Wegen der Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes ist die Überschreitung des Gutachtenauftrags durch den Sachverständigen in der Sozialgerichtsbarkeit - anders als in der Zivilgerichtsbarkeit - in der Regel nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit des Gutachters zu begründen.
Das Gesuch der Klägerin, den Sachverständigen Dr. M wegen der Besorgnis der Befangenheit abzulehnen, wird zurückgewiesen.
Gründe
Nach § 118 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) i.V.m. § 406 Zivilprozessordnung (ZPO) kann ein Sachverständiger aus denselben Gründen abgelehnt werden, die zur Ablehnung eines Richters berechtigen. In entsprechender Anwendung des §§ 42 ZPO kann ein Sachverständiger danach wegen der Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen in seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, richtet sich nicht nach der subjektiven Sicht des ablehnenden, sondern danach, ob vom Standpunkt des Beteiligten aus auch bei vernünftiger Betrachtung objektiv die Besorgnis begründet ist, der Sachverständige werde sein Gutachten nicht unparteiisch erstellen. Dabei sind die Ablehnungsgründe glaubhaft zu machen (§ 44 ZPO, § 60 SGG).
Das Ablehnungsgesuch ist zulässig, da es noch in angemessener Frist (vgl. Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, Kommentar, 13. Auflage, § 118 Rn. 12 l), nämlich während der laufenden Frist zur Stellungnahme zum Gutachten, bei Gericht eingegangen ist. Angesichts des Umstandes, dass die behaupteten Gründe für die Annahme der Besorgnis der Befangenheit erst nach ausführlicher Auseinandersetzung der Klägerin mit dem Gutachten bekannt werden konnten, bedarf dies keiner weiteren Begründung.
Das Gesuch ist aber offensichtlich unbegründet, sodass es ohne Anhörung des Sachverständigen zurückzuweisen war (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, Kommentar, 13. Auflage, § 118 Rn. 12 m). Denn die behauptete Überschreitung des Gutachtenauftrages zulasten der Klägerin liegt nicht vor. Es bedarf keiner weiteren Begründung, dass das Gericht darüber zu befinden hat ob eine Überschreitung des Gutachtenauftrages vorliegt oder nicht. Einer Stellungnahme des Sachverständigen bedarf es dazu nicht.
Dabei kann der Senat vorliegend offenlassen, ob im Rahmen der in der Sozialgerichtsbarkeit geltenden Amtsermittlungspflicht eine behauptete Überschreitung des Beweisthemas wie in der Zivilgerichtsbarkeit grundsätzlich geeignet ist, die Besorgnis der Befangenheit zu begründen.
Soweit die Klägerin in ihrem Ablehnungsgesuch vom 3. März 2022 Rechtsprechung verschiedener Zivilgerichte zitiert, nach welcher die Überschreitung des Auftrags durch den Sachverständigen zu einer Besorgnis der Befangenheit führen kann, ist diese Rechtsprechung in der Sozialgerichtsbarkeit nicht ohne weiteres anwendbar. Nach der ZPO gelten in der Zivilgerichtsbarkeit andere Verfahrensgrundsätze als in der Sozialgerichtsbarkeit. Die ZPO ist vom Verhandlungsgrundsatz (Beibringungsgrundsatz) geprägt. Danach können nur die Parteien den Streitstoff in den Prozess einführen, über seine Feststellungsbedürftigkeit entscheiden und seine Feststellung betreiben. Das Gericht hat solche Kompetenzen in der Zivilgerichtsbarkeit nicht. Der Verhandlungsgrundsatz erklärt sich daraus, dass kein öffentliches Interesse daran besteht, die Wahrheit von Tatsachen zu ermitteln, die privatrechtlichen Rechtsbeziehungen zugrunde liegen, über die die Parteien die Verfügungsfreiheit besitzen (vergleiche z.B. Seiler in Thomas/Putzo, ZPO, Kommentar, 41. Auflage., 2020, Einleitung I Rn. 2 und 3). Daher hätte auch der erkennende Senat keine Bedenken daran, dass in einem Verfahren, in dem allein die Parteien den Streitstoff bestimmen, eine Überschreitung des Gutachtenauftrages in der einen oder anderen Hinsicht die Besorgnis der Befangenheit begründen kann, weil eben nur die Parteien entscheiden, über welchen Lebenssachverhalt gestritten wird.
