hat die 11. Kammer des Sozialgerichts Düsseldorf
am 30.06.2022
durch die Vorsitzende, Richterin am Sozialgericht
beschlossen:
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, der Antragstellerin ab 01.07.2022 bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache Leistungen nach dem Fünften Buch des Sozialgesetzbuches (SGB V) zu gewähren.
Die Antragsgegnerin trägt die außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.
G r ü n d e :
I.
Die Antragstellerin wendet sich im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die Ablehnung der Aufnahme in die freiwillige Krankenversicherung bei der Antragsgegnerin und begehrt vorläufige Leistungen nach dem SGB V.
Die am ………. geborene Antragstellerin ist somalische Staatsangehörige und war bis zum 30.09.2019 als pflichtversicherndes Mitglied über den Bezug von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) bei der Antragsgegnerin krankenversichert. Mit Bescheid vom 25.01.2019 wies der Landkreis D, Kreisagentur für Beschäftigung, die Antragstellerin darauf hin, dass sie die Altersgrenze nach § 7 Abs. 1 Nr. 2 SGB II i.V.m. § 7a SGB II am 30.09.2019 erreiche. Zu diesem Zeitpunkt erfolge eine Abmeldung ihrer Krankenversicherung. Ab dem 01.10.2019 seien Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII beim Sozialamt zu beantragen. Mit weiterem Bescheid vom 15.10.2019 teilte der Landkreis D, Kreisagentur für Beschäftigung, der Antragstellerin mit, dass keine laufenden Hilfen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II weitergezahlt werden könnten. Die Antragstellerin habe die Altersgrenze nach § 7a SGB II am 30.09.2019 erreicht. Darüber sei sie bereits im letzten Bewilligungsbescheid vom 25.01.2019 informiert worden. Am 30.10.2019 wurde die Antragstellerin von der Kreisagentur für Beschäftigte aus dem Bezug von Leistungen nach dem SGBII als pflichtversichertes Mitglied abgemeldet. Mit Bescheid vom 17.10.2019 wurden der Antragstellerin vom Landkreis D, Soziales, Pflege und Senioren, Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) ab dem 01.10.2019 bis zum 30.09.2020 bewilligt.
Laut den Verwaltungsakten des Landkreises D wurde von dort am 17.10.2019 eine Anfrage an D…. Flüchtlingsbetreuung Stadt M….., gerichtet, ob bereits ein Antrag auf Aufnahme in die freiwillige Krankenversicherung gestellt worden sei. Der Flüchtlingsbetreuer übersandte daraufhin eine Kopie eines Antrags zur freiwilligen Krankenversicherung der Antragstellerin vom 16.10.2019, gerichtet an die Antragsgegnerin. Ein Vermerk bzw. Nachweis über die Absendung dieses Antrages findet sich in den Verwaltungsakten nicht. Nach einem Aktenvermerk vom 21.10.2019 wurde vom Landkreis D, Fachbereich Soziales, ein Beitragsbescheid für freiwillige Versicherung angefordert. Weiter liegt ein formloser Antrag vom 21.10.2019 auf freiwillige Kranken-und Pflegeversicherung an die Antragsgegnerin in den Akten vor, übersandt von dem Flüchtlingsbetreuer G… (Eingang 25.10.2019).
Unter dem 03.12.2019 wurde von der Antragsgegnerin der Antragstellerin in einem Schreiben mitgeteilt, dass nach den vorliegenden Unterlagen zufolge die Mitgliedschaft am 30.09.2019 geendet habe. Zur Aufrechterhaltung des Kranken- und Pflegeversicherungsschutzes werde um Mithilfe und Rückmeldung innerhalb der nächsten 14 Tage gebeten. Dieses Schreiben war an den Bevollmächtigten der Antragstellerin, Herr I….., gerichtet.
