L 12 AS 245/21

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Köln (NRW)
Aktenzeichen
S 40 AS 1386/20
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 AS 245/21
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil

Die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 21.12.2020 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Kläger im Berufungsverfahren.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand:

 

Die Beteiligten streiten um die Gewährung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) für den Zeitraum vom 20.04.2020 bis 30.11.2020.

 

Die am 00.00.1979 geborene Klägerin zu 1 (im Folgenden: Klägerin) ist die Mutter des am 00.00.2018 geborenen Klägers zu 2) (im Folgenden: Kläger). Sie sind polnische Staatsangehörige. Gesetzlicher Vater des Klägers ist der Ehemann der Klägerin, der in Polen lebende X. Y., den die Klägerin am 00.08.2015 in Polen heiratete und von dem sie getrennt lebt. Leiblicher Vater des Klägers ist der Zeuge B.. Die Klägerin gibt an, nur deshalb Herrn Y. geheiratet zu haben, damit ihre beiden (damals) in Polen lebenden minderjährigen Söhne aus früheren Beziehungen einen Betreuer hätten haben können. Die Söhne wurden 1996 und 2001 geboren; der ältere Sohn verstarb im Jahr 2019. Die Söhne, die nach Angaben der Klägerin von ihrer Schwester und ihrem Vater betreut wurden, lebten in einer Mietwohnung. Die Klägerin bezog für den Kläger im Streitzeitraum monatlich Kindergeld i.H.v. 204 Euro.

 

Die Klägerin ist nach eigenen Angaben im Jahr 2012 aus Polen nach Deutschland eingereist und hat bis zum Beginn ihrer Schwangerschaft mit dem Kläger Mitte 2017 als Prostituierte gearbeitet. Die Klägerin ist seit dem 04.04.2013 mit Unterbrechungen in Deutschland gemeldet. Folgende Meldungen und Meldelücken sind nach einer Meldebestätigung der Beigeladenen vom 09.03.2020 dokumentiert:

04.04.2013-26.04.2013      H.-straße 22, Z

26.04.2013-24.06.2013      T.-straße 153, Z

24.06.2013-28.03.2014      H.-straße 22, Z

29.03.2014-19.04.2015      Meldelücke

20.04.2015-06.09.2016      H.-straße 22, Z

07.09.2016-06.07.2017      Meldelücke

07.07.2017-30.03.2018      E.-straße 57, Z

seit 30.03.2018                    S.-straße 64, Z

 

Die Wohnung in der S.-straße 64 ist laut Mietvertrag vom 01.10.2019 42 m2 groß; die monatliche Grundmiete beträgt 258,75 Euro; für Heiz- und Warmwasserkosten sind monatlich im Voraus 70 Euro und für die Betriebskosten monatlich im Voraus 46,25 Euro zu zahlen; die Gesamtmiete beträgt daher 375 Euro.

 

In einer E-Mail vom 30.10.2017 erkundigte sich die Klägerin beim Beklagten nach Beratungs- und Hilfemöglichkeiten. Sie sei bereits seit fünf Jahren in Z, fast die letzten drei Jahre habe sie mit ihrem Freund in der S.-straße 64 in Z gelebt. Ihr Freund habe sie verlassen. Sie sei schwanger.

 

In der Folge stellte die Klägerin am 19.01.2018 erstmals einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II. Diesen lehnte der Beklagte durch Bescheid vom 12.03.2018 ab, weil die Klägerin ein Aufenthaltsrecht allein wegen der Arbeitsuche habe und daher nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sei. Hiergegen wurde kein Widerspruch erhoben.

 

Den am 21.02.2020 erneut von den Klägern gestellten Antrag auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 11.03.2020 ab und begründete diesen wiederum mit einem Leistungsausschluss. Den hiergegen eingelegten Widerspruch der Kläger, den diese mit dem seit fünf Jahre andauernden gewöhnlichen Aufenthalt der Klägerin in Deutschland begründeten, wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 08.04.2020 als unbegründet zurück.

 

Dagegen haben die Kläger am 08.04.2020 Klage beim Sozialgericht Köln (SG) erhoben.

 

Am 04.05.2020 stellten die Kläger beim SG einen Eilantrag (Az.: S 40 AS 1726/20 ER). Im Rahmen einer eidesstattlichen Versicherung vom 22.04.2020 führte die Klägerin aus, sie lebe seit 2012 in Z, dort sei sie seit 2013 gemeldet. Auch in der Zeit, in der sie nicht in Z gemeldet gewesen sei, habe sie hier gelebt. In Polen sei sie seit 2013 nur mal an Feiertagen oder zu Besuch gewesen, aber nie für längere Zeit. Die Klägerin reichte ferner eine Bestätigung der Postbank, wonach sie am 08.11.2016 ein Girokonto eröffnet habe, sowie Kontoauszüge zu diesem Girokonto für den Zeitraum vom 07.03.2020 bis 08.06.2020 ein. Sie legte ferner Stellungnahmen der Zeugen A. und J. vor, wonach die Klägerin in der Zeit vom 06.09.2016 bis 07.07.2017 in Z gewohnt habe. Überreicht wurde ferner eine nicht vollständige Kopie eines Schreibens des Kassen- und Steueramtes der Beigeladenen vom 19.09.2016, was der Klägerin unter der Adresse D.-straße 40 in Z persönlich übergeben worden sein soll. Die Klägerin legte ferner Quittungen ihrer vormaligen Vermieterin Frau U. vom 21.05.2017, 28.05.2017 und 04.06.2017 über den Erhalt der „Miete“ i.H.v. jeweils 273 Euro vor; ausgestellt wurden diese Quittungen für die Zeiträume vom 21.-28.05.2017, 28.05.-04.06.2017 und 04.-11.06.2017. Aktenkundig ist ferner ein im Auftrag der Verkehrsbetriebe AG (N.) am 14.01.2019 verfasstes Schreiben des Rechtsanwalts C., der einen Anspruch auf Beförderungsentgelt gegen die Klägerin wegen einer „Schwarzfahrt“ am 09.06.2017 um 22.19 Uhr in der N.-Linie N01 in Richtung R. geltend machte. Schließlich reichte die Klägerin einen Bericht des Ermittlungsdienstes des Steueramtes der Beigeladenen vom 07.09.2016 ein, wonach die Klägerin am 06.09.2016 nicht mehr in Z unter der Adresse H.-straße 22 angetroffen worden sei; Klingel und Briefkasten seien nicht beschriftet; von einer Hausbewohnerin sei mitgeteilt worden, dass die Klägerin „ein paar Tage“ in W. gearbeitet habe und sich wieder in Z aufhalte. Den Antrag im einstweiligen Rechtsschutz lehnte das SG mit Beschluss vom 28.05.2020 ab. Im Rahmen des anschließenden Beschwerdeverfahrens (Az.: L 21 AS 850/20 B ER) unterbreitete der Beklagte am 03.07.2020 einen (von den Klägern dann angenommenen) Vergleichsvorschlag, wonach der Beklagte vorläufig Regelleistungen vom 04.06.2020 (Tag der Glaubhaftmachung) bis längstens zum 30.11.2020 bewilligen würde. In einem Bescheid vom 22.07.2020 teilte der Beklagte den Klägern sodann mit, dass er auf den Antrag vom 04.06.2020 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum vom 04.06.2020 bis 30.11.2020 gewähre; der Beklagte legte dabei einen Regelbedarf für die Klägerin i.H.v. 432 Euro monatlich und Sozialgeld für den Kläger i.H.v. 250 Euro abzüglich des Kindergeldes i.H.v. 204 Euro zugrunde. Die Entscheidung zur vorläufigen Bewilligung ergehe auf Grundlage des § 41a SGB II. In einem zweiten Bescheid vom 22.07.2020 erklärte der Beklagte, dass der Bescheid vom 11.03.2020 insoweit abgeändert werde, als den Klägern Regelbedarfs- und Sozialgeldleistungen ab dem 04.06.2020 bewilligt worden seien.

