Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
4
1. Instanz
SG Gießen (HES)
Aktenzeichen
S 18 SO 34/18 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 4 SO 83/18 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. Zum Verhältnis des Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, gerichtet auf Auszahlung der Leistungen aus einer Leistungsbewilligung, zum Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen den Aufhebungsbescheid.
2. § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII in der seit 1. Juli 2017 geltenden Fassung ist dahingehend auszulegen, dass bei Personen, die den Eingangs- bzw. Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen durchlaufen, eine volle Erwerbsminderung auf Dauer zumindest widerleglich unterstellt wird.
2. § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII in der seit 1. Juli 2017 geltenden Fassung ist dahingehend auszulegen, dass bei Personen, die den Eingangs- bzw. Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen durchlaufen, eine volle Erwerbsminderung auf Dauer zumindest widerleglich unterstellt wird.
Auf die Beschwerde des Antragsgegners gegen den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 30. April 2018 wird der Ausspruch zur Sache wie folgt gefasst:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig ab 16. April 2018 bis 30. April 2018 Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII in Höhe von 594, 26 EUR zu zahlen. Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Beschwerde zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten um die Leistungsberechtigung des Antragstellers im Sozialgesetzbuch XII. Buch – Sozialhilfe – (SGB XII) bereits aufgrund des Durchlaufens des Eingangs- und Berufsbildungsbereichs einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM).
Der 1997 geborene Antragsteller ist schwerbehindert. Ausweislich des Schwerbehindertenausweises wurde ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen G, AG, H und RF festgestellt. Er leidet an einem inoperablen Hirntumor, einer Visusminderung und einer Halbseitenlähmung links; es besteht ein zerebrales Anfallsleiden. Der Antragsgegner bewilligte mit Bescheid vom 29. Januar 2018 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. Februar 2018 bis 30. April 2018.
Bereits zum 1. Mai 2016 war er in den Berufsbildungsbereich der WfbM D. e.V. in D Stadt aufgenommen worden.
Nach dem der Antragsgegner ein Rundschreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 3. Juli 2017 erhalten hatte, hob er mit Bescheid vom 19. Februar 2018 die Bewilligung für die Zeit ab 1. März 2018 auf. Im Berufsbildungsbereich der WfbM liege keine dauerhafte volle Erwerbsminderung vor. Es bestehe dem Grunde nach ein Anspruch auf Sozialgeld nach dem SGB II. Voraussetzung für die Prüfung sei, dass ein Antrag beim Jobcenter gestellt werde.
Der Antragsteller legte hiergegen am 23. Februar 2018 Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 20. April 2018 zurückgewiesen wurde.
Bereits am 13. April 2018 hat der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Zur Begründung hat er sich u.a. auf die Auslegung des § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII durch das Sozialgericht Augsburg im Urteil vom 16. Februar 2018 – S 8 SO 143/17 – berufen. Mit Beschluss vom 30. April 2018 hat das Sozialgericht Gießen den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig ab 16. April 2018 längstens bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Leistungszeitraum 1. Februar 2018 bis 31. Januar 2019 Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII in Höhe von 594, 26 EUR zu zahlen.
Die hiergegen gerichtete Beschwerde, die der Antragsgegner auf die Auslegung von § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB X durch das BMAS im o.g. Rundschreiben stützt, ist am 9. Mai 2018 bei dem Hessischen Landessozialgericht eingegangen.
Der Kläger erhob am 3. Mai 2018 Klage gegen den Bescheid vom 19. Februar 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2018 (Az.: S 18 SO 41/18). Am 17. Mai 2018 wurde der Antragsteller in den Arbeitsbereich der WfbM aufgenommen. Der Antragsgegner gewährte daraufhin mit Bescheid vom 12. Juni 2018 Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII ab 1. Mai 2018.
II.
Die Beschwerde des Antragsgegners, mit der er sinngemäß beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 30. April 2018 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen,
ist zulässig.
Sie ist statthaft, da zum maßgeblichen Zeitpunkt der Erhebung der Beschwerde noch nicht feststand, wann der Antragsteller in den Arbeitsbereich der WfbM wechselt. Die Hauptsacheerledigung ab Mai 2018 durch Erlass des Bescheids vom 12. Juni 2018 lässt die Statthaftigkeit der Beschwerde nicht nachträglich entfallen (vgl. Breitkreuz/Schreiber, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. 2014, § 144, Rn. 10, m.w.N.).