Anders ist die Rechtslage in der Sozialgerichtsbarkeit als öffentlich-rechtlicher Gerichtsbarkeit. Hier besteht ein öffentliches Interesse an der Wahrheitsfindung und an einer aufgrund eines zutreffenden Sachverhalts getroffenen „ richtigen“ Entscheidung des Gerichts. Nur an der berechtigten Inanspruchnahme von Sozialversicherungsleistungen besteht ein öffentliches Interesse. Deshalb gilt in der Sozialgerichtsbarkeit der Amtsermittlungsgrundsatz und nicht der Beibringungsgrundsatz. Vor diesem Hintergrund hat das Gericht aber auch der Sachverständige alles zu tun, um den wahren Sachverhalt aufzuklären; an den von den Beteiligten vorgetragenen Streitstoff ist weder das Gericht noch in der Folge der Sachverständige gebunden. Deshalb begegnet es unter der Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes nicht denselben Bedenken wie in der Zivilgerichtsbarkeit, wenn der Sachverständige wegen der an erster Stelle stehenden Wahrheitsfindung auch zulasten des einen oder anderen Beteiligten das eigentliche Beweisthema aus sachlichen Gründen der Wahrheitsfindung überschreitet.
Damit kann entgegen der Auffassung der Klägerin die Überschreitung des Gutachtenauftrages i.S. eines weiten Verständnisses der Beweisfragen nicht schon grundsätzlich die Besorgnis der Befangenheit begründen (anders wohl Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, Kommentar, 13. Auflage, § 118 Rn 12j, allerdings nur mit Hinweis auf zivilrechtliche Rechtsprechung) . Etwas anderes mag dann gelten, wenn sich aus der Überschreitung der Beantwortung der Beweisfragen entnehmen lässt, dass der Gutachter nicht vorrangig die Aufklärung des den Beweisfragen zugrunde liegenden Sachverhalts bezweckt hat, sondern die Überschreitung des Beweisthemas aufgrund einer Voreingenommenheit gegenüber dem Beteiligten erfolgt ist (siehe dazu die Beispiele a.a.O., „grobe Verletzung der Privatsphäre“, „nur Angaben eines Beteiligten berücksichtigt“). Dafür bestehen vorliegend keine Anhaltspunkte.
Soweit die Klägerin vorträgt, der Gutachter hätte nicht ausführen dürfen, dass der Einwand ihres Bevollmächtigten, sie könne wegen Dunkelangst keine öffentlichen Verkehrsmittel nutzen (weder morgens und noch abends) das Rentenbegehren verstärke und diese Einschätzung konstruiert wirke, vermag der Senat hierin schon im Ansatz keine Überschreitung des Gutachtenauftrages zu erkennen. Wenn nach der Wegefähigkeit der Klägerin gefragt wird und der Einwand hiergegen eine Dunkelangst ist, hat der Sachverständige dazu Stellung zu nehmen, ob der Vortrag zutrifft. Selbstverständlich kommt es dann auch in Betracht, dass er dem Einwand nicht zu folgen vermag und ihn als Verstärkung eines Rentenbegehrens ansieht. Eine Voreingenommenheit wegen dieser gutachterlichen Einschätzung scheidet aus, weil der Gutachter durchaus nachvollziehbar begründet hat, warum er dem Vortrag der Klägerin nicht folgt (vgl. Gutachten Blatt 27 unten).
Wie der ohne Zweifel richtige Hinweis des Sachverständigen, pandemiebedingt hätten ohnehin eine Vielzahl von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen keinen Arbeitsweg zurückzulegen, die Besorgnis der Befangenheit begründen soll, bleibt unverständlich. Selbstverständlich bleibt das Ableiten von Rechtsfolgen aus diesem Sachverhalt allein Aufgabe des Gerichts.
Auch ist es Aufgabe des Sachverständigen zu einem vermuteten bzw. in Betracht kommenden Rentenbegehren Stellung zu nehmen. Der Richter ist in medizinischer Hinsicht nicht sachverständig und wird in aller Regel nicht beurteilen können, ob die geklagten Leiden von tatsächlichen Beschwerden oder dem Wunsch nach einer Berentung wesentlich getragen werden. Gerade zur Klärung dieser Frage wird der Sachverständige eingeschaltet.
Warum der Hinweis des Sachverständigen, die Klägerin könne auch im Homeoffice arbeiten als Antwort auf die Beweisfrage 3.1. auf Seite 29 die Besorgnis der Befangenheit begründen soll, ist nicht nachvollziehbar. Soweit der Klammerzusatz (helles Licht in eigener Wohnung) erfolgt ist, trägt dies dem Erfordernis Rechnung, dass zumutbare Arbeitsbedingungen im Gutachten beschrieben werden müssen. Der Senat kann nicht erkennen, dass der Gutachter damit seinen Auftrag oder seine Kompetenzen überschritten hat.