 

Mit Bescheid vom 13.10.2020 gewährte der Beklagte den Klägern ein Darlehen in Höhe von 526,18 Euro zum Ausgleich einer Stromkostennachzahlung. Mit weiterem Bescheid vom 13.10.2020 erklärte der Beklagte, dass das Darlehen ab dem 01.11.2020 monatlich in Höhe von 43,20 Euro mit dem bewilligten Anspruch aufgerechnet werde.

 

Auf einen am 03.12.2020 eingegangenen Folgeantrag lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 04.12.2020 Leistungen für die Zeit ab dem 01.12.2020 ab. Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 22.02.2021 zurück. Dagegen erhoben die Kläger beim SG eine weitere Klage (Az.: S 41 AS 653/21).

 

Die Kläger haben im hiesigen Klageverfahren geltend gemacht, dass der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II nicht greife. Die Klägerin halte sich bereits seit fünf Jahren ununterbrochen in Deutschland auf. Dies könnten die Zeugen A. und J. sowie die Vermieterin U. und eine Nachbarin der Klägerin bezeugen. Sie habe zunächst in der H.-straße, dann in der D.-straße, anschließend E.-straße und schließlich in der S.-straße in Z gelebt habe; sie habe sich teilweise nicht angemeldet. Im April 2020 habe sie eine Nothilfe i.H.v. 60 Euro vom I. e.V. erhalten.

 

Die Kläger haben beantragt,

 

den Bescheid vom 11.03.2020 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2020 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihnen ab dem 01.02.2020 Leistungen nach dem SGB II in gesetzlicher Höhe zu bewilligen.

 

Der Beklagte hat beantragt,

 

die Klage abzuweisen.

 

Die Kläger seien nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von der Gewährung von Leistungen ausgeschlossen, da sich das Aufenthaltsrecht der Klägerin in Deutschland allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergebe. § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II setze nicht nur die einmalige Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde voraus, sondern ein durchgehendes Gemeldetsein im Bundesgebiet für mindestens fünf Jahre. In der Zeit vom 28.03.2014 bis 20.04.2015 und vom 06.09.2016 bis zum 07.07.2017 bestünden allerdings Meldelücken.

 

Das SG hat in der mündlichen Verhandlung vom 21.12.2020 die Zeugen A. und J. vernommen. Der Zeuge A. hat angegeben, dass er die Klägerin seit Ende 2015/Anfang 2016 kenne. Er habe die Dienste der Klägerin in Anspruch genommen. Er habe sie zunächst im Jahr 2016 überwiegend in der D.-straße getroffen, danach in einer Privatwohnung, zuletzt in der S.-straße. Er habe die Klägerin im Zeitraum 2016/2017 alle zwei bis drei Wochen gesehen, einmal seien es auch zwei Monate gewesen, in denen er sie nicht gesehen habe. Er habe sie bis Anfang 2020 getroffen. Er könne sich an die Daten genau erinnern, weil er den Schriftverkehr mit der Klägerin in seinem alten Handy nachgesehen und nachgeguckt habe, wann sie sich jeweils verabredet hätten. Der Zeuge J. hat angegeben, dass er die Klägerin seit sieben bis acht Jahren kenne und Stammkunde bei ihr gewesen sei. Er sei alle zwei, drei bzw. längstens sieben Wochen bei ihr gewesen und habe ständig Kontakt mit ihr gehabt. Als sie Mitte 2017 mitgeteilt habe, dass sie schwanger sei, habe er seine Kundschaft bei ihr beendet.

 

Das SG hat durch Urteil vom 21.12.2020 den Bescheid vom 11.03.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2020 teilweise aufgehoben und den Beklagten verpflichtet, den Klägern ab dem 20.04.2020 Leistungen nach dem SGB II nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das SG ausgeführt, dass eine Rückausnahme vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 4 Hs. 1 SGB II vorliege. Die Klägerin habe ihren gewöhnlichen Aufenthalt mindestens fünf Jahre im Bundesgebiet und verfüge damit über ein Daueraufenthaltsrecht im Sinne dieser Norm. Der Kläger sei erst am 00.04.2018 geboren und leite seinen Status als minderjähriger Familienangehöriger vom Status der Klägerin ab. Die Klägerin habe ihren gewöhnlichen Aufenthalt durchgehend seit dem 20.04.2015 in Deutschland. Entgegen der Auffassung des Beklagten komme es für den Begriff des „gewöhnlichen Aufenthaltes“ lediglich auf die Umstände des tatsächlichen Aufenthaltes im Bundesgebiet und nicht auf eine offizielle Meldung beim Einwohnermeldeamt an. Etwas anderes ergebe sich nicht aus § 7 Abs. 1 S. 5 SGB II. Denn das Erfordernis einer ununterbrochenen Meldung könne dem Wortlaut des § 7 Abs. 1 SGB II nicht entnommen werden. Insoweit komme es nicht einmal auf die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes an. Dass sich die Klägerin seit dem 20.04.2015 nicht nur vorübergehend in Deutschland aufhalte und hier ihren Lebensschwerpunkt habe, hätten die Zeugen A. und J. übereinstimmend glaubhaft bekundet. Die Kammer sei davon überzeugt, dass sich die Klägerin auch in der Zeit vom 07.09.2016 bis zum 06.07.2017 in Z aufgehalten habe. Die Zeugen hätten glaubhaft bekundet, dass sie die Klägerin von ihrer Tätigkeit als Prostituierte kennen würden und dauerhaft in den letzten drei bzw. sieben Jahren Kunden bei ihr gewesen seien. Sie hätten angegeben, die Klägerin in Abständen von drei bis teils sieben Wochen regelmäßig in Z getroffen und regelmäßig mit ihr Kontakt gehabt zu haben. Die von den Zeugen bekundeten Angaben würden durch die von der Klägerin vorgelegten Quittungen der Vermieterin U. über Mietzahlungen vom 21.05.2017, 28.05.2017 und 04.06.2017 gestützt. Auch aus der Korrespondenz mit dem Rechtsanwalt C. im Auftrag der N. ergebe sich, dass sich die Klägerin am 09.06.2017 in Z aufgehalten habe. Hinzukomme, dass der Klägerin ausweislich des Schreibens des Kassen- und Steueramtes der Beigeladenen am 19.09.2016 in der D.-straße 40 persönlich ein Schriftstück übergeben worden sei. Dies korrespondiere mit dem Bericht des Ermittlungsdienstes des Steueramtes der Beigeladenen vom 07.09.2016, wonach die Klägerin an diesem Tag nicht mehr in der H.-straße 22 in Z habe angetroffen werden können. Da sich die Klägerin seit dem 20.04.2015 dauerhaft ununterbrochen in Deutschland aufhalte, seien den Klägern ab dem 20.04.2020 Leistungen zu gewähren. Für die Zeit davor habe sich die Kammer hingegen nicht von einem dauerhaften Aufenthalt der Klägerin im Inland überzeugen können.