Die Beschwerde ist aber im Ergebnis weitgehend unbegründet.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig. Widerspruch und Anfechtungsklage gegen den Aufhebungsbescheid auf der Grundlage von § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X), der die Leistungsbewilligung bis 30. April 2018 als Dauerverwaltungsakt aufhebt, haben nach allgemeinen Regeln (§ 86a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG) aufschiebende Wirkung. Eine Anordnung der sofortigen Vollziehung ist nicht erfolgt. Jedenfalls dann, wenn das Rechtsschutzbegehren in der Leistungsauszahlung besteht und die Behörde rechtsirrig von der aufschiebenden Wirkung ausgeht, ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Auszahlung statthaft. Ein Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG als Minus zur Anordnung oder in analoger Anwendung ist jedenfalls in dieser Konstellation nicht nach § 86b Abs. 1 Satz 1 1. Hs. SGG vorrangig, weil § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG dieses Rechtsschutzbegehren nicht vollständig erfasst und in diesem Fall – wenn man von einer Analogie ausgeht – auch keine Regelungslücke besteht. Es besteht auch ein Rechtsschutzbedürfnis, da nicht erkennbar ist, dass der Antragsgegner die Leistungen entsprechend der aufschiebenden Wirkung weiter gewährt hat; zudem wendet er sich nach wie vor gegen eine Leistungspflicht für den Zeitraum vom 1. März 2018 bis 30. April 2018.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist für den Zeitraum bis einschließlich 30. April 2018 offensichtlich begründet. Der Anordnungsanspruch folgt bereits aus dem Verfügungssatz des Bescheides vom 29. Januar 2018. Der Anordnungsgrund beruht auf dem Umstand, dass der Antragsteller für den Zeitraum vollständig ohne existenzsichernde Leistungen wäre, was mit dem Gewicht von Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren wäre.
Für den nachfolgenden Zeitraum hat sich die Hauptsache erledigt, da der Antragsgegner mit Bescheid vom 12. Juni 2018 lückenlos für den Zeitraum ab 1. Mai 2018 Leistungen bewilligt hat. Da maßgeblicher Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage der der Beschwerdeentscheidung ist, war der Tenor entsprechend anzupassen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller auch die außergerichtlichen Kosten der Beschwerde insgesamt zu erstatten, da vor Hauptsacheerledigung die Beschwerde auch ohne Erlass des Bescheides vom 12. Juni 2018 unbegründet gewesen wäre. Die Ablehnung weiterer Leistungen beruht auf einer unrichtigen Auslegung von § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII in der seit 1. Juli 2017 geltenden Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 22. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3159).
Hiernach ersucht der jeweils für die Ausführung des Gesetzes nach diesem Kapitel zuständige Träger den nach § 109a Absatz 2 des Sechsten Buches zuständigen Träger der Rentenversicherung, die medizinischen Voraussetzungen des § 41 Absatz 3 zu prüfen, wenn es auf Grund der Angaben und Nachweise des Leistungsberechtigten als wahrscheinlich erscheint, dass diese erfüllt sind und das zu berücksichtigende Einkommen und Vermögen nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt vollständig zu decken (§ 45 Satz 1 SGB XII). Ein Ersuchen nach Satz 1 erfolgt nicht, wenn ( ) 3. Personen in einer Werkstatt für behinderte Menschen den Eingangs- und Berufsbildungsbereich durchlaufen oder im Arbeitsbereich beschäftigt sind (§ 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII).
Diese Vorschrift ist dahingehend auszulegen, dass bei Personen, die den Eingangs- bzw. Berufsbildungsbereich einer WfbM durchlaufen, eine volle Erwerbsminderung auf Dauer zumindest widerleglich unterstellt wird. Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug auf die angefochtene Entscheidung und das weitgehend mit ihr übereinstimmende Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 16. Februar 2018 – S 8 SO 143/17 –, juris.
