L 1 RA 90/03

Berufskundekategorie
Gutachten
Land
Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 1 RA 90/03
Auskunftgeber
Agentur für Arbeit, Diepholz
Anfrage
Die Klägerin hat von 1964 bis 1967 den Beruf einer Kauffrau im Einzelhandel erlernt. Nach Aktenlage hat sie jedoch seit 1968 als Bürokauffrau gearbeitet. Von 1986 bis 1998 war sie als Buchhalterin tätig.

Der Beruf der Kauffrau im Einzelhandel ist ein anerkannter Ausbildungsberuf nach dem Berufsbildungsgesetz. Er ist dem Berufsfeld Wirtschaft und Verwaltung, Schwerpunkt Absatzwirtschaft und Kundenberatung, zugeordnet. Der Monoberuf wird ohne Spezialisierung nach Fachrichtungen oder Schwerpunkten, jedoch in verschiedenen Fachbereichen in Handel und Handwerk ausgebildet. Die Ausbildung dauert regelmäßig drei Jahre und endet mit einer Kaufmannsgehilfenprüfung vor der Industrie- und Handelskammer. Der berufliche Werdegang der Klägerin zeigt eine in diesem Beruf charakteristische Spezialisierung nach der breit angelegten Ausbildung. Bei Kaufleuten im Einzelhandel drehen sich zunächst alle Aufgaben darum, Endverbrauchern immer das richtige und ausreichende Warenangebot bereitzustellen. Sie übernehmen aber auch betriebswirtschaftliche Aufgaben im Personal- und Rechnungswesen. Hier arbeiten sie an betriebswirtschaftliche Aufgaben, die in engem Zusammenhang mit dem Verkauf stehen (Warenwirtschaftssysteme). Dazu sammeln und verbuchen sie im Bereich Rechnungswesen zum Beispiel Belege, prüfen und bezahlen Rechnungen, kalkulieren Verkaufspreise, wickeln Reklamationen mit Lieferanten ab und führen die Inventur zu einem bestimmten Stichtag durch. Außerdem übernehmen sie im Bereich Personalwesen Arbeiten, die bei der Einstellung, Versetzung, Beförderung, bei Urlaub und Entlassung von Mitarbeitern zu erledigen sind. Hierbei rechnen sie zum Beispiel Löhne, Gehälter und Abgaben ab. In diesen Aufgabenbereichen ist heute der Personalcomputer das wichtigste Arbeitsmittel. Mit Hilfe von Tabellenkalkulations-, Finanzbuchhaltungs- und Kostenrechnungsprogrammen werden alle Vorgänge des betrieblichen Rechnungswesens erfasst und ausgewertet. Als Arbeitsunterlagen werden beispielsweise Inventurlisten, Lagerlisten, Betriebsabrechnungsbögen, Kassenbücher, Hauptabschluss- und Bilanzberichte verwendet. Für ihre Außenkontakte benutzen Einzelhandelkaufleute alle modernen Kommunikationsmittel wie Telefonanlagen, Telefax und E-Mail.

Insgesamt betrachtet handelt es sich dem Beruf um leichte, im Verkaufsbereich zeitweise auch mittelschwere bis schwere körperliche Arbeit (Hebearbeiten im Lager), im Verkauf überwiegend im Stehen und Gehen, im Büro überwiegend im Sitzen, z.T. mit Bücken, Hocken, Überkopfarbeit (Verkauf). Der Gebrauch von Leitern ist üblich. Die Arbeitsorte befinden sich in geschlossenen, temperierten, z.T. in klimatisierten Verkaufs- und Lagerräumen, häufig mit künstlichem Dauerlicht (in Kaufhäusern), in einigen Bereichen Zugluft, Nässe, Kälte, Temperaturschwankungen (Warenlager). Je nach Organisation und Größe des Betriebes gibt es Teamarbeit, auch Einzelarbeitsplätze mit Publikumsverkehr und dauerhafte Bildschirmtätigkeit in büroorientierten Bereichen. Ferner können eventuell Einflüsse durch Waren (z.B. Hautbelastung, Einwirkung von Schmutz und Chemikalien, Geruchsbelästigung) auftreten. Häufig anzutreffen sind Arbeiten unter Zeitdruck, Samstags- und Wochenendarbeit (auf Flughäfen, Bahnhöfen, in Kiosken oder auf Messen).