Unter dem 20.01.2020 ging bei der Antragsgegnerin der Antrag der Antragstellerin auf freiwillige Krankenversicherung ein. Leider sei bisher keine Anmeldung erfolgt. Unter dem 01.07.2020 wandte sich der Landkreis D, Fachbereich Soziales, Pflege und Senioren, erneut an die Antragsgegnerin und wies darauf hin, dass der Antrag zur freiwilligen Krankenversicherung bereits fristgerecht an die Antragsgegnerin versandt worden sei, jedoch keine weitere Rückmeldung erfolgt sei. Die Antragstellerin liege im Krankenhaus wegen eines Tumors. In den Akten des Landkreises D befinden sich ärztliche Unterlagen, aus denen sich eine Behandlung der Antragstellerin jedenfalls seit Juni 2020 im Universitätsklinikum F…….. sowie eine neurologische Frührehabilitationsbehandlung ergeben.
Mit Bescheid vom 10.07.2020 lehnte die Antragsgegnerin die Durchführung der freiwilligen Krankenversicherung ab. Zur Begründung führte sie aus, dass die Antragstellerin die gesetzlich festgelegte Antragsfrist von 3 Monaten nach der Pflichtversicherung überschritten habe. Auch eine Aufnahme in die obligatorische Anschlussversicherung sei nicht möglich. Als Ausschlusstatbestand für die obligatorische Anschlussversicherung im Sinne des § 188 Abs. 4 S. 3 SGB V gelte der Bezug von laufenden Leistungen von Sozialhilfe/Grundsicherung nach dem SGB XII, wenn auf diese Leistungen innerhalb oder anschließend einer Frist von 1 Monat nach Ende der letzten Versicherung ein Anspruch bestehe. Die Antragstellerin werde daher gebeten, sich zur Klärung ihrer weiteren Absicherung im Krankheitsfall mit dem Leistungsträger in Verbindung zu setzen.
Die Tochter und Betreuerin der Antragstellerin wandte sich unter dem 28.07.2020 an die Antragsgegnerin und beantragte erneut die Aufnahme in die freiwillige Versicherung. Darin führte sie aus, dass die Antragstellerin Analphabetin sei und auf ständige Unterstützung angewiesen. Da ihr nicht bewusst gewesen sei, dass sie bei Beendigung des Leistungsbezuges von SGB II keinen Krankenversicherungsschutz habe, habe sie nichts weiter veranlasst. Diesbezüglich sei jedoch eine Abmeldung von Seiten des Jobcenters erfolgt. Die Übermittlung sei auch an die Antragsgegnerin gegangen. Diese habe eine Beratungs- und Informationspflicht nach den §§ 13 ff. SGB I, woraus ein Anspruch auf Aufnahme in die freiwillige Krankenversicherung im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs bestehe.
Mit Widerspruchsbescheid vom 15.12.2020 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch zurück. Darin führte sie ergänzend aus, dass die Pflichtversicherung der Antragstellerin bei der Antragsgegnerin am 30.09.2019 geendet habe. Mit Anzeige der freiwilligen Mitgliedschaft am 20.01.2020 sei eine freiwillige Versicherung nicht mehr möglich, da die gesetzlich festgelegte Antragsfrist von 3 Monaten nach Ende der Pflichtversicherung überschritten worden sei. Auch eine obligatorische Anschlussversicherung im Sinne einer freiwilligen Mitgliedschaft (vgl. § 188 Abs. 4 SGB V) komme nicht in Betracht. Denn die Versicherung nach dem Ausscheiden aus der Versicherungspflicht oder Familienversicherung setze sich als freiwillige Versicherung von Gesetzes wegen fort, sofern kein Ausschlusstatbestand vorliegt. Als Ausschlusstatbestand für die obligatorische Anschlussversicherung gelte der Bezug von laufenden Leistungen von Sozialhilfe/Grundsicherung nach dem SGB XII, wenn auf diese Leistungen innerhalb oder anschließend einer Frist von 1 Monat nach Ende der letzten