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass für die Rechtsansicht des Antragsgegners und des BMAS im Rundschreiben 2017/3 vom 3. Juli 2017 allein der Umstand spricht, dass es anders als in den übrigen Fällen des § 45 Satz 3 SGB XII an einer Anknüpfung an anderweitige Feststellungen oder Einschätzungen fehlt, aus der auf die volle Erwerbsminderung auf Dauer geschlossen werden könnte. Die Rechtsfolge einer Fiktion ist insoweit auch nicht ausdrücklich geregelt.
Die systematische Stellung der Vorschrift macht aber deutlich, dass aus dem Normbefehl, dass ein Feststellungsersuchen nicht erfolgt, geschlossen werden muss, dass die Feststellung unterstellt wird (wie hier auch SG Augsburg a.a.O.; Kirchhoff, in: Hauck/Noftz, SGB XII, Stand: 10/17, § 45 Rn. 36; Schoch, in: Bieritz-Harder/Conradis/Thie (Hrsg.), LPK-SGB XII, 11. Aufl. 2018, § 45 Rn. 32). § 45 Satz 3 SGB XII regelt nämlich im Übrigen ausnahmslos Fälle, in denen von einer vollen Erwerbsminderung auf Dauer auszugehen ist, ohne dass eine gutachterliche Feststellung nach Satz 1 erfolgt. Dies legt den Schluss nahe, dass für jeden durchlaufenen Bereich oder jede Beschäftigung im Arbeitsbereich einer WfbM die Voraussetzungen des § 41 Abs. 3 SGB XII gelockert werden sollten (so auch SG Augsburg, a.a.O. Rn. 24; Kirchhoff, in: Hauck/Noftz, SGB XII, Stand: 10/17, § 45 Rn. 36). Dies gilt sowohl hinsichtlich des Merkmals der vollen Erwerbsminderung, das nicht bereits aufgrund des Werkstättenbesuchs rentenrechtlich fingiert wird (BSG, Urteil vom 23. Februar 2000 B 5 RJ 8/99 R –, juris Rn. 18; a.A. offenbar nunmehr BMAS, Schreiben vom 21. November 2017 – Vb1- 50232, S. 7f. – Bl. 56 f. d.A.), als auch hinsichtlich ihrer Dauerhaftigkeit (Schoch, in: Bieritz-Harder/Conradis/Thie (Hrsg.), LPK-SGB XII, 11. Aufl. 2018, § 45 Rn. 32). Die Vorschrift ist zudem im Kontext mit § 44a Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) zu lesen, der ebenso wie § 45 SGB XII Nahtlosigkeit zwischen den Systemen sicherstellen soll (so auch BSG Urteil vom 7. November 2006 - B 7b AS 10/06 R -; Hessisches LSG, Beschluss vom 19. Juni 2012 – L 6 AS 148/12 – unveröffentlicht). Die durch § 45 Satz 3 SGB XII intendierte Verwaltungsvereinfachung in diesem Bereich würde konterkariert, wenn der Antragsteller auf Sozialgeld verwiesen wird und dann das Jobcenter über § 44a SGB II die Erwerbsminderung feststellt und nach Widerspruch des Sozialhilfeträgers die gutachterliche Stellungnahme des Trägers der Rentenversicherung einholt, die nach § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII gerade nicht eingeholt werden darf. Würde der Auslegung des BMAS und des Antragsgegners gefolgt, könnten jenseits des Weges über § 44a SGB II die Voraussetzungen für den Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel allein durch ein Sozialgericht festgestellt werden, denn dem Sozialhilfeträger wäre die Amtsermittlung verboten, er könnte nach jener Rechtsauffassung aber auch nicht von einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung ausgehen.