 

Gegen das ihm am 22.01.2021 zugestellte Urteil hat der Beklagte am 16.02.2021 Berufung eingelegt. Er ist der Ansicht, dass bei jeder Meldeunterbrechung eine erneute Meldung erforderlich sei, so dass der Fünfjahreszeitraum neu zu laufen beginne. Im Rahmen des § 7 Abs. 1 S. 4 und 5 SGB II könne nicht angenommen werden, dass der Gesetzgeber eine einmalige, möglicherweise nur wenige Tage dauernde Meldung beim Einwohnermeldeamt als Voraussetzung für die Begründung eines zum Leistungsbezug führenden Rechts nach fünfjährigem Aufenthalt ausreichen lassen wollte (unter Hinweis auf LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 04.05.2020, L 31 AS 602/20 B). Die Klägerin habe wegen der bis 2019 in Polen angemieteten Mietwohnung und ihrer beiden dort lebenden Kinder die Möglichkeit und den Willen zur jederzeitigen Rückkehr nach Polen gehabt. Da die Klägerin ihre Tätigkeit als Prostituierte bis zum Schluss nicht ordnungsgemäß angegeben habe, sei der Wille zum dauerhaften Verweilen nicht mit hinreichender Sicherheit geklärt. Der gewöhnliche Aufenthalt sei im Sinne der europarechtlichen Vorgaben auszulegen. Das Erbringen von Dienstleistungen ohne gleichzeitige Begründung einer Niederlassung in dem Staat, in welchem die Dienstleistung erbracht werde, vermöge keinen gewöhnlichen Aufenthalt zu begründen. So lange keine weiteren Rechte aus selbständiger Tätigkeit zur Begründung des Aufenthalts geltend gemacht würden, zeige sich der Grad der zu berücksichtigenden Integration in der Anerkennung der jeweiligen innerstaatlichen Gewerbeordnung bzw. im Gegenteil hierzu die ausschließliche Inanspruchnahme der Dienstleistungsfreiheit. Bis zum Zeitpunkt der Niederlassungsbegründung könne die Dienstleistende regelmäßig in das Land ihrer Niederlassung zurückkehren und entsprechend keinen gewöhnlichen Aufenthalt am Ort der Ausübung einer Dienstleistung begründen (unter Hinweis auf die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum FreizügG/EU zu § 2 Nr. 2.2.3.-2.2.4.). Vorliegend sei die Dienstleistung ohne Niederlassung in Deutschland betrieben worden, so dass kein gewöhnlicher Aufenthalt ohne Rückkehrwillen hergeleitet werden könne. Es bestehe im Falle der Klägerin kein durchgehender unterbrechungsfreier gewöhnlicher Aufenthalt außerhalb des Angebots einer Dienstleistung bis zum Beginn ihrer Schwangerschaft in der zweiten Jahreshälfte 2017. Der fehlende Wille zum Daueraufenthalt bestätige sich dadurch, dass die innerstaatliche Meldepflicht nicht eingehalten worden sei.

 

Der Beklagte beantragt,

 

das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 21.12.2020 zu ändern und die Klage abzuweisen.

 

Die Kläger beantragen,

 

die Berufung des Beklagten zurückzuweisen.

 

Die Kläger wiederholen im Wesentlichen ihren bisherigen Vortrag.

 

Die Beigeladene stellt keinen Antrag.

 

Der vormals zuständige Berichterstatter des Senats hat am 16.06.2021 einen Erörterungs- und Beweisaufnahmetermin durchgeführt und den Verwaltungsbeschäftigten der Beigeladenen Herrn V. sowie Frau Q. vom Standesamt der Beigeladenen als Zeugen vernommen. Der nunmehr zuständige Berichterstatter des Senats hat am 23.02.2022 einen weiteren Erörterungs- und Beweisaufnahmetermin durchgeführt, in welchem die Klägerin ergänzend angehört und der Zeuge B. vernommen wurden. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahmen wird auf die Sitzungsniederschriften vom 16.06.2021 und 23.02.2022 Bezug genommen.

 

Nach Aufforderung durch den Senat hat die Klägerin eine Erklärung des Herrn X. Y. vom 01.11.2021 eingereicht, wonach er die Genehmigung dafür erteile, dass alle Rechtsstreitigkeiten vor dem Sozial- und Landessozialgericht NRW durch die Klägerin auch für den Kläger durchgeführt werden. Die Klägerin hat ferner die Kopie eines Bescheides der Beigeladenen vom 08.11.2016 über die Feststellung der Vergnügungssteuer vom 01.05.-31.08.2016 in Höhe von 216 Euro sowie die vollständigen Kontoauszüge für den Zeitraum vom 15.04.2020 bis 16.11.2020 vorgelegt. Auf die Unterlagen wird jeweils Bezug genommen.

 

Auf einen am 30.12.2020 eingegangenen Antrag im einstweiligen Rechtsschutz (Az.: S 25 AS 4768/20 ER) verpflichtete das SG den Beklagten durch Beschluss vom 25.01.2021 dazu, den Klägern vorläufig Regelbedarfs- und Sozialgeldleistungen abzüglich des Kindergeldes für den Zeitraum „ab Anfang Dezember 2020 bis einschließlich April 2021“ zu gewähren.

 

Am 15.03.2021 stellten die Kläger beim SG einen weiteren Eilrechtsschutzantrag hinsichtlich der Übernahme der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung (Az.: S 41 AS 966/21 ER). Durch Beschluss vom 29.04.2021 verpflichtete das SG den Beklagten im Rahmen einer einstweiligen Anordnung dazu, den Klägern vorläufig Leistungen für Kosten der Unterkunft i.H.v. 375 Euro monatlich für den Zeitraum von März 2021 bis längstens zum 31.10.2021 zu gewähren.

 

Die Vermieterin der Klägerin hatte in einem Schreiben vom 16.04.2021 die Zahlung ausstehender Mietforderungen seit Februar 2020 und die Räumung und Herausgabe der Wohnung geltend gemacht. Die Beigeladene erklärte sich nach entsprechender Antragstellung durch die Klägerin dazu bereit, die Nebenkostennachzahlung von 94,58 Euro sowie die rückständige Miete i.H.v. 4.125 Euro für den Zeitraum von Februar 2020 bis Februar 2021 ohne den August und Oktober 2020, für die die Miete bereits entrichtet worden war, zu übernehmen. Durch Bescheid vom 01.07.2021 erklärte die Beigeladene gegenüber der Klägerin die darlehensweise Übernahme der Mietschulden in Höhe von 4.219,58 Euro. Die Beigeladene forderte mit bestandskräftigem Bescheid vom 08.12.2021 das Darlehen von der Klägerin zurück. Einen Teil des Darlehens hat die Klägerin durch monatliche Raten zurückgezahlt.

 

Der Senat hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vom 15.02.2023 ergänzend angehört und in einem weiteren Verhandlungstermin vom 14.06.2023 Herrn B. und Herrn A. als Zeugen vernommen sowie eine schriftliche Zeugenaussage der Vermieterin der Klägerin Frau L. vom 05.06.2023 eingeholt. Auf die Sitzungsniederschriften und die schriftliche Zeugenvernehmung wird jeweils verwiesen.

 

Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogenen Verwaltungsakten des Beklagten und der Beigeladenen, die ebenfalls beigezogenen Gerichtsakten des SG zu den Verfahren S 40 AS 1726/20 ER, S 25 AS 4768/20 ER und S 41 AS 966/21 ER sowie die hiesigen Gerichtsakten Bezug genommen. Diese Akten sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidung gewesen.

 

 

Entscheidungsgründe:

 

Die Berufung des Beklagten hat keinen Erfolg.