Versicherung ein Anspruch bestehe. Die Tochter der Antragstellerin habe mitgeteilt, dass die Antragstellerin vom Jobcenter zum Sozialhilfeträger für Leistungen nach dem SGB XII übergleitet worden sei. Damit liege der Ausschlusstatbestand vor. Auch ein Anspruch im Rahmen eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruches sei nicht gegeben. Denn vorliegend habe keine Beratung stattgefunden, da es aus Sicht der Antragsgegnerin keinen Beratungsanlass gegeben habe. Das Jobcenter habe im maschinellen Meldeverfahren eine Abmeldung vorgenommen, die von keinem Mitarbeiter der Antragsgegnerin zur Kenntnis genommen worden sei. Daher sei es auch nicht möglich gewesen, die Antragstellerin auf die Abmeldung hinzuweisen und ihr die Möglichkeit der Weiterversicherung aufzuzeigen. Allerdings sei im Bescheid des Jobcenters der Hinweis enthalten, dass sie sich mit ihrer Krankenkasse in Verbindung setzen sollte. Dieses habe sie nicht getan. Die Tochter der Antragstellerin habe offiziell ihre Betreuung übernommen und dabei offenbar die Frist versäumt. Dieses Fristversäumnis sei allerdings der Antragstellerin zuzurechnen. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gründe des Bescheides (Bl. 28 – Bl. 32 der Verwaltungsakten) Bezug genommen.
Die Antragstellerin hat am 13.01.2021 Klage erhoben (Aktenzeichen S 11 KR 29/21 – SG – Düsseldorf). Ferner hat die Antragstellerin am 13.01.2021 einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung auf Aufnahme in die Krankenversicherung gestellt. Zur Begründung hat sie geltend gemacht, dass sie bis zum 30.09.2019 bei der Antragsgegnerin krankenversichert gewesen sei. Sie habe bis zu diesem Zeitpunkt Leistungen nach dem SGB II beim Jobcenter im Landkreis D erhalten. Ab dem 01.10.2019 habe sie Grundsicherungsleistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII erhalten. Diese seien zum 01.06.2020 eingestellt worden, da sie seither bei ihrer Tochter lebe. Entgegen den Ausführungen der Antragsgegnerin sei es weder von ihr noch von ihrer Tochter zu vertreten, dass der Antrag auf Aufnahme in die freiwillige Versicherung zeitverzögert gestellt worden sei. Das Antragsformular sei von ihr am 21.10.2019 unterschrieben worden. Einige Tage später sei dieser Antrag dann beim Landkreis D eingegangen. Es hätte also noch über 2 Monate Zeit bestanden, diesen Antrag an die Antragsgegnerin weiterzuleiten. Da die Antragstellerin von niemanden mehr etwas gehört hätte, durfte sie davon ausgehen, dass die Weiterleitung fristgerecht erfolgt sei. In jedem Fall hätte die Behörde, die diesen Antrag nicht weitergeleitet habe, die Antragstellerin informieren und darauf hinweisen müssen, dass (erneut) ein eigener Antrag unmittelbar bei der Antragsgegnerin zu stellen sei. Jegliche Falschberatung bzw. ein etwaiges Versäumnis auf Seiten des Landkreises D sei nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs der Antragsgegnerin zuzurechnen. Darüber hinaus sei auch für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ein Anordnungsgrund gegeben. Bereits ein gesunder Mensch habe ein existentielles Interesse daran, jederzeit Zugang zur medizinischen Versorgung zu haben. Es könne niemandem zugemutet werden, bis zum Ausgang eines etwaigen Hauptsacheverfahrens ohne jegliche ärztliche Versorgung zu bleiben. Dies gelte umso mehr im Fall der Antragstellerin, die dringend wegen chronischer Erkrankungen auf medizinische Unterstützung angewiesen sei.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihr vorläufig bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache Leistungen nach dem SGB V zu gewähren.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