Auch die Gesetzgebungsgeschichte enthält Indizien für die Auslegung als Fiktion oder Unterstellung einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung. In der Anhörung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales vertraten der Deutsche Caritasverband, der Deutsche Landkreistag und der Deutsche Städtetag die Auslegung als Fiktion der dauerhaften vollen Erwerbsminderung (Ausschussdrucksache 18(11)849 vom 25. November 2016, S. 36 und 79). Sie begrüßten die Regelung als solche; Deutscher Landkreistag und Deutscher Städtetag regten allerdings eine Klarstellung an, dass die Fiktion auch Leistungen nach dem Vierten und nicht nach dem Dritten Kapitel des SGB XII auslöst. Weder ist in der Beschlussempfehlung eine solche Klarstellung erfolgt noch wurde der Entwurf sonst geändert (vgl. BT-Drs. 18/10519). Hätten die Berichterstatter im Ausschuss für Arbeit und Soziales die Auslegung der drei Verbände nicht geteilt, so wäre bei einem dann bestehenden, sehr weitreichenden Missverständnis gleich dreier großer Verbände eine Klarstellung im Sinne der Rechtsansicht des BMAS zumindest in der Begründung der Beschlussempfehlung zu erwarten gewesen. Dies ist unterblieben.
Sinn und Zweck sprechen ebenfalls für diese Auslegung. Bereits die Vorläuferregelung zielte darauf, eine aufwändige Prüfung der Erwerbsfähigkeit für Menschen zu vermeiden, die in einer WfbM beschäftigt sind, und den Grundsicherungsträger und den Träger der Rentenversicherung entsprechend entlasten; dabei wurde die Vorgängerregelung nicht als Fiktion ausgelegt (vgl. BSG, Urteil vom 23. März 2010 - B 8 SO 17/09 R –, juris Rn. 16); dafür bestand bei der alten Fassung auch kein Anlass, da im Rahmen der Amtsermittlung an eine Stellungnahme des Fachausschusses einer WfbM angeknüpft werden konnte (vgl. jetzt auch § 45 Satz 3 Nr. 4 SGB XII). Die Neuregelung der Nr. 3, die auf diese Bezugnahme verzichtet, lockert mithin noch einmal die Anforderungen an die Amtsermittlung.
Mit dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Zweck, stets – d.h. zu jeder Zeit – den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers zu decken (BVerfGE 125, 175 (224); 132, 134 (160 Rn. 65) m.w.N.) wäre es schließlich unvereinbar, wenn allein aufgrund unterlassener Amtsermittlung ohne Fiktionswirkung keine Leistungen gewährt werden könnten oder aber negative Kompetenzkonflikte entstünden, die dazu führten, dass Menschen mit Erwerbsminderung über Wochen oder Monate ohne existenzsichernde Leistung blieben.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig ab 16. April 2018 bis 30. April 2018 Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII in Höhe von 594, 26 EUR zu zahlen. Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat dem Antragsteller die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Beschwerde zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten um die Leistungsberechtigung des Antragstellers im Sozialgesetzbuch XII. Buch – Sozialhilfe – (SGB XII) bereits aufgrund des Durchlaufens des Eingangs- und Berufsbildungsbereichs einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM).
Der 1997 geborene Antragsteller ist schwerbehindert. Ausweislich des Schwerbehindertenausweises wurde ein Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen G, AG, H und RF festgestellt. Er leidet an einem inoperablen Hirntumor, einer Visusminderung und einer Halbseitenlähmung links; es besteht ein zerebrales Anfallsleiden. Der Antragsgegner bewilligte mit Bescheid vom 29. Januar 2018 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für die Zeit vom 1. Februar 2018 bis 30. April 2018.
Bereits zum 1. Mai 2016 war er in den Berufsbildungsbereich der WfbM D. e.V. in D Stadt aufgenommen worden.
Nach dem der Antragsgegner ein Rundschreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 3. Juli 2017 erhalten hatte, hob er mit Bescheid vom 19. Februar 2018 die Bewilligung für die Zeit ab 1. März 2018 auf. Im Berufsbildungsbereich der WfbM liege keine dauerhafte volle Erwerbsminderung vor. Es bestehe dem Grunde nach ein Anspruch auf Sozialgeld nach dem SGB II. Voraussetzung für die Prüfung sei, dass ein Antrag beim Jobcenter gestellt werde.
Der Antragsteller legte hiergegen am 23. Februar 2018 Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 20. April 2018 zurückgewiesen wurde.
Bereits am 13. April 2018 hat der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Zur Begründung hat er sich u.a. auf die Auslegung des § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII durch das Sozialgericht Augsburg im Urteil vom 16. Februar 2018 – S 8 SO 143/17 – berufen. Mit Beschluss vom 30. April 2018 hat das Sozialgericht Gießen den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig ab 16. April 2018 längstens bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung über den Leistungszeitraum 1. Februar 2018 bis 31. Januar 2019 Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII in Höhe von 594, 26 EUR zu zahlen.