 

A. Gegenstand des Berufungsverfahrens sind das Urteil des SG vom 21.12.2020 und die Bescheide des Beklagten vom 11.03.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2020 (§ 95 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) sowie der abändernde Bewilligungsbescheid vom 22.07.2020 (§ 96 Abs. 1 SGG). Im Bewilligungsbescheid vom 22.07.2020 hat der Beklagte den Klägern vorläufig Regelbedarfsleistungen für den Zeitraum vom 04.06.2020 bis 30.11.2020 gewährt und damit den angefochtenen Bescheid nach § 96 Abs. 1 SGG abgeändert. Der Bewilligungsbescheid vom 22.07.2020 erschöpft sich nicht in der Ausführung des Vergleichsvorschlags des Beklagten im Verfahren S 40 AS 1726/20 ER, so dass ihm – anders als bei einem reinen Ausführungsbescheid – Regelungswirkung zukommt (vgl. dazu Engelmann in Schütze, SGB X, 9. Auflage 2020, § 31 Rn. 53 m.w.N.). Vielmehr hat der Beklagte in diesem Bewilligungsbescheid keinerlei Hinweis auf das Eilverfahren S 40 AS 1726/20 ER gegeben und die Vorläufigkeit auch nicht damit begründet. In einem zweiten Bescheid vom 22.07.2020 hat er (klarstellend) erklärt, dass der Bescheid vom 11.03.2020 insoweit abgeändert werde, als den Klägern Regelbedarfs- und Sozialgeldleistungen ab dem 04.06.2020 bewilligt worden seien. Die beiden Bescheide vom 13.10.2020 sind dagegen nicht nach § 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden. In den Bescheiden vom 13.10.2020 hat der Beklagte den Klägern ein Darlehen in Höhe von 526,18 Euro zum Ausgleich einer Stromkostennachzahlung gewährt und erklärt, dass das Darlehen ab dem 01.11.2020 monatlich in Höhe von 43,20 Euro mit dem bewilligten Anspruch aufgerechnet werde. Es handelt sich bei dem Darlehens- und Aufrechnungsbescheid insoweit um einen anderen Streitgegenstand. Für diese Auslegung spricht, dass § 37 Abs. 1 S. 2 SGB II einen gesonderten Leistungsantrag u.a. für – hier einschlägige – Ansprüche nach § 24 Abs. 1 SGB II vorsieht. Überdies ist – soweit das Darlehen betroffen ist – eine Anfechtung durch die Kläger im Rahmen ihrer Dispositionsbefugnis nicht gewollt.

 

Der Streitzeitraum, über den der Senat zu entscheiden hat, beginnt erst am 20.04.2020. Beantragt waren zwar Leistungen ab dem 01.02.2020 (§ 37 Abs. 2 S. 2 SGB II). Allerdings hat das SG den Klägern Leistungen lediglich für die Zeit ab dem 20.04.2020 zugesprochen. Nur insoweit ist das Urteil des SG (vom Beklagten) angefochten worden. Die Kläger haben ihrerseits weder Berufung noch Anschlussberufung eingelegt, soweit der Streitzeitraum vom 01.02.2020 bis 19.04.2020 betroffen ist.

 

In zeitlicher Hinsicht wird der Anspruch der Kläger durch den Weiterbewilligungsantrag vom 03.12.2020 und den daraufhin ergangenen Bescheid des Beklagten vom 04.12.2020 bis zum 30.11.2020 begrenzt. Lehnt die Behörde die Leistungsbewilligung ab, ohne diese Ablehnung zeitlich einzugrenzen, wirkt sie im Falle eines gerichtlichen Verfahrens bis zur gerichtlichen Entscheidung fort, sodass der Antragsteller seine Leistungsberechtigung dann für den gesamten Zeitraum überprüfen lassen kann, ohne einen neuen Leistungsantrag bei der Behörde stellen zu müssen (vgl. BSG Urteil vom 31.10.2007, B 14/11b AS 59/06 R, Rn. 13 m.w.N., juris). Lehnt die Behörde die Bewilligung unbefristet ab und stellt der Antragsteller in der Folgezeit einen neuen Antrag, endet der Zeitraum, für den die erste ablehnende Entscheidung Wirkung entfaltet, mit Erteilung des neuen Bescheids rückwirkend zum Zeitpunkt des neuen Antrags, soweit dieser vollständig beschieden wurde, sodass der Streitgegenstand insoweit eingegrenzt ist (BSG, a.a.O.; und Urteile vom 13.07.2017, B 4 AS 17/16 R, Rn. 13 m.w.N., juris; und vom 25.08.2011, B 8 SO 19/10 R, Rn. 9, juris; noch weitergehend und allein auf einen Weiterbewilligungsantrag als Zäsur abstellend jüngst: BSG Urteil vom 06.06.2023, B 4 AS 4/22 R, bislang nur als Terminbericht veröffentlicht). So liegt der Fall hier. Durch den Leistungsantrag vom 03.12.2020, den der Beklagte mit Bescheid vom 04.12.2020 für den Zeitraum ab dem 01.12.2020 (vollständig) beschieden hat, ist der Streitzeitraum bis zum 30.11.2020 eingegrenzt worden.

 

Der Streitzeitraum ist nicht bereits durch den Bescheid vom 22.07.2020 zeitlich bis zum 03.06.2020 eingegrenzt worden, weil der Beklagte lediglich über Regelbedarfs- und Sozialgeldleistungen, nicht aber über Aufwendungen für Unterkunft und Heizung im Zeitraum vom 04.06.2020 bis 30.11.2020 (mit) entschieden hat. Es wäre zwar zu berücksichtigen, dass die Regelbedarfs- und Sozialgeldleistungen – wie oben erwähnt – nicht in Ausführung des zugrundeliegenden Eilverfahrens S 40 AS 1726/20 ER gewährt wurden, das grundsätzliche Behaltendürfen dieser Leistungen daher aus der Sicht eines objektiven Empfängers des Bescheides vom 22.07.2020 (§§ 133, 157 Bürgerliches Gesetzbuch <BGB>) anzunehmen ist. Ferner wäre zu berücksichtigen, dass die Beigeladene zwar die Mietrückstände für den Zeitraum von Februar 2020 bis Februar 2021 (ohne die Monate August und Oktober 2020) übernommen hat, allerdings nur als Darlehen, so dass insoweit noch ein Leistungsdefizit auf Seiten der Kläger besteht. Weiterhin ist zu berücksichtigen, dass ein Mehrbedarf für Alleinerziehung im Bescheid vom 22.07.2020 nicht bewilligt wurde, obwohl dies in Betracht käme, weil die Kläger bereits seit Oktober 2019 allein in der Wohnung lebten. Vor diesem Hintergrund kann nicht angenommen werden, dass mit dem Bescheid vom 22.07.2020 vollständig über die denkbaren Ansprüche ab dem 04.06.2020 entschieden worden ist. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die Kläger entgegen der Verlautbarung im Bescheid vom 22.07.2020 am 04.06.2020 keinen Antrag gestellt hatten. Vielmehr hatte sich der Beklagte im Eilverfahren S 40 AS 1726/20 ER zuvor bereit erklärt, ab dem 04.06.2020 Leistungen zu gewähren, weil nach seiner Auffassung die Anspruchsvoraussetzungen ab diesem Tag glaubhaft gemacht worden seien.

 

Streitig sind damit Regelbedarfs- und Sozialgeldleistungen für den Zeitraum vom 20.04.2020 bis 03.06.2020 und ein Mehrbedarf für Alleinerziehung für die Klägerin nach § 21 Abs. 3 Nr. 1 SGB II für den Zeitraum vom 20.04.2020 bis 30.11.2020. Aufwendungen für Unterkunft und Heizung sind wegen der nur darlehensweisen Gewährung seitens der Beigeladenen ebenfalls noch für den Zeitraum vom 20.04.2020 bis 30.11.2020 streitig.