In der berufskundlichen Literatur werden unter Eignungsgesichtspunkten für diesen Beruf vor allem eine volle Funktionstüchtigkeit der Wirbelsäule, Arme, Hände und Beine, die Fähigkeit zu beidhändigem Arbeiten, Hand- und Fingergeschicklichkeit und normales, auch korrigiertes Sehvermögen genannt.

Bei der Klägerin liegen nach übereinstimmender Auffassung der eingeschalteten medizinischen Gutachter (Dr. - Bl. 86 BfA-Akte, Dr. - Bl. 121 ff. BfA-Akte, Dr. - Bl. 99 ff. Gerichtsakte, Dr. - Bl. 177 ff. Gerichtsakte) chronifizierte Funktionsstörungen der Wirbelsäule vor. Sie soll daher nur noch leichte Arbeiten in geschlossenen Räumen in wechselnder Körperhaltung ausführen und nicht Heben und Tragen. Gleichzeitig ist eine Arthrose der Fingergelenke unstrittig. Hierbei handelt es sich um eine nichtentzündliche Gelenkerkrankung. Diese Abnutzungserscheinungen sind dauerhaft und können nicht geheilt werden. Diese Krankheit schränkt die Gebrauchsfähigkeit der Finger gerade für den im Bürobereich wichtigen Umgang mit Computern ein, weil damit eine dauerhafte Belastung der Hände und Finger durch das Bedienen einer Tastatur einher geht.
Auskunft
Berufskundliches Gutachten

Vor diesem Hintergrund beantworte ich die Beweisfragen des Gerichts wie folgt:

1a. Die Klägerin kann mit den dargestellten gesundheitlichen Einschränkungen ihren bisherigen Beruf ausüben. Maßgebend für diese Beurteilung ist, dass die überwiegend ausgeübte Berufstätigkeit sich in dauerndem Sitzen und in Bildschirmarbeit vollzogen hat. Dauerndes Sitzen ist der Klägerin jedoch nach übereinstimmender Bekundung der medizinischen Gutachter nicht mehr zuzumuten. Darüber hinaus bedeutet eine dauerhafte Tätigkeit an einem Bildschirmarbeitsplatz, dass beim Bedienen der Tastatur und ggf. eines Tischrechners gehäuft Zwangshaltungen in Form von Armvorhaltungen und unnatürlichen Handhaltungen auftreten. Tätigkeiten dieser Art sind mit den dargestellten funktionellen Störungen der Wirbelsäule nicht mehr vereinbar. Darüber hinaus erfordert die beständige Arbeit am Computer eine uneingeschränkte Hand- und Fingerbeweglichkeit. Letztere ist durch die arthritische Erkrankung dauerhaft eingeschränkt, so dass solche Arbeitsplätze nicht mehr in Betracht kommen. Andere Ausübungsformen des Berufes der Einzelhandelskauffrau kommen ebenfalls nicht in Betracht, da sie im Gegensatz zu einer Bürotätigkeit körperlich noch höhere Anforderungen stellen, denen die Klägerin mit ihrem Leistungsvermögen nicht mehr gewachsen ist.

1b. Diese Beurteilung gilt für den Zeitraum seit März 2000.

2a. Die Überlegungen hinsichtlich beruflicher Alternativen für die Klägerin werden besonders durch die Fingerarthrosen erschwert. Dies hängt damit zusammen, dass in fast allen Büroberufen mittlerweile der Computer eine den Arbeitsalltag und die Arbeitsabläufe dominierende Stellung einnimmt. Solche Arbeiten können jedoch nicht dauerhaft verrichtet werden. Insofern scheiden Überlegungen im Rahmen einer horizontalen beruflichen Mobilität fast gänzlich aus. Die für Einzelhandelskaufleute gängigen Beschäftigungsalternativen in Großhandel, Außenhandel, Werbung, Verkaufsförderung, Lagerwirtschaft, Kaufmännischer Verwaltung, Bürowirtschaft, Immobilienwirtschaft, Touristik, Hotel- und Gaststättengewerbe kommen somit fast gänzlich nicht in Frage, weil sie durch die geschilderten Arbeitsbedingungen dominiert sind.