Die hiergegen gerichtete Beschwerde, die der Antragsgegner auf die Auslegung von § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB X durch das BMAS im o.g. Rundschreiben stützt, ist am 9. Mai 2018 bei dem Hessischen Landessozialgericht eingegangen.
Der Kläger erhob am 3. Mai 2018 Klage gegen den Bescheid vom 19. Februar 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2018 (Az.: S 18 SO 41/18). Am 17. Mai 2018 wurde der Antragsteller in den Arbeitsbereich der WfbM aufgenommen. Der Antragsgegner gewährte daraufhin mit Bescheid vom 12. Juni 2018 Leistungen nach dem Vierten Kapitel des SGB XII ab 1. Mai 2018.
II.
Die Beschwerde des Antragsgegners, mit der er sinngemäß beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts Gießen vom 30. April 2018 aufzuheben und den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen,
ist zulässig.
Sie ist statthaft, da zum maßgeblichen Zeitpunkt der Erhebung der Beschwerde noch nicht feststand, wann der Antragsteller in den Arbeitsbereich der WfbM wechselt. Die Hauptsacheerledigung ab Mai 2018 durch Erlass des Bescheids vom 12. Juni 2018 lässt die Statthaftigkeit der Beschwerde nicht nachträglich entfallen (vgl. Breitkreuz/Schreiber, in: Breitkreuz/Fichte, SGG, 2. Aufl. 2014, § 144, Rn. 10, m.w.N.).
Die Beschwerde ist aber im Ergebnis weitgehend unbegründet.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig. Widerspruch und Anfechtungsklage gegen den Aufhebungsbescheid auf der Grundlage von § 48 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz – (SGB X), der die Leistungsbewilligung bis 30. April 2018 als Dauerverwaltungsakt aufhebt, haben nach allgemeinen Regeln (§ 86a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG) aufschiebende Wirkung. Eine Anordnung der sofortigen Vollziehung ist nicht erfolgt. Jedenfalls dann, wenn das Rechtsschutzbegehren in der Leistungsauszahlung besteht und die Behörde rechtsirrig von der aufschiebenden Wirkung ausgeht, ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Auszahlung statthaft. Ein Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG als Minus zur Anordnung oder in analoger Anwendung ist jedenfalls in dieser Konstellation nicht nach § 86b Abs. 1 Satz 1 1. Hs. SGG vorrangig, weil § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG dieses Rechtsschutzbegehren nicht vollständig erfasst und in diesem Fall – wenn man von einer Analogie ausgeht – auch keine Regelungslücke besteht. Es besteht auch ein Rechtsschutzbedürfnis, da nicht erkennbar ist, dass der Antragsgegner die Leistungen entsprechend der aufschiebenden Wirkung weiter gewährt hat; zudem wendet er sich nach wie vor gegen eine Leistungspflicht für den Zeitraum vom 1. März 2018 bis 30. April 2018.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist für den Zeitraum bis einschließlich 30. April 2018 offensichtlich begründet. Der Anordnungsanspruch folgt bereits aus dem Verfügungssatz des Bescheides vom 29. Januar 2018. Der Anordnungsgrund beruht auf dem Umstand, dass der Antragsteller für den Zeitraum vollständig ohne existenzsichernde Leistungen wäre, was mit dem Gewicht von Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren wäre.
Für den nachfolgenden Zeitraum hat sich die Hauptsache erledigt, da der Antragsgegner mit Bescheid vom 12. Juni 2018 lückenlos für den Zeitraum ab 1. Mai 2018 Leistungen bewilligt hat. Da maßgeblicher Zeitpunkt der Sach- und Rechtslage der der Beschwerdeentscheidung ist, war der Tenor entsprechend anzupassen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG in entsprechender Anwendung. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller auch die außergerichtlichen Kosten der Beschwerde insgesamt zu erstatten, da vor Hauptsacheerledigung die Beschwerde auch ohne Erlass des Bescheides vom 12. Juni 2018 unbegründet gewesen wäre. Die Ablehnung weiterer Leistungen beruht auf einer unrichtigen Auslegung von § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII in der seit 1. Juli 2017 geltenden Fassung des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen sowie zur Änderung des Zweiten und des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 22. Dezember 2016 (BGBl. I S. 3159).