Sie weist ergänzend darauf hin, dass die Antragstellerin über das Ende der Versicherung zum 30.09.2019 informiert gewesen sei. Die Information der Antragsgegnerin an den Bevollmächtigten der Antragstellerin müsse sie sich zurechnen lassen. Zudem sei die Antragstellerin nicht nur von der Antragsgegnerin über die Beendigung der Versicherung zum 30.09.2019 informiert worden, sondern auch durch die Kreisagentur für Beschäftigte. Im Bescheid der Kreisagentur für Beschäftigte sei regelhaft der Hinweis enthalten, dass sich der/die Leistungsbezieher/in mit ihrer Krankenkasse in Verbindung setzen solle. Das habe weder die Antragstellerin noch ihr Bevollmächtigter getan. Zudem fehle auch die Glaubhaftmachung eines Anordnungsgrundes. Die Betreuerin der Antragstellerin habe nicht dargetan, warum über den Anspruch auf freiwillige Versicherung in einem Eilverfahren mit nur summarischer Prüfung zu entscheiden sei. Die vom Landkreis D angesprochene E-Mail von dem Flüchtlingsbetreuer Herrn G… vom 17.10.2019 sei zwischen den vorgenannten Beteiligten ausgetauscht worden. Dabei scheine es sich um einen internen Vorgang zwischen Herrn G… und dem Landkreis D zu handeln. Tatsächlich sei eine E-Mail von Herr G… bei der Antragsgegnerin nicht eingegangen. Tatsächlich habe der Landkreis D den Antrag erst am 20.01.2020 und damit verspätet gestellt. Sollte insoweit ein Fehlverhalten des Landkreises D vorliegen, sei dieses Fehlverhalten nicht der Antragsgegnerin zuzurechnen.
Auf Nachfrage des Gerichts hat der Landkreis D zunächst unter dem 01.06.2021 mitgeteilt, dass mit E-Mail vom 17.10.2019 der zuständige Mitarbeiter der Flüchtlingsbetreuung, Herr D…. G…, einen Antrag auf Aufnahme in die freiwillige Krankenversicherung bei der Beklagten gestellt habe. Dieses habe er mit der genannten E-Mail bestätigt. Der Antrag der Antragstellerin zur freiwilligen Krankenversicherung an die Antragsgegnerin sei durch diese am 21.10.2019 unterschrieben worden und sei am 25.10.2019 beim Landkreis D eingegangen. Da die Antragstellerin nach ihren Angaben Analphabetin sei, sei der weitere Schriftverkehr in der Sache über Herrn G… von der Gemeinde M….. erfolgt. Am 20.01.2020 habe dann die zuständige Sachbearbeiterin des Landkreises D nochmals den Antrag auf freiwillige Versicherung an die Antragsgegnerin per E-Mail übersandt, da nach Kenntnis des Landkreises noch keine Anmeldung erfolgt sei. Der Flüchtlingsberater D…. G… der Gemeinde M…… hat auf Anfrage des Gerichts Folgendes mitgeteilt:
„ auf ihre Frage bezüglich des Antrags der o.g. möchte ich mitteilen, dass ich nicht für die Antragstellerin einen Antrag gestellt habe, sondern sie, wie alle Ratsuchenden, die zu uns in der Beratung kommen, lediglich dabei unterstützt habe.
Da ich vom fraglichen Zeitpunkt bis heute über 1000 Geflüchteten bei diversen Antragstellungen unterstützt habe, kann ich mich an Einzelheiten zu diesem Fall leider nicht erinnern.
Im Normalfall schicken wir unsere Klienten direkt zur Krankenkasse, um Mitgliedschaften abzuschließen. Frau F….. wurde auch oft von ihrem Sohn in solchen Angelegenheiten unterstützt. Ich habe in der Akte von Frau F….. nachgesehen, dort ist ein am 17.10.2019 eingescannte Anmeldung für die AOK. Nachweise oder Hinweise, die darauf schließen lassen, wie der Antrag gesendet wurde, sind leider nicht zu finden.