 

B. Die zulässige Berufung des Beklagten ist unbegründet.

 

I. Die als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage nach § 54 Abs. 1 S. 1 Alt. 1, Abs. 4 SGG statthafte Klage ist zulässig. Insbesondere ist der Kläger prozessführungsbefugt. Die Klägerin und der gesetzliche Vater des Klägers, Herr Y., vertreten den Kläger gemeinschaftlich, § 1629 Abs. 1 S. 2 BGB, so dass die Klägerin grundsätzlich nicht allein vertretungsberechtigt ist (vgl. dazu BSG Urteil vom 02.07.2009, B 14 AS 54/08 R, Rn. 21, juris). Allerdings hat Herr Y. in seiner Erklärung vom 01.11.2021 sinngemäß nicht nur die bisherige Prozessführung genehmigt, sondern sich mit der Fortsetzung des Verfahrens im Namen des Klägers durch die Klägerin einverstanden erklärt. Der Senat hat keine Zweifel, dass die Erklärung vom 01.11.2021 tatsächlich von Herrn Y. stammt.

 

II. Die Klage ist in dem vom Beklagten angefochtenen Umfang auch begründet.

 

Der Bescheid vom 11.03.2020 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 08.04.2020 und der Abänderungsbescheid vom 22.07.2020 sind insoweit rechtswidrig und beschweren die Kläger i.S.v. § 54 Abs. 2 S. 1 SGG. Die Kläger haben einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum vom 20.04.2020 bis 30.11.2020 nach § 19 Abs. 1 S. 1 und 3, § 20 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, § 21 Abs. 3, § 22 Abs. 1 S. 1, § 23 Nr. 1 SGB II (in der jeweils bis zum 31.12.2022 geltenden Fassung).

 

1. Gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II erhalten Personen Leistungen nach dem SGB II, die 1. das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, 2. erwerbsfähig sind, 3. hilfebedürftig sind und 4. ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben (erwerbsfähige Leistungsberechtigte). Nach § 7 Abs. 2 S. 1 erhalten Leistungen auch Personen, die mit erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in einer Bedarfsgemeinschaft leben. Zur Bedarfsgemeinschaft gehören nach § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II die dem Haushalt angehörenden unverheirateten Kinder der in den Nummern 1 bis 3 genannten Personen (= der erwerbsfähige Leistungsberechtigte <Abs. 3 Nr. 1>, sein Partner <Abs. 3 Nr. 3>), wenn sie das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, soweit sie die Leistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht aus eigenem Einkommen oder Vermögen beschaffen können. Der Kläger ist ein dem Grunde nach leistungsberechtigtes, nicht erwerbsfähiges Kind nach § 7 Abs. 2 S. 1, Abs. 3 Nr. 4 SGB II. Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen nach § 7 Abs. 1 S. 1 Nrn. 1 bis 4 SGB II. Insbesondere ist sie auch hilfebedürftig i.S. von § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 SGB II. Nach § 9 Abs. 1 SGB II ist hilfebedürftig, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält. Aus den von der Klägerin eingereichten Kontoauszügen zu ihrem einzigen Girokonto bei der Postbank ergibt sich, dass mit Ausnahme des monatlichen Kindergeldes in Höhe von jeweils 204 Euro keine Einkünfte dokumentiert sind. Die Klägerin hat angegeben, im April 2020 eine Nothilfe i.H.v. 60 Euro vom I. e.V. (www.I..org) erhalten zu haben; diese Hilfe ist entweder nach § 11a Abs. 4 SGB II (wenn man den Verein der freien Wohlfahrtspflege zuordnet) oder nach § 11a Abs. 5 Nr. 2 SGB II wegen seiner Geringfügigkeit anrechnungsfrei. Der am 14.09.2020 i.H.v. 200 Euro und am 15.10.2020 i.H.v. 100 Euro mit dem Kindergeld ausgezahlte Kinderbonus ist nicht als Einkommen bedarfsmindernd zu berücksichtigen (vgl. die Sonderregelung in Art. 11 des Zweiten Corona-Steuerhilfegesetzes, womit das Gesetz zur Nichtanrechnung des Kinderbonus <KBNAnrG> vom 02.03.2009 geändert und insbesondere dessen Satz 1 wie folgt gefasst wurde: „Die nach § 66 Abs. 1 S. 2 und 3 EStG und § 6 Abs. 3 BKGG zu zahlenden Einmalbeträge sind bei Sozialleistungen, deren Zahlung von anderen Einkommen abhängig ist, nicht als Einkommen zu berücksichtigen.“; vgl. Söhngen in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage 2020, § 11 <Stand: 07.03.2023>, Rn. 59_1). Vermögen ist im gesamten Streitzeitraum nicht vorhanden gewesen. Entsprechende Anhaltspunkte ergeben sich weder aus den eingereichten Kontoauszügen noch aus der übrigen Verwaltungsakte des Beklagten. Die Wohnung in Polen, die die Klägerin bis zum Tod ihres ältesten Sohnes im Jahr 2019 unterhalten haben will, ist eine Mietwohnung und für den Streitzeitraum nicht relevant. Vor diesem Hintergrund kommt es nicht auf die Frage an, ob das Vermögen auch nach der Regelung des § 67 Abs. 2 SGB II unbeachtlich wäre, ob also der hier maßgebliche Leistungszeitraum, der am 01.02.2020 begann (§ 37 Abs. 2 S. 2 SGB II), vom Wortlaut des § 67 Abs. 2 SGB II erfasst wird (vgl. dazu LSG Sachsen Beschluss vom 04.06.2020, L 7 AS 354/20 B ER, Rn. 36, juris; für eine Einbeziehung von Zeiträumen, die auch in die Zeit ab dem 01.03.2020 fallen vgl. Lange in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Auflage 2021, § 67, Rn. 2).

 

2. Die Kläger sind als polnische Staatsangehörige zwar dem Grunde nach gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen ausgeschlossen. Danach sind Ausländerinnen und Ausländer von einem Anspruch ausgenommen, die entweder über kein Aufenthaltsrecht verfügen (Buchst. a) oder deren Aufenthaltsrecht sich allein zum Zweck der Arbeitsuche ergibt (Buchst. b), wobei sich der Ausschluss auf die Familienangehörigen erstreckt. Die Klägerin verfügt weder über ein dem Leistungsausschluss entgegenstehendes Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 S. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU in der hier bis zum 23.11.2020 maßgeblichen Fassung) (dazu a.) noch über ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU (dazu b.), das sich auf den Kläger erstrecken würde. Die Kläger erfüllen aber die Voraussetzungen der Rückausnahme vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II (dazu c.).

 

a. Ein Daueraufenthaltsrecht der Klägerin folgt nicht aus § 4a Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU. Danach haben Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben, unabhängig vom weiteren Vorliegen der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht). Das Entstehen eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4a FreizügG/EU setzt voraus, dass ein Unionsbürger während einer Aufenthaltszeit von mindestens fünf Jahren ununterbrochen die Freizügigkeitsvoraussetzungen des Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG erfüllt hat (EuGH Urteil vom 21.12.2011, C-424/10, C-425/10, Rn. 31, 41, juris; BSG Urteil vom 03.12.2015, B 4 AS 59/13 R, Rn. 16, juris; BVerwG Urteile vom 16.07.2015, 1 C 22/14, Rn. 17, juris; und vom 31.05.2012, 10 C 8.12, Rn. 16, juris; Bayerischer VGH Beschluss vom 14.12.2018, 10 ZB 18.603, Rn. 6, juris; LSG NRW Urteil vom 14.02.2019, L 19 AS 1398/18, Rn. 39, juris). Allein ein fünfjähriger Aufenthalt im Inland reicht zur Entstehung eines Daueraufenthaltsrechts nach § 4a FreizügG/EU nicht aus. Die Klägerin hat nach ihrer Einreise nach Deutschland nicht mindestens fünf Jahre ununterbrochen ein materielles Aufenthaltsrecht aus Art. 7 Abs. 1 RL 2004/38/EG gehabt. Denn sie hatte wegen der Schwangerschaft ihre selbständige Tätigkeit ab Sommer 2017 aufgegeben, so dass die Voraussetzungen nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. a) RL 2004/38/EG nicht vorliegen. Sie hat spätestens mit der Einstellung ihrer Erwerbstätigkeit auch nicht über ausreichende Existenzmittel im Sinne des Art. 7 Abs. 1 Buchst. b) RL 2004/38/EG verfügt. Die Existenzmittel sind dann ausreichend, wenn der Betroffene in Anbetracht seiner wirtschaftlichen und sozialen Situation in der Lage ist, seine Grundbedürfnisse mit den ihm zur Verfügung stehenden Existenzmitteln selbst zu decken (EuGH Urteil vom 09.01.2007, C-1/05, Rn. 37, juris). Das war hier nicht der Fall, weil die Klägerin bereits im Februar 2018 einen ersten Leistungsantrag beim Beklagten gestellt hat und nach dessen Ablehnung vom Zeugen B. finanziell unterhalten wurde sowie ergänzend vom Kindergeld gelebt hat. Die Voraussetzungen nach Art. 7 Abs. 1 Buchst. c) und d) liegen nicht vor.