Hiernach ersucht der jeweils für die Ausführung des Gesetzes nach diesem Kapitel zuständige Träger den nach § 109a Absatz 2 des Sechsten Buches zuständigen Träger der Rentenversicherung, die medizinischen Voraussetzungen des § 41 Absatz 3 zu prüfen, wenn es auf Grund der Angaben und Nachweise des Leistungsberechtigten als wahrscheinlich erscheint, dass diese erfüllt sind und das zu berücksichtigende Einkommen und Vermögen nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt vollständig zu decken (§ 45 Satz 1 SGB XII). Ein Ersuchen nach Satz 1 erfolgt nicht, wenn ( ) 3. Personen in einer Werkstatt für behinderte Menschen den Eingangs- und Berufsbildungsbereich durchlaufen oder im Arbeitsbereich beschäftigt sind (§ 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII).
Diese Vorschrift ist dahingehend auszulegen, dass bei Personen, die den Eingangs- bzw. Berufsbildungsbereich einer WfbM durchlaufen, eine volle Erwerbsminderung auf Dauer zumindest widerleglich unterstellt wird. Der Senat nimmt zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug auf die angefochtene Entscheidung und das weitgehend mit ihr übereinstimmende Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 16. Februar 2018 – S 8 SO 143/17 –, juris.
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass für die Rechtsansicht des Antragsgegners und des BMAS im Rundschreiben 2017/3 vom 3. Juli 2017 allein der Umstand spricht, dass es anders als in den übrigen Fällen des § 45 Satz 3 SGB XII an einer Anknüpfung an anderweitige Feststellungen oder Einschätzungen fehlt, aus der auf die volle Erwerbsminderung auf Dauer geschlossen werden könnte. Die Rechtsfolge einer Fiktion ist insoweit auch nicht ausdrücklich geregelt.
Die systematische Stellung der Vorschrift macht aber deutlich, dass aus dem Normbefehl, dass ein Feststellungsersuchen nicht erfolgt, geschlossen werden muss, dass die Feststellung unterstellt wird (wie hier auch SG Augsburg a.a.O.; Kirchhoff, in: Hauck/Noftz, SGB XII, Stand: 10/17, § 45 Rn. 36; Schoch, in: Bieritz-Harder/Conradis/Thie (Hrsg.), LPK-SGB XII, 11. Aufl. 2018, § 45 Rn. 32). § 45 Satz 3 SGB XII regelt nämlich im Übrigen ausnahmslos Fälle, in denen von einer vollen Erwerbsminderung auf Dauer auszugehen ist, ohne dass eine gutachterliche Feststellung nach Satz 1 erfolgt. Dies legt den Schluss nahe, dass für jeden durchlaufenen Bereich oder jede Beschäftigung im Arbeitsbereich einer WfbM die Voraussetzungen des § 41 Abs. 3 SGB XII gelockert werden sollten (so auch SG Augsburg, a.a.O. Rn. 24; Kirchhoff, in: Hauck/Noftz, SGB XII, Stand: 10/17, § 45 Rn. 36). Dies gilt sowohl hinsichtlich des Merkmals der vollen Erwerbsminderung, das nicht bereits aufgrund des Werkstättenbesuchs rentenrechtlich fingiert wird (BSG, Urteil vom 23. Februar 2000 B 5 RJ 8/99 R –, juris Rn. 18; a.A. offenbar nunmehr BMAS, Schreiben vom 21. November 2017 – Vb1- 50232, S. 7f. – Bl. 56 f. d.A.), als auch hinsichtlich ihrer Dauerhaftigkeit (Schoch, in: Bieritz-Harder/Conradis/Thie (Hrsg.), LPK-SGB XII, 11. Aufl. 2018, § 45 Rn. 32). Die Vorschrift ist zudem im Kontext mit § 44a Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende – (SGB II) zu lesen, der ebenso wie § 45 SGB XII Nahtlosigkeit zwischen den Systemen sicherstellen soll (so auch BSG Urteil vom 7. November 2006 - B 7b AS 10/06 R -; Hessisches LSG, Beschluss vom 19. Juni 2012 – L 6 AS 148/12 – unveröffentlicht). Die durch § 45 Satz 3 SGB XII intendierte Verwaltungsvereinfachung in diesem Bereich würde konterkariert, wenn der Antragsteller auf Sozialgeld verwiesen wird und dann das Jobcenter über § 44a SGB II die Erwerbsminderung feststellt und nach Widerspruch des Sozialhilfeträgers die gutachterliche Stellungnahme des Trägers der Rentenversicherung einholt, die nach § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII gerade nicht eingeholt werden darf. Würde der Auslegung des BMAS und des Antragsgegners gefolgt, könnten jenseits des Weges über § 44a SGB II die Voraussetzungen für den Anspruch auf Leistungen nach dem Vierten Kapitel allein durch ein Sozialgericht festgestellt werden, denn dem Sozialhilfeträger wäre die Amtsermittlung verboten, er könnte nach jener Rechtsauffassung aber auch nicht von einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung ausgehen.