Auch ob oder wann bei der AOK eine Nachfrage bezüglich der Bearbeitung erfolgt ist, kann ich nicht sagen.“
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf das weitere Vorbringen der Beteiligten sowie auf die Verwaltungsakten der Antragsgegnerin sowie die beigezogenen Verwaltungsakten vom Landkreis D sowie die Gerichtsakte mit dem Aktenzeichen S 11 KR 29/21 Bezug genommen.
II.
Der Antrag ist zulässig und begründet.
Der Antragstellerin sind von der Antragsgegnerin ab dem 01.07.2022 vorläufig bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) zu gewähren.
Nach § 86b Abs. 2 S. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist das Bestehen eines Anordnungsanspruchs, d.h. das materiell-rechtlichen Leistungsanspruchs sowie das Vorliegen eines Anordnungsgrundes, d.h. Eilbedürftigkeit der Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile und die damit verbundene Unzumutbarkeit, die Entscheidung in der Hauptsache abzuwarten.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund nicht isoliert nebeneinander stehen, sondern dass eine Wechselwirkung derart besteht, dass die Anforderungen an den Anordnungsanspruch mit zunehmender Eilbedürftigkeit bzw. Schwere des drohenden Nachteils zu verringern sind und umgekehrt. Ist die Klage in der Hauptsache offensichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Antrag auf einstweilige Anordnung ohne Rücksicht auf den Anordnungsgrund grundsätzlich abzulehnen, weil ein schützenwertes Recht nicht vorhanden ist. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen (§ 86 Abs. 2 S. 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung – ZPO -).
Der Anordnungsgrund, also die Dringlichkeit des Antrags ergibt sich vorliegend daraus, dass die Antragstellerin derzeit ohne Versicherungsschutz ist. Nach den Angaben des Bevollmächtigten der Antragstellerin ist diese aufgrund diverser chronischer Erkrankungen dringend auf ärztliche Behandlung angewiesen. Aus den Verwaltungsakten des Landkreises D ergibt sich, dass sie seit 2020 in neurochirurgischer und neurologischer Behandlung gewesen ist wegen einer Tumorerkrankung, so dass von einer weiteren Behandlungsbedürftigkeit auszugehen ist.
Der Antragstellerin steht auch ein Anordnungsanspruch zur Seite. Nach summarischer Prüfung ist davon auszugehen, dass die Antragstellerin freiwilliges Mitglied der Antragsgegnerin geworden ist.
Gemäß § 9 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgesetzbuches Fünftes Buch (SGB V) können Personen der Versicherung beitreten, die als Mitglieder aus der Versicherungspflicht ausgeschieden sind und in den letzten fünf Jahren vor dem Ausscheiden mindestens vierundzwanzig Monate oder unmittelbar vor dem Ausscheiden ununterbrochen mindestens zwölf Monate versichert waren; Zeiten der Mitgliedschaft nach § 189 und Zeiten, in denen eine Versicherung allein deshalb bestanden hat, weil Alg II zu Unrecht bezogen wurde, werden nicht berücksichtigt. Der Beitritt ist innerhalb von drei Monaten anzuzeigen (§ 9 Abs. 2 Nr. 1 SGB V). Die Antragstellerin erfüllt nach summarischer Prüfung die Voraussetzungen des § 9 Abs. 1 Nr. 1 SGB V. Allerdings hat sie ihren Beitritt nicht innerhalb des Drei-Monats-Zeitraums nach Ende der Pflichtmitgliedschaft, der mit dem Ende der Leistungen nach dem SGB II am 01.10.2019 begonnen hatte, angezeigt.