Nicht nachvollziehbar ist weiter, warum die Antwort auf die Beweisfrage 7, eine Dunkelangst oder Claustrophobie begründe die Erwerbsunfähigkeit nicht, eine Formulierung im Rechtlichen sein soll. Ganz offensichtlich wollte der Gutachter hier auf Seite 30 des Gutachtens lediglich mitteilen, dass die Klägerin trotz der behaupteten Dunkelangst/Claustrophobie nachweisbar in der Lage war, Behördengänge auszuführen, Anträge einzureichen und z.B. auch den Weg von P nach B zum Gutachter zu bewältigen. Es ist keine rechtliche Schlussfolgerung hieraus medizinisch abzuleiten, die Klägerin könne dann auch zur Arbeit fahren. Ob dies überzeugend ist, hat der Senat im Hauptsacheverfahren zu entscheiden. Nach Auffassung des Senats stellen diese Ausführungen weder eine rechtliche Bewertung da, noch überschreiten Sie den Gutachtenauftrag. So hat der Gutachter entgegen der Behauptung der Bevollmächtigten auch nicht ausgeführt, dass der Klägerin keine Rente zustehe, sondern dass die behauptete Dunkelangst und Claustrophobie keine Erwerbsunfähigkeit begründe. Vor diesem Hintergrund erscheint die anwaltliche Annahme, durch die Benutzung des Wortes Erwerbsunfähigkeit (statt vielleicht besser „aufgehobenes Leistungsvermögen“) sei eine dem Sachverständigen nicht zustehende rechtliche Wertung erfolgt, nicht nachvollziehbar. Nur am Rande sei darauf hingewiesen, dass der zutreffende rechtliche Terminus im Übrigen auch nicht Erwerbsunfähigkeit, sondern „volle oder teilweise Erwerbsminderung“ gewesen wäre. Schon insoweit kann der Senat nicht erkennen, dass der Sachverständige dem Gericht eine rechtliche Bewertung vorgeben wollte.
Eine Besorgnis der Befangenheit des Gutachters ergibt sich auch nicht aus den Ausführungen auf Seite 33, wo er, befragt zum Thema Besserungsaussichten, ausführt, dass die Klägerin im Verfahren eindrucksvoll nachgewiesen habe, dass alle ihre Bemühungen darauf gerichtet seien, eine Rentenbewilligung zu erreichen und sie hierzu auch Rechtsmittel einlegt habe. Diese Ausführungen haben den Gutachter bewogen, dann die Frage, wann mit der Behebung der Leistungseinbuße zu rechnen ist, nicht zu beantworten. Dies ist in sich schlüssig, stellt auch keine Überschreitung des Gutachtenauftrags dar.
Soweit im Befangenheitsantrag unter II. fachliche Mängel des Gutachtens kritisiert werden, sind diese schon im Grundsatz nicht geeignet eine Besorgnis der Befangenheit zu begründen. Die mangelnde Qualifikation des Gutachters ist nach allgemeiner Meinung kein Ablehnungsgrund, weil sie alle Beteiligten betrifft (vergleiche Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, Kommentar, 13. Aufl. § 118 Rn. 12 j). Über die Qualität des Gutachtens ist daher im Hauptsacheverfahren zu streiten.
Soweit die Bevollmächtigten behaupten, ihre zusätzlich zur Beweisanordnung gestellten Fragen im Schriftsatz vom 28. Juni 2021 seien nicht beantwortet worden, kann der Senat dem so nicht folgen. Mit Verfügung vom 29. Juni 2021 ist der Gutachter gebeten worden, die Fassung der Beweisfragen des Bevollmächtigten zu berücksichtigen. In der Sache neue Beweisfragen haben die Bevollmächtigten aber nicht gestellt, sie hielten die vom Gericht formulierten Fragen lediglich für zu unpräzise. Nach den medizinischen Feststellungen des Gutachters hat sich aber kein Anlass ergeben, die engere Fassung der Beweisfragen der Bevollmächtigten gesondert zu beantworten. Dies hat sich bei dem festgestellten Leistungsvermögen der Klägerin erübrigt.
Aus dem Umstand, dass kein weiteres Gutachten empfohlen wurde, kann keine Besorgnis der Befangenheit abgeleitet werden. Soweit die Bevollmächtigten die Empfehlung eines weiteren neurologisch-psychiatrischen Gutachtens vom Gutachter wegen der auch von ihm gesehenen möglichen neurologisch-psychiatrischen Einschränkungen fordern, übersehen sie, dass ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten bereits vorliegt (Gutachten des Dr. H vom 31. Oktober 2019), so dass eine solche Empfehlung keineswegs zwingend war.
Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).