L 14 RJ 392/01

Berufskundekategorie
Stellungnahme
Land
Freistaat Bayern
Aktenzeichen
L 14 RJ 392/01
Auskunftgeber
Landesarbeitsamt Bayern, Nürnberg
Anfrage
Die 1965 geborene taube Klägerin hat den Beruf der Buchbinderin von 1983 – 1986 erlernt und war von 1988 bis 1994 als Buchbinderhelferin beschäftigt.

Nach dem orthopädischen Gutachten von Dr. ^Fischer^ vom 18.11.2002 stellt sich das Leistungsvermögen wie folgt dar:
- acht Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
- ohne schwere Arbeiten
- ohne überwiegendes Gehen und Stehen
- ohne Heben und Tragen schwerer Lasten sowie häufiges Bücken, Treppensteigen, Arbeiten auf Leitern und Gerüsten

Dr. ^Hörmann^ beschreibt in seinem nervenärztlichen Gutachten vom 07.08.2002 die Leistungsfähigkeit wie folgt:
- acht Stunden täglich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
- ohne mittelschwere und schwere Arbeiten
- ohne Arbeiten überwiegend in einer Körperposition
- ohne Arbeiten im Freien
- unter Vermeidung von
- Heben und Tragen von Lasten
- häufiges Bücken
- häufiges Treppensteigen
- Arbeiten auf Leitern und Gerüsten
- an Maschinen
- am Fließband
- im Akkord und in der Schicht
- zeittaktgebundene Arbeiten
- Zwangshaltungen
- Überkopfarbeiten
Auskunft
Berufskundliche Stellungnahme

Ihrer Anfrage zufolge soll nach berufskundlichen Aspekten allein die Zeit ab 01.01.2002 insbesondere hinsichtlich ungelernter Tätigkeiten wie als Verpackerin leichter Gegenstände, als Sortiererin, für Kontrollarbeiten und für ungelernte oder gelernte Tätigkeiten im Buchbindergewerbe (Industrie und Handwerk) beurteilt werden. Die Beklagte beruft sich auf eine Sachverständigenaussage vom 08.11.2000 beim Landessozialgericht Niedersachsen, dass die Verpackung von Kleinteilen möglich sei. Im Prozess genannt wurden ferner Verpacken von Kleinteilen in der Elektroindustrie, in der Metallindustrie (z.B. Nägel und Schrauben), im sanitären Bereich (z.B. Badezimmerartikel) und im „medizinisch-pharmazeutischen“ Bereich (Medikamente, Zahnfüllstoffe, chirurgische Nägel, Nahtmaterial).

Ungelernte Tätigkeiten wie Verpackerin leichter Gegenstände, Sortiererin und Kontrolleurin Weil Frauen häufig über besseres Feinhandgeschick bei höherer Arbeitsgeschwindigkeit verfügen, werden mit diesen Arbeiten, insbesondere wenn sie körperlich leicht sich, bevorzugt Frauen beschäftigt. Üblicherweise werden diese Arbeiten jedoch in einseitiger Körperhaltung – entweder Sitzen oder Stehen – verrichtet. Der Wechsel der Körperhaltung fällt in der Regel nur an beim Ab- und Antransport der zu verpackenden, zu sortierenden oder kontrollierenden Waren. Heben und Tragen von nicht nur leichten Lasten kann dann durchaus erforderlich sein. In dem Auszug aus der Sitzungsniederschrift vom 08.11.2000 des Landessozialgerichtes Niedersachsen gibt der Sachverständige an, dass Verpacker an einem Packtisch sitzen und kleine Gebinde in vorgesehene Verpackungseinheiten verpacken. Außerdem würde es sich um eine sehr leichte Tätigkeit handeln, die auch einen selbstbestimmbaren Wechsel zwischen Stehen, Gehen und Sitzen zulässt und bei der auch die Höreinschränkung berücksichtigt werden kann. Der Sachverständige beschreibt, dass die Verpackungstätigkeit im Sitzen ausgeführt wird. Der Wechsel der Körperhaltung ist aus meiner berufskundlichen Sicht nur möglich - wie bereits oben angegeben - beim Ab.- bzw. Antransport der zu verpackenden, zu sortierenden oder zu kontrollierenden Artikel, d.h. die Arbeitnehmerin hat den Wechsel der Körperhaltung vorzunehmen, wenn es für ihre zu erledigende Arbeit erforderlich ist und nicht dann wenn es aufgrund ihres gesundheitlichen Leistungsbildes notwendig wäre. Auch Dr. ^Hörmann^ gibt in seinem Gutachten an, dass bei der Tätigkeit als Verpackerin von Kleinteilen, bei der die Klägerin tatsächlich einen selbst bestimmbarer Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen vornehmen kann, aus seiner Kenntnis er sich lediglich Tätigkeiten in Behinderteneinrichtungen in Bezirkskrankenhäusern oder entsprechenden Werkstätten vorstellen kann. Aus berufskundlicher Sicht ist vorstellbar, dass bei einer langjährig beschäftigten leistungsgeminderten Mitarbeiterin solche Zugeständnisse, wie selbst bestimmbarer Wechsel zwischen Gehen, Stehen und Sitzen erfolgen. Eine neue Mitarbeiterin wird mit diesem Erfordernis sicherlich nicht eingestellt.