Die Antragstellerin ist jedoch im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als habe sie diese Frist eingehalten. Ein solcher Herstellungsanspruch setzt nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung voraus, dass eine Behörde durch fehlerhaftes Verwaltungshandeln nachteilige Folgen für die Rechtsstellung des Versicherten herbeigeführt hat, und dass diese rechtlichen Nachteile durch rechtmäßiges Verwaltungshandeln wieder beseitigt werden können. Wenn diese Voraussetzungen vorliegen, hat die Behörde grundsätzlich dem Versicherten die Rechtsposition einzuräumen, die er gehabt hätte, wenn von Anfang an ordnungsgemäß verfahren worden wäre. Insoweit hat das Bundessozialgericht (BSG) bereits entschieden, dass der Herstellungsanspruch auch bei der Versäumung von Ausschlussfristen durchgreifen kann (vgl. BSG vom 17.12.1980 – 12 RK 34/80, juris).
Zwar ist keine Pflichtverletzung der Antragsgegnerin selber ersichtlich. Denn die Abmeldung der Antragstellerin erfolgte im maschinellen Verfahren, so dass kein Beratungsbedarf ersichtlich werden konnte. Auch das Schreiben vom 03.12.2019 wurde nicht aufgrund eines konkreten Verwaltungskontakts angestoßen, sondern durch das EDV-Programm.
Die Antragsgegnerin muss sich aber eine Pflichtverletzung des Landkreises D zurechnen lassen. Denn dieser hat pflichtwidrig den Antrag auf freiwillige Krankenversicherung nicht rechtzeitig an die Antragsgegnerin weiter geleitet bzw. die Antragstellerin ausdrücklich im Rahmen einer Beratung darauf hingewiesen, dass ein solcher Antrag bei der Antragsgegnerin zu stellen ist. In der BSG-Rechtsprechung ist es anerkannt, dass ein Leistungsträger unabhängig von einem konkreten Beratungsbegehren gehalten ist, bei Vorliegen eines konkreten Anlasses auf klar zu Tage tretende Gestaltungsmöglichkeiten hinzuweisen, die sich offensichtlich als zweckmäßig aufdrängen und von jedem verständigen Versicherten mutmaßlich genutzt würden (sog. Spontanberatung, vgl. BSG vom 28.09.2010, B 1 KR 31/09 R, juris, Rdnr. 19 mwNachw). Ist das zur Erfüllung der gesetzlichen Aufgaben auf einem Gebiet bereit gestellte Leistungsangebot für die Versicherten so unübersichtlich, dass sich im Einzelfall nicht vermeiden lässt, einen konkreten Weg aufzuzeigen, der zu den gesetzlich möglichen Leistungen führt, ist eine solche Spontanberatung geboten. Das gilt insbesondere, wenn sich aus dem Verhalten des Versicherten ergibt, dass er über die gesetzlichen Möglichkeiten nicht ausreichend informiert ist (vgl. BSG SozR 2200 § 182 Nr. 57 S. 108 f).
Der Landkreis D war zu einer solchen Spontanberatung verpflichtet, jedenfalls aber zur Weiterleitung des Antrags auf freiwillige Versicherung vom 21.10.2019 an die Antragsgegnerin. Wie sich dem E-Mail-Verkehr zwischen den Sachbearbeitern des Landkreises D und Herrn G… ergibt, ist die Frage der freiwilligen Versicherung der Antragstellerin vom Landkreis als klärungsbedürftig angesehen worden. So ist z.B. unter dem 17.10.2019 bei Herrn G… nachgefragt worden, ob bereits ein solcher Antrag gestellt worden ist. Unter dem 21.10.2019 ist ein Aktenvermerk über die Anforderung eines Beitragsbescheides für die freiwillige Versicherung erstellt worden. Schließlich ist am 25.10.2019 ein formloser Antrag auf freiwillige Krankenversicherung vom 21.10.2019 zu den Akten gelangt. Angesichts des bekannten Umstands, dass die Antragstellerin Analphabetin ist, wäre der Landkreis D nach Auffassung des Gerichtes im Rahmen seiner gesetzlich bestehenden