Auch die Gesetzgebungsgeschichte enthält Indizien für die Auslegung als Fiktion oder Unterstellung einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung. In der Anhörung des Bundestagsausschusses für Arbeit und Soziales vertraten der Deutsche Caritasverband, der Deutsche Landkreistag und der Deutsche Städtetag die Auslegung als Fiktion der dauerhaften vollen Erwerbsminderung (Ausschussdrucksache 18(11)849 vom 25. November 2016, S. 36 und 79). Sie begrüßten die Regelung als solche; Deutscher Landkreistag und Deutscher Städtetag regten allerdings eine Klarstellung an, dass die Fiktion auch Leistungen nach dem Vierten und nicht nach dem Dritten Kapitel des SGB XII auslöst. Weder ist in der Beschlussempfehlung eine solche Klarstellung erfolgt noch wurde der Entwurf sonst geändert (vgl. BT-Drs. 18/10519). Hätten die Berichterstatter im Ausschuss für Arbeit und Soziales die Auslegung der drei Verbände nicht geteilt, so wäre bei einem dann bestehenden, sehr weitreichenden Missverständnis gleich dreier großer Verbände eine Klarstellung im Sinne der Rechtsansicht des BMAS zumindest in der Begründung der Beschlussempfehlung zu erwarten gewesen. Dies ist unterblieben.
Sinn und Zweck sprechen ebenfalls für diese Auslegung. Bereits die Vorläuferregelung zielte darauf, eine aufwändige Prüfung der Erwerbsfähigkeit für Menschen zu vermeiden, die in einer WfbM beschäftigt sind, und den Grundsicherungsträger und den Träger der Rentenversicherung entsprechend entlasten; dabei wurde die Vorgängerregelung nicht als Fiktion ausgelegt (vgl. BSG, Urteil vom 23. März 2010 - B 8 SO 17/09 R –, juris Rn. 16); dafür bestand bei der alten Fassung auch kein Anlass, da im Rahmen der Amtsermittlung an eine Stellungnahme des Fachausschusses einer WfbM angeknüpft werden konnte (vgl. jetzt auch § 45 Satz 3 Nr. 4 SGB XII). Die Neuregelung der Nr. 3, die auf diese Bezugnahme verzichtet, lockert mithin noch einmal die Anforderungen an die Amtsermittlung.
Mit dem verfassungsrechtlich vorgegebenen Zweck, stets – d.h. zu jeder Zeit – den gesamten existenznotwendigen Bedarf jedes individuellen Grundrechtsträgers zu decken (BVerfGE 125, 175 (224); 132, 134 (160 Rn. 65) m.w.N.) wäre es schließlich unvereinbar, wenn allein aufgrund unterlassener Amtsermittlung ohne Fiktionswirkung keine Leistungen gewährt werden könnten oder aber negative Kompetenzkonflikte entstünden, die dazu führten, dass Menschen mit Erwerbsminderung über Wochen oder Monate ohne existenzsichernde Leistung blieben.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
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