 

b. Die Klägerin kann sich auch nicht auf ein nachwirkendes Aufenthaltsrecht im Anschluss an ihre selbständige Tätigkeit als Prostituierte nach § 2 Abs. 3 FreizügG/EU berufen. Nach § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU bleibt das aus der Selbständigkeit resultierende Aufenthaltsrecht unberührt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit oder Einstellung einer selbständigen Tätigkeit infolge von Umständen, auf die der Selbständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit. Im Hinblick auf das Erfordernis einer Bestätigung der Agentur für Arbeit, die nach der Rechtsprechung des BSG grundsätzlich erforderlich ist (BSG Urteile vom 13.07.2017, B 4 AS 17/16 R, Rn. 34, juris; und vom 09.03.2022, B 7/14 AS 79/20 R, Rn. 27 ff., juris), ist umstritten, ob dieses Erfordernis nur für Arbeitnehmer gilt (so Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 2 FreizügG/EU, Rn. 121; a.A. Bayerisches LSG Urteil vom 26.02.2019, L 11 AS 899/18, Rn. 32, juris; SG Berlin Urteil vom 15.06.2022, S 134 AS 8396/20, Rn. 42, juris; Tewocht in BeckOK-Ausländerrecht, Stand: 01.10.2021, § 2 FreizügG/EU, Rn. 51; Brinkmann in Huber/Mantl, AufenthG/AsylG, 2021, § 2 FreizügG/EU, Rn. 50). Dies kann im Ergebnis dahinstehen, da von einer selbständigen Tätigkeit im Sinne des EU-Rechts nicht auszugehen ist (dazu aa.) und die Klägerin sich – auch bei unterstellter selbständiger Erwerbstätigkeit im Sinne des Europarechts – nicht auf die Nachwirkungen dieser Selbständigkeit berufen könnte (dazu bb. und cc.).

 

aa. Die Klägerin hat keine selbständige Tätigkeit im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 2 (oder Nr. 3) FreizügG/EU ausgeübt; die Voraussetzungen nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU entfallen von vornherein, weil die Klägerin unstreitig keine Arbeitnehmerin im Sinne der Norm war. Die Tätigkeit als Prostituierte unterfällt grundsätzlich dem Anwendungsbereich des § 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU (vgl. dazu Hessisches LSG Beschluss vom 21.08.2020, L 6 AS 383/20 B ER, Rn. 27 ff., juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 28.01.2013, L 14 AS 3133/12 B ER, Rn. 10 f., juris; SG Berlin Urteil vom 15.06.2022, S 134 AS 8396/20, Rn. 29 ff., juris). Die Frage, ob die Tätigkeit als Prostituierte angemeldet worden sein muss (so noch Senatsbeschluss vom 20.08.2012, L 12 AS 531/12 B ER, Rn. 18, juris), kann im Ergebnis dahinstehen. Auch wenn an die Annahme einer selbständigen Tätigkeit im EU-rechtlichen Sinne keine allzu hohen Anforderungen zu stellen sind (vgl. etwa EuGH Urteil vom 08.05.2019, C-230/18, Rn. 47, juris; Tewocht in BeckOK-Ausländerrecht, Stand: 01.10.2021, § 2 FreizügG/EU, Rn. 31 ff.), sind diese Voraussetzungen vorliegend nicht nachgewiesen. Erforderlich ist nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 (und Nr. 3) FreizügG/EU eine wirtschaftliche Erwerbstätigkeit, die eigenverantwortlich und auf eigenes Risiko ausgeübt wird. Die Tätigkeit muss entgeltlich erbracht werden und eine Teilnahme am Wirtschaftsleben darstellen. Notwendig ist eine ernsthafte Gewinnerzielungsabsicht. Wie bei Arbeitnehmern scheiden unwesentliche bzw. vollkommen untergeordnete Erwerbstätigkeiten aus. Eine tatsächlich existenzsichernde Tätigkeit ist indes nicht erforderlich (Leopold in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage 2020, § 7 <Stand: 29.11.2021>, Rn. 103 m.w.N.). Für die Erbringung von Dienstleistungen einer Prostituierten hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) eine entgeltliche Dienstleistung gefordert, die vom Dienstleistungserbringer auf unbestimmte Zeit und mit Hilfe einer festen Infrastruktur ausgeübt wird (EuGH Urteil vom 08.05.2019, C-230/18, Rn. 47, juris).

 

Der Senat konnte sich trotz ausführlicher Befragung der Klägerin hinsichtlich des Umfangs ihrer Tätigkeit und ihres Verdienstes nicht davon überzeugen, dass diese eine Tätigkeit mit Gewinnerzielungsabsicht bzw. eine Tätigkeit mit nicht untergeordneter Bedeutung ausgeübt hätte. Eine Gewerbeanmeldung ist zu keinem Zeitpunkt erfolgt. Einkommensteuer hat die Klägerin zu keinem Zeitpunkt abgeführt. Es liegt nur ein Vergnügungssteuerbescheid über einen Zeitraum vom 01.05.2016 bis 31.08.2016 in Höhe von 216 Euro vor. Die Klägerin hat im Rahmen ihrer Anhörung durch den Senat am 15.02.2023 nur vage Angaben zu ihrem Einkommen als Prostituierte gemacht. Zwar hat sie angegeben, an „guten Tagen“ manchmal 500 Euro verdient zu haben. Andererseits hat sie erklärt, manchmal nur 50 Euro am Tag erwirtschaftet und teilweise 400 Euro an wöchentlicher Miete für die Nutzung der Bordellräume entrichtet zu haben. Ein durchschnittlicher (erheblicher) Verdienst lässt sich anhand dieser Angaben weder darstellen noch überprüfen. Der Umstand, dass die Klägerin so viel verdient haben will, dass es zeitweise auch zur Unterhaltung der Wohnung und ihrer Kinder in Polen gereicht haben soll, ist ein Indiz für eine nicht untergeordnete Tätigkeit. Aussagekräftige Unterlagen, anhand derer das tatsächliche Einkommen beurteilt werden könnte, liegen aber nicht vor. Die Klägerin hat auf Befragen des Senats am 15.02.2023 ausdrücklich erklärt, über keine weiteren Unterlagen als die bislang eingereichten zu verfügen. Der Verwaltungsbeschäftigte der Beigeladenen Herr V. hat im Rahmen des Beweisaufnahmetermins am 16.06.2021 erklärt, dass Unterlagen über die Klägerin nicht bekannt seien, weil nach den geltenden Datenschutzvorschriften Daten drei Monate nach Ablauf der Meldebescheinigung bzgl. der Prostitutionstätigkeit vernichtet würden. Weitere Ermittlungsmöglichkeiten für den Senat gemäß § 103 S. 1 Hs. 1 SGG bestehen insoweit nicht. Die fehlende Nachweisbarkeit einer selbständigen Erwerbstätigkeit im europarechtlichen Sinne geht nach den allgemeinen Beweislastgrundsätzen (vgl. BSG Urteil vom 14.10.2014, B 1 KR 27/13 R, Rn. 18 m.w.N., juris) zu Lasten der Klägerin, weil der Nachweis eines Aufenthaltsrechts auf Grundlage einer selbständigen Erwerbstätigkeit eine für sie günstige Tatsache darstellt.