Beratungs- und Informationspflichten nach §§ 13 ff. des Sozialgesetzbuches Erstes Buch (SGB I) verpflichtet gewesen, innerhalb dieser 3-Monatsfrist nachzufragen, was mit dem Antrag auf freiwillige Versicherung vom 16.10.2019 geschehen ist bzw. den Antrag vom 21.10.2019 selber an die Antragsgegnerin weiterzuleiten (§ 16 Abs. 2 SGB I). Schließlich hat auch der Landkreis D auf Nachfrage des Gerichts nicht nachvollziehbar erklären können, weshalb bezüglich dieses Antrages nichts weiter unternommen worden ist. Insoweit ist lediglich unter dem 30.08.2021 gegenüber dem Gericht mitgeteilt worden, dass zunächst davon ausgegangen worden sei, dass der formelle Antrag gestellt und wesentliche Frist eingehalten worden seien. Daraufhin sei mit E-Mail vom 21.10.2019 durch Herrn G… nur noch der Beitragsbescheid der Krankenkasse angefordert worden. Der Antrag auf freiwillige Versicherung sei dann nochmals per E-Mail am 20.01.2020 an die Antragsgegnerin übermittelt worden. Jedenfalls konnte sich der Landkreis D nicht auf eine Erledigung der Antragsweiterleitung durch Herrn G… verlassen, der nur im Rahmen der Flüchtlingsbetreuung tätig geworden ist.
Die Antragsgegnerin muss sich diese Pflichtverletzung des Landkreises auch zurechnen lassen. Eine solche Zurechnung kommt bei der Fallgestaltung, dass zwischen beiden Leistungsträgern eine Funktionseinheit in der Weise besteht, dass ein anderer Leistungsträger oder eine andere Behörde in den Verwaltungsablauf derjenigen Behörde arbeitsteilig eingeschaltet ist, gegen die der Herstellungsanspruch gerichtet wird, in Betracht. Unabhängig davon, ob vorliegend eine solche Funktionseinheit zwischen dem Landkreis und der Antragsgegnerin anzunehmen ist, wird die Zurechnung der Pflichtverletzung eines anderen Leistungsträgers von der Rechtsprechung ausnahmsweise auch dann bejaht, wenn sich aufgrund eines konkreten Verwaltungskontakts zwischen dem Bürger und einem Leistungsträger für diesen erkennbar ein zwingender sozialrechtlicher Beratungsbedarf in einer gewichtigen Frage für einen Leistungsbereich außerhalb seiner eigenen Zuständigkeit ergibt (vgl. Hess. LSG vom 18.07.2019, L 8 KR 487/16, juris, Rdnr. 44).
Vorliegend hat sich ein solcher Beratungsbedarf für den Landkreis, wie bereits oben ausgeführt, aufgedrängt. Jedenfalls aber wiesen die Umstände eindeutig darauf hin, den Antrag auf freiwillige Versicherung (den der Landkreis selber für erforderlich zu stellen gehalten hatte) weiterzuleiten und nicht nur letztlich nicht weiterführende Nachfragen bei dem Flüchtlingsberater zu halten. Der Landkreis konnte keinesfalls davon ausgehen, dass die Antragstellerin selber in der Lage war, sich im erforderlichen Maße um ihre Krankenversicherungsangelegenheit zu kümmern.
Die Antragstellerin muss daher so gestellt werden, als ob der von ihr gestellte Antrag vom Landkreis D an die Antragsgegnerin fristgerecht weitergeleitet worden wäre. Die Antragsgegnerin ist daher verpflichtet, die freiwillige Versicherung zugunsten der Antragstellerin – vorläufig bis zu dem rechtskräftigen Abschluss des Hauptsacheverfahrens - durchzuführen und ihr Leistungen nach dem SGB V ab dem 01.07.2022 zu gewähren.
Für die Vergangenheit ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren keine Regelung zu treffen, da die dort stattgefundenen Krankenhausaufenthalte und Behandlungen abgeschlossen sind. Eine besondere Dringlichkeit besteht für den abgelaufenen Zeitraum nicht.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.