Insgesamt unterliegen Verpackungs-, Sortier- und Kontrolltätigkeiten auf der ungelernten bzw. kurzfristig angelernten Ebene in der Regel einem vorbestimmten Arbeitsrhythmus. Wenn diese Arbeiten nicht im Akkord zu erledigen sind, dann bestimmt die Maschine bzw. das Fließband die Geschwindigkeit der zu erledigenden Arbeiten oder es sind Mindeststückzahlen vorgesehen. Die Niederschrift des Landessozialgerichtes Niedersachsen enthält keine Aussage des Sachverständigen hinsichtlich Arbeitsgeschwindigkeit bzw. Schichtarbeit. Während sicherlich noch Arbeitsplätze existent sind, die nicht in Schichtarbeit zu verrichten sind, dürften aus berufskundlicher Sicht – bis auf geringe Ausnahmen – keine Arbeitsplätze existieren, die nicht im Akkord- oder unter akkordähnlichen Bedingungen bzw. am Fließband zu verrichten sind. Nach dem nervenärztlichen Gutachten sind bei der Klägerin Tätigkeiten am Fließband, im Akkord und in der Schicht sowie zeittaktgebundene Arbeiten zu vermeiden. Insgesamt entspricht aus berufskundlicher Sicht das Leistungsvermögen der Klägerin auch für diese ungelernten Tätigkeiten nicht den üblichen Anforderungen.

Ungelernte oder gelernte Tätigkeiten im Buchbindergewerbe (Industrie und Handwerk) Buchbinderhelferinnen sind in der Weiterverarbeitung von Druckerzeugnissen in Buchbindereien, Druckereien, grafischen Werkstätten tätig oder auch in Serviceunternehmen, die für Kunden Direct-Mailing-Aktionen übernehmen. Dabei bedienen Buchbinderhelferinnen Maschinen, die das Material schneiden, falzen, kleben oder auch kuvertieren und adressieren. Bereits gedruckte Seiten zum Beispiel für Kalender oder Prospekte legen sie in die jeweiligen Maschinen ein, stapeln die fertigen Produkte nach der maschinellen Bearbeitung auf Paletten, verpacken sie und machen sie versandfertig. Tätigkeiten in einer Buchbinderei sind überwiegend körperlich leicht, zeitweise mittelschwer, selten ist noch Heben, Tragen von schweren Papier- und Bücherstößen erforderlich und wird meist im Stehen und Gehen, zeitweise im Sitzen verrichtet. Zwangshaltungen wie Bücken und Arbeiten mit vornübergebeugtem Oberkörper treten selten auf. Belastung der Schleimhäute und/oder Atemwege durch Stäube (Papierstäube), Dämpfe, Gase, Lösungsmittel (aus Klebern, Farben) können nicht vermieden werden. Ebenso kommt es zu Hautbelastung besonders der Hände und Arme durch Kunstharze, Lösungs- und Reinigungsmittel, Färbemittel, Kunststoffe, Textilien, Leder. Akkordarbeit, Gruppenakkord ist häufig anzutreffen. Außerdem kommt es oft zu Zeitdruck, Termindruck. Teilweise Schichtarbeit (Zwei-, Dreischicht, Wechselschicht). Aus berufskundlicher Sicht dürfte es insgesamt keinen Arbeitsplatz sowohl auf der Ungelernten als auch der Gelernten Ebene in Buchbindereien existieren, auf dem alle gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin ständig und in vollem Umfang berücksichtigt werden können.

Allgemein ist noch anzumerken, dass die Entwicklung der Technik vor allem in der Serienfertigung sowie die immer stärkere Spezialisierung industrieller Betriebe auf bestimmte Produkte, Maschinenkombinationen (Fertigungsstraßen) vom einzelnen Buchbinder zunehmend Flexibilität und Fortbildungsbereitschaft erfordern. Die Klägerin hat den Beruf der Buchbinderin von 1983 bis 1986 erlernt und war anschließend in diesem Bereich nur als ungelernte Kraft tätig. Außerdem möchte ich darauf hin weisen, dass auch in der Einzel- und Sonderfertigung Arbeiten an Maschinen wie z.B. an Schneidemaschinen erforderlich ist.

Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es bei Betrachtung des Arbeitsmarktes des gesamten Bundesgebietes nicht doch eine nennenswerte Zahl von Arbeitsplätzen gibt, die grundsätzlich für die Klägerin in Betracht kämen. Auf Arbeitgeberseite sind dabei jedoch erfahrungsgemäß besondere Zugeständnisse (z.B. der Restleistungsfähigkeit angepasster Zuschnitt der Aufgaben, Verzicht auf Flexibilität oder Vielseitigkeit, Änderungen am Arbeitsplatz, Herabsetzung des Arbeitstempos bzw. des erwarteten Produktivitätsgrades) erforderlich. Entsprechende Arbeitsplätze sind Außenstehenden daher unter den üblichen Bedingungen des Arbeitslebens in der Regel nicht bzw. nicht direkt zugänglich, vielmehr handelt es sich nicht selten um vergönnungsweise Beschäftigung aufgrund sozialer Verpflichtungen oder die Arbeitsplätze wurden im Einzelfall durch besondere Vermittlungsbemühungen und Vermittlungshilfen, z.B. nicht selten erhebliche finanzielle Leistungen erschlossen. Eine uneingeschränkt zumutbare Verweisungstätigkeit ist aus berufskundlicher Sicht nicht erkennbar.
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