 

bb. Gegen das Vorliegen eines nachwirkenden Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU spricht ferner, dass die Norm zeitlich im Falle der Klägerin nicht anwendbar ist (vgl. dazu Dienelt in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Auflage 2022, § 2 FreizügG/EU, Rn. 126 ff.). Nach der Rechtsprechung des EuGH bleibt der Status aus der Erwerbstätigkeit grundsätzlich zeitlich unbeschränkt erhalten. Ein Unionsbürger, der seine Erwerbstätigkeit als Arbeitnehmer oder Selbständiger vorübergehend aufgegeben habe, könne – so der EuGH – die Erwerbstätigeneigenschaft nach Art. 7 Abs. 3 der RL 2004/38/EG und das damit verbundene Aufenthaltsrecht nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie nur behalten, wenn er innerhalb eines angemessenen Zeitraums zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats fähig sei und hierfür zur Verfügung stehe (EuGH Urteil vom 11.04.2019, C-483/17, Rn. 27, 40, juris). Die Erwerbstätigeneigenschaft lässt sich daher nur dann aufrechterhalten, wenn der Unionsbürger nachweist, dem Arbeitsmarkt des Aufnahmestaates zur Verfügung zu stehen. Dabei muss er sich nicht nur der Arbeitsverwaltung zur Verfügung stellen, sondern auch die notwendigen Eigenbemühungen vornehmen, um eine Arbeitsstelle zu finden. Darüber hinaus muss der Unionsbürger binnen angemessener Frist zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt und damit zur Ausübung einer beruflichen Tätigkeit fähig sein (Sächsisches LSG Beschluss vom 12.07.2021, L 7 AS 651/21 B ER, Rn. 36, juris). Die Bemessung einer angemessenen Frist, binnen derer ein Unionsbürger zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaats fähig (gewesen) ist, bestimmt sich nach den konkreten Gesamtumständen des jeweiligen Einzelfalls (Hessischer VGH Beschluss vom 16.04.2021, 9 A 2282/19, Rn. 39, juris). Dabei ist insbesondere die Zeitdauer seit Beginn der unfreiwilligen Arbeitslosigkeit zu berücksichtigen. Je länger ein Unionsbürger unfreiwillig arbeitslos ist, desto höher sind die Anforderungen an die Darlegung der Voraussetzung der Wiedereingliederungsfähigkeit des Unionsbürgers und desto eher ist die Annahme gerechtfertigt, dass dieser zur Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt nicht mehr fähig ist. Daneben können persönliche Umstände des Betroffenen relevant werden, wie das Alter, die Sprachkenntnisse, die schulische und berufliche Ausbildung und etwaige Vorstrafen (Sächsisches LSG a.a.O.; Hessischer VGH a.a.O.). 

 

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe liegt zwischen der Beendigung der Erwerbstätigkeit im Juli 2017 und dem Leistungsantrag im Februar 2020 ein erheblicher Zeitraum, in welchem weder eine Meldung bei der Agentur für Arbeit noch sonstige Bemühungen der Klägerin für eine Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt dokumentiert sind, auch nicht nach der Geburt ihres Kindes im April 2018.

 

cc. Ein nachwirkendes Aufenthaltsrecht ergibt sich schließlich nicht aus § 2 Abs. 3 S. 2 FreizügG/EU. Danach bleibt bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung das Recht aus Absatz 1 während der Dauer von sechs Monaten unberührt. Unabhängig von der Frage der Übertragbarkeit auf Selbständige und unabhängig von der Frage der Notwendigkeit einer entsprechenden Feststellung durch die Agentur für Arbeit ist dieses nachwirkende Aufenthaltsrecht auf sechs Monate beschränkt. Es ist damit im hier relevanten Zeitraum ab Stellung des Leistungsantrags im Februar 2020 nicht mehr von Belang, weil die Beendigung der Tätigkeit Mitte 2017 erfolgte.

 

c. Die Kläger können sich jedoch auf eine Rückausnahme vom Leistungsausschluss berufen. Nach dem mit dem „Gesetz zur Regelung von Ansprüchen ausländischer Personen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch“ vom 22.12.2016 (BGB l, 3155) mit Wirkung zum 29.12.2016 eingeführten § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II erhalten abweichend von § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II Ausländerinnen und Ausländer und ihre Familienangehörigen Leistungen nach dem SGB II, wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet haben; dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechtes nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt wurde. Die Frist beginnt mit der Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde (§ 7 Abs. 1 S. 5 SGB II). Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthaltes, in denen eine Ausreisepflicht besteht, werden auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet (§ 7 Abs. 1 S. 6 SGB II). Die Klägerin betreffend ist jedoch weder der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU festgestellt, noch sind seit ihrer erstmaligen Anmeldung bei der zuständigen Meldebehörde der Beigeladenen am 04.04.2013 Zeiten einer Ausreisepflicht in Abzug zu bringen. Denn eine Ausreisepflicht i.S.d. § 7 Abs. 1 S. 6 SGB II besteht nur nach Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts (§ 7 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU). Bis dahin gilt die sog. „Freizügigkeitsvermutung“. Nicht anzurechnen, d.h. aus dem Fünfjahreszeitraum herauszurechnen, ist damit lediglich die weitere Aufenthaltszeit nach der Verlustfeststellung (Leopold in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage 2020, § 7 <Stand: 29.11.2021>, Rn. 166; Becker in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Auflage 2021, § 7, Rn. 53).

 

Der Senat geht unter Berücksichtigung des Vortrags der Beteiligten und des Akteninhalts nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung (§§ 153 Abs. 1, 128 Abs. 1 S. 1 SGG) davon aus, dass die Klägerin seit der Wiederanmeldung in der H.-straße 22 in Z am 20.04.2015 – und damit seit mindestens fünf Jahren – ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet gehabt hat, insbesondere auch während der entscheidungserheblichen Meldelücke vom 07.09.2016 bis 06.07.2017 (dazu bb.). Entgegen der Ansicht des Beklagten hängt das Tatbestandsmerkmal des „gewöhnlichen Aufenthalts“ i.S.d. § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II nicht davon ab, dass die Klägerin sich hier niedergelassen haben muss (dazu aa.). Ferner verlangt das Gesetz kein durchgehendes Gemeldetsein im Sinne ununterbrochener melderechtlicher Nachweise innerhalb der letzten fünf Jahre vor dem Leistungsantrag (dazu cc.).

