beweisaufnahme ernsthaft in Betracht und liegen keine konkreten und nachvollziehbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass die Beweisaufnahme mit großer Wahrscheinlichkeit zum Nachteil des Beschwerdeführers ausgehen würde, bzw hält das Gericht eine Beweiserhebung für notwendig, so kann in der Regel Erfolgsaussicht nicht verneint werden (BVerfG, Beschluss vom 15.12.2008, 1 BvR 1404/04, RdNr 30, Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Auflage, § 73a RdNr 7a). Weil es ausreicht, dass Vertretbarkeit des Rechtsvorbringens anzunehmen ist, kommt es hinsichtlich der rechtlichen Bewertung nicht auf die Rechtsansicht des erkennenden Spruchkörpers, sondern auf eine allgemeine Betrachtung an. Ein Rechtsschutzbegehren hat daher auch dann hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn die Entscheidung in der Hauptsache von der Beantwortung einer schwierigen, bislang ungeklärten Rechtsfrage abhängt (vgl BVerfG, Beschluss vom 13.03.1990, 2 BvR 94/88, BVerfGE 81, 347, 358f - JURIS-RdNr 28 mwN). Nach diesen Maßstäben ist eine erhebliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Anfechtungsklage zulässig und der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig ist, anzunehmen. Von hinreichender Erfolgsaussicht ist auszugehen, denn es erscheint zumindest sehr gut vertretbar, dass die Beklagte mit dem Verwaltungsakt gegen §§ 5, 12a SGB II i V m § 4 UnbilligkeitsVO verstoßen hat. Nach § 12a Satz 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. Stellen Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag auf Leistungen eines anderen Trägers nicht, können die Leistungsträger wegen § 5 Abs 3 SGB II den Antrag stellen sowie Rechtsbehelfe und Rechtsmittel einlegen. Unbillig ist nach § 4 Satz 1 UnbilligkeitsVO die Inanspruchnahme, solange Hilfebedürftige sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind oder aus sonstiger Erwerbstätigkeit ein entsprechend hohes Einkommen erzielen. Dies gilt nach Satz 2 der Vorschrift nur, wenn die Beschäftigung oder sonstige Erwerbstätigkeit den überwiegenden Teil der Arbeitskraft in Anspruch nimmt.

Die Erfüllung der Unbilligkeitstatbestände nach § 4 UnbilligkeitsVO schließt eine ermessengerechte Aufforderung zur Rentenantragstellung aus. Auf die Höhe des Einkommens kommt es nach dieser Regelung nicht an, sofern die Beschäftigung sozialversicherungspflichtig ist und sie den überwiegenden Teil der Arbeitskraft in Anspruch nimmt. Eine Beschäftigung von 21 Wochenstunden wie im Falle der Antragstellerin nimmt den überwiegenden Teil der Arbeitskraft in Anspruch. Ein Bundesfreiwilligendienst gegen ein Taschengeld von 200 EUR monatlich ist sozialversicherungspflichtig. Die Sozialversicherungspflicht des Bundesfreiwilligen-dienstes ergibt sich, weil es sich um eine (abhängige) Beschäftigung im Sinne von § 7 Abs 1 SGB IV handelt, aus §§ 24 Abs 1 SGB III, 5 Abs 1 Satz 1 Nr SGB V, 1 Satz 1 Nr 1 SGB VI und 20 Abs 1 Satz 1 SGB XI. Ein Ausschluss der danach dem Grunde nach bestehenden Versicherungspflicht wegen Geringfügigkeit des Entgelts findet entgegen der Annahme des Sozialgerichts in keinem Bereich der Sozialversicherung statt. Dies folgt aus § 27 Abs 2 Satz 2 Nr 1 SGB III für die Arbeitsförderung, weshalb die Tätigkeit eine Anwartschaft für einen Anspruch auf Arbeitslosengeld zu begründen vermag, aus § 7 Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB V für die gesetzliche Krankenversicherung, aus § 5 Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB VI für die gesetzliche Rentenversicherung, weil nach dieser Vorschrift gerade nicht auf § 8 Abs 1 Nr 1 SGB IV, sondern nur auf Nr 2 verwiesen wird, und für die Pflegeversicherung aus der Krankenversicherungspflicht.