Denkbar sind aus gutachterlicher Sicht zwei Alternativen: I.Bürogehilfin II.Botin in Verwaltungen

Zu I. Bürogehilfinnen erledigen einfache Büroarbeiten. Dazu gehören Kleinere Schreibarbeiten Vervielfältigungsarbeiten Postein- und Ausgang erledigen, Post verteilen einfache Registraturarbeiten einfache Karteiführungsarbeiten

Es handelt sich um leichte körperliche Tätigkeiten in wechselnden Körperhaltungen zwischen Gehen, Stehen und Sitzen. Der Wechsel der Körperhaltungen kann weitgehend selbst bestimmt erfolgen. Heben und Tragen über 5 kg findet nicht statt. Längere Bildschirmarbeit ist ebenfalls ausgeschlossen. Zwangshaltungen wie Überkopfarbeit, Armvorhaltungen und andere belastende Körperhaltungen sind weitgehend ausgeschlossen. An die intellektuelle Leistungsfähigkeit werden höchstens durchschnittliche Anforderungen gestellt.

Die Klägerin kann diesen Beruf ausüben, weil sie über langjährige Berufspraxis in kaufmännischen Büros verfügt. Da die Tätigkeit überwiegend in Alleinarbeit verrichtet wird, bedarf es keiner besonderen Anforderungen an die Kommunikationsfähigkeit. Die Bearbeitungsvorgänge sind ihr von daher grundsätzlich bekannt und bedürfen höchstens einer kürzeren betrieblichen Einarbeitung von maximal 3 Monaten Dauer. In der Bundesrepublik sind derzeit rund 200.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in diesem Segment tätig. Der Beschäftigungsindex (1996 = 100) ist relativ stabil und beträgt im Jahr 2002 = 98. Bürogehilfinnen werden je nach Branchenzugehörigkeit vergütet. In der Metall- und Elektroindustrie werden sie nach Gehaltsgruppe 1 ("einfache Tätigkeiten mit wechselnden Anorderungen. Sie erfordern Kenntnisse, die in der Regel nach einer Einarbeitungszeit von 1 Monat erworben werden. Beispiele: Schreiben einfacher Texte, Bedienen von Schreibautomaten, Fernschreiber oder Telefone; Sortieren und Ablegen von Unterlagen, Tätigkeiten in der Poststelle; Locharbeiten, Erstellen von maschinell lesbaren Datenträger") mit ca. 1.600 EUR/Monat vergütet. In der Kunststoff verarbeitenden und chemischen Industrie werden ähnliche Anforderungen genannt ("Arbeitnehmer, die Tätigkeiten verrichten, die eine kurze Einweisung erfordern, z.B. Botengänge, Verteilen der Post, Fotokopieren, Aufnehmen von Daten, Sortieren von Unterlagen) und ein ähnliches Gehalt gezahlt.

Zu II. In vielen größeren Verwaltungen arbeiten Büroboten. Sie nehmen eingehende Post in Empfang, versehen sie mit Eingangsstempel und verteilen sie ebenso wie die interne Post. Ausgehende Post wird von ihnen frankiert. Bei Botengängen überbringen sie mündliche oder schriftliche Benachrichtigungen oder Schriftstücke, Akten, Briefe, Material sowie Waren aller Art an verschiedene Stellen im Hause. Daneben sind sie gelegentlich mit Aufgaben speziell im Eingangs- oder Schalterraum wie Besucherempfang, Auskunftserteilung oder Bedienen der Telefonanlage befasst sein. Beispielsweise werden auch Arbeiten wie Belege sortieren, Kopieren, Zeitungsartikel ausschneiden und aufkleben von Büroboten verrichtet. Die körperlichen und geistigen Beanspruchungen decken sich mit dem unter I. gesagten. Die Klägerin kann diese Aufgaben auch mit ihren bestehenden Leistungseinschränkungen verrichten.

Derzeit arbeiten in der Bundesrepublik ca. 38.000 Personen sozialversicherungspflichtig als Bote. Die Beschäftigungslage ist weitgehend stabil. Der Beschäftigungsindex (1996 = 100) ist auch im Jahr 2002 konstant bei 100 geblieben.

Die Vergütung richtet sich in der freien Wirtschaft nach den unter I. genannten Größen. Im öffentlichen Dienst werden Boten nach Vergütungsgruppe X BAT bezahlt. Dies entspricht für die Klägerin einem Bruttogehalt von ca. 1.650 EUR.

Diese Beurteilung gilt für die Zeit seit März 2000. Weitere adäquate Verweisungstätigkeiten sind mir nicht bekannt.
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