           

aa. Der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist im SGB II selbst nicht festgelegt. Es ist deswegen Rückgriff auf die in § 30 Abs. 3 S. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch – Allgemeiner Teil (SGB I) enthaltene Definition zu nehmen (vgl. BT-Drucks. 15/1516, S. 52). Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand nach dieser Norm dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Der gewöhnliche Aufenthalt hat damit 1. ein zeitliches Moment („nicht nur vorübergehend“), 2. ein Umstandsmoment („unter Umständen…“), welches mit einer vorausschauenden Betrachtung künftiger Entwicklungen, die eine gewisse Stetigkeit und Regelmäßigkeit des Aufenthalts, nicht aber dessen Lückenlosigkeit erfordern, festzustellen ist, und 3. ein subjektives Moment (Wille der Person); sofern ein solcher Wille nicht explizit geäußert wird, ist von den äußeren Umständen auf den Willen zu schließen (Leopold in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage 2020, § 7 <Stand: 29.11.2021>, Rn. 83).

 

Zur Ausfüllung dessen haben sich Behörden und Gerichte an den tatsächlichen Verhältnissen zu orientieren, d.h. an der Anwesenheit der Person an einem Ort, die nicht nur vorübergehender Natur ist, sondern zukunftsoffen den Lebensmittelpunkt ausmacht (Leopold a.a.O., Rn. 77). Entscheidend ist, ob der örtliche Schwerpunkt der Lebensverhältnisse faktisch dauerhaft im Inland ist. Dauerhaft ist ein solcher Aufenthalt, wenn und solange er nicht auf Beendigung angelegt, also zukunftsoffen ist. Kurze Unterbrechungen, die die Zukunftsoffenheit des Aufenthalts in Deutschland nicht infrage stellen, etwa kurze Heimatbesuche, hindern die Annahme des gewöhnlichen Aufenthalts nicht, wohl aber wesentliche Unterbrechungen (Senatsbeschluss vom 08.12.2021, L 12 AS 1644/21 B ER, Rn. 41, juris m.w.N.). Die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthaltes setzt nicht voraus, dass sich die Person an einem bestimmten Ort in Deutschland aufhält. Der Aufenthalt an einem bestimmten Ort in Deutschland hat lediglich für die Abgrenzung der örtlichen Zuständigkeit der Leistungsträger (vgl. § 36 SGB II) Bedeutung. Ein fester Wohnsitz (i.S.d. § 7 BGB), die Anmietung einer Wohnung oder eine ordnungsbehördliche Anmeldung sind zur Begründung eines gewöhnlichen Aufenthalts ebenfalls nicht erforderlich. Grundsätzlich kann aber davon ausgegangen werden, dass am (angemeldeten) Wohnsitz auch der gewöhnliche Aufenthalt begründet ist (Leopold, a.a.O., Rn. 79 f.).

 

Entgegen der Auffassung des Beklagten kommt es bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals des gewöhnlichen Aufenthalts nicht maßgeblich auf die Frage an, ob die Klägerin eine Dienstleistung erbracht hat, ohne sich hier niedergelassen zu haben. Zwar bleiben nach § 30 Abs. 2 S. 1 SGB I Regelungen des über- und zwischenstaatlichen Rechts unberührt, d.h., sie gehen den Regelungen in § 30 Abs. 1 und Abs. 3 SGB I vor. Die in § 30 SGB I enthaltene Definition wird z.B. im Anwendungsbereich der VO (EG) Nr. 883/2004 unionsrechtlich überlagert, denn der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist auch ein solcher des EU-Rechts. Er dient in Art. 1 Buchst. j VO (EG) Nr. 883/2004 als Definition des Begriffes Wohnort. Dieser wird in Art. 11 VO (EG) Nr. 987/2009 näher bestimmt. Bedeutung erlangt der Wohnortbegriff insbesondere für sog. Grenzgänger – legaldefiniert in Art. 1 Buchst. f VO (EG) Nr. 883/2004. Grenzgänger, die ihren Wohnort (= gewöhnlichen Aufenthalt) in einem benachbarten Staat nehmen, haben gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II keinen Anspruch auf SGB II-Leistungen. Eine solche grenzüberschreitende Konstellation liegt hier aber nicht vor. Auch das vom Beklagten in diesem Zusammenhang genannte Urteil des BSG vom 13.07.2017 (B 4 AS 17/16 R) verhält sich zu der Frage, ob der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts durch das Unionsrecht überlagert wird, nicht. Streitig war dort die Frage, ob ein fortbestehendes Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 FreizügG/EU folgt und eine „mehr als einjährige Tätigkeit“ eines Arbeitnehmers im Sinne dieser Norm vorlag. Ungeachtet dessen existiert für die Rechtsauffassung des Beklagten, dass die sich nicht niederlassende Dienstleistende keinen gewöhnlichen Aufenthalt in dem Staat, in dem die Dienstleistung erbracht wird, begründen könne, kein normativer Ansatz. Insbesondere ergibt sich dieser entgegen der Ansicht des Beklagten nicht aus Ziffern 2.2.3 und 2.2.4 zu § 2 der „Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Freizügigkeitsgesetz/EU (AVV zum FreizügG/EU)“ vom 03.02.2016 (GMBl 2016 Nr. 5, S. 86), weil darin allein der Begriff des Freizügigkeitsberechtigten definiert wird. Ferner trifft die Behauptung des Beklagten nicht zu, dass die Klägerin gegen eine innerstaatliche Anmeldepflicht als Prostituierte verstoßen habe. Denn der Verwaltungsbeschäftigte der Beigeladenen Herr V. hat im Rahmen seiner Zeugenvernehmung im Beweisaufnahmetermin am 16.06.2021 ausgeführt, dass es vor dem 01.07.2017 keine Meldepflicht für die Tätigkeit als Prostituierte gegeben habe. Seitdem sei eine Pflicht eingeführt worden; eine Nachanzeige sei bis zum 31.12.2017 möglich gewesen. Diese Angaben stimmen mit § 3 Abs. 1, § 37 Abs. 1 des „Gesetzes zur Regulierung des Prostitutionsgewerbes sowie zum Schutz von in der Prostitution tätigen Personen (ProstSchG)“ vom 21.10.2016 (BGBl. I, S. 2372; in Kraft getreten am 01.07.2017) überein, die eine Anmeldepflicht der Prostitution ab dem 01.07.2017 bzw. spätestens bis zum 31.12.2017 vorsehen, wenn die Prostitution vor dem 01.07.2017 ausgeübt wurde. Nach diesen normativen Vorgaben hätte die Klägerin allein durch die untersagte Anmeldung ihrer Prostitution bis zum Beginn ihrer Schwangerschaft Mitte des Jahres 2017 nicht gegen innerstaatliches Recht verstoßen. Bei der Prostitution handelt es sich auch nicht um eine genehmigungspflichtige Tätigkeit im Sinne und Rahmen der Gewerbeordnung (vgl. § 6 Abs. 1 S. 1 Gewerbeordnung).

 

Gegen den Rechtsstandpunkt des Beklagten spricht auch, dass es für die Frage des gewöhnlichen Aufenthalts nach § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II nicht zusätzlich auf das Bestehen eines rechtmäßigen Aufenthalts in Deutschland ankommt (Hessisches LSG Beschluss vom 14.10.2009, L 7 AS 166/09 B ER, Rn. 19, juris). Auch das BSG hat entschieden, den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts losgelöst von einer aufenthaltsrechtlichen „Anreicherung“ zu bestimmen (BSG Urteile vom 30.01.2013, B 4 AS 54/12 R, Rn. 18 f., juris; und vom 16.12.2008, B 4 AS 40/07 R, Rn. 13, juris unter Aufgabe von BSG Urteil vom 16.05.2007, B 11b AS 37/06 R, Rn. 22, juris). Eine solche würde die an den tatsächlichen Verhältnissen orientierte Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts beeinträchtigen und sie ohne Not mit rechtlichen Aspekten vermengen. Eine aufenthaltsrechtliche Komponente im Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts führte auch zu Verwerfungen mit der Annahme, ein solcher könne im Einzelfall auch mit dem