Soweit sich aus der dem Senat vorliegenden Prozessakte kein Beweis für die tatsächliche Ausübung eines Bundesfreiwilligen-dienstes ergibt, bestehen hinreichende Erfolgsaussichten, weil insofern entsprechende Amtsermittlungen vom Sozialgericht zu unternehmen sein dürften, sofern es nicht ohnehin, wie es im angefochtenen Beschluss dargestellt wird, vom Tatsachenvortrag der Antragstellerin und Beklagten überzeugt sein sollte. Angesichts des Vortrags der Beteiligten kann schwerlich angenommen werden, die Beweiserhebung hätte nur entfernte Erfolgschancen.

Sofern das Sozialgericht der (bislang unbegründeten) Auffassung sein sollte, § 4 UnbilligkeitsVO sei dahingehend auszulegen, dass sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nur solche Beschäftigungen meine, für die auch der Versicherte Beiträge zu tragen/zu zahlen habe, kann die Gegenauffassung nicht als unvertretbar angesehen werden und zum Wegfall der Erfolgsaussichten im Sinne des Prozesskostenhilferechtes führen. Nach der Gesetzeskonstruktion und nach bislang herrschender Meinung tritt die Sozialversicherungspflicht kraft Gesetzes ein und ist unabhängig von einer tatsächlichen Beitragszahlung oder der Pflicht zur Tragung der Beiträge (z.B. Brand in Brand: SGB III, 7. Auflage 2015, § 24 RdNr 6; Peters in Kasseler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 92. EL Dezember 2016, § 5 SGB V, RdNr 212; von Koch in BOK Sozialrecht, Rolfs/Giesen/Kreikebohm/ Udsching, 43. Edition, Stand: 01.12.2016, § 1 SGB VI, RdNr 3). Warum in § 4 UnbilligkeitsVO ein anderer Begriff der Sozialversicherungspflicht verwendet worden sein sollte, erschließt sich dem Senat nicht. Jedenfalls konnte die Gegenauffassung zu der der Kammer nicht als unvertretbar bewertet werden. Auf die Sicht der Kammer kommt es im Rahmen der Beurteilung der Erfolgsaussichten als Anspruchsvoraussetzung von Prozesskostenhilfe zulasten der Prozesskostenhilfe beantragenden Prozessbeteiligten gerade nicht an, wenn die das Prozessziel tragende Auffassung als vertretbar angesehen werden muss.

Soweit bislang höchstrichterlich ungeklärt erscheint, ob die Aufforderung zur Rentenantragstellung ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung ist oder nicht und wie im Hinblick darauf mit einer Änderung der Verhältnisse nach Erlass des Aufforderungsbescheides umzugehen ist, kann wegen der grundsätzlichen Bedeutung und nicht einfach zu beantwortenden Frage hinreichende Erfolgsaussicht nicht verneint werden. Im Falle der Antragstellerin begann der Bundesfreiwilligendienst nach dem Vortrag der Beteiligten nach Erlass des Bescheides, aber noch vor Erteilung des Widerspruchsbescheides, auf den es hinsichtlich des Zeitpunktes bei einer Ermessensentscheidung ohne Dauerwirkung ankommen könnte. Die gesetzliche Änderung der UnbilligkeitsVO im Hinblick auf die zu erwartende Rentenhöhe (neuer § 6 UnbilligkeitsVO) trat zum 1. Januar 2017 in Kraft und könnte für die Zeit nach Abschluss des Bundesfreiwilligendienstes – wie auch ein Bezug von Arbeitslosengeld – von Bedeutung geworden sein.

Die Antragstellerin ist zur Prozessführung nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen nicht in der Lage. Prozesskostenhilfe war ab dem Zeitpunkt der Vorlage der Unterlagen über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu gewähren. Anwaltlicher Beistand ist angesichts der angedeuteten besonderen rechtlichen Schwierigkeit des Rechtsstreites geboten.

Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet (§ 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG i. V. m. § 127 Abs. 4 ZPO).

Dieser Beschluss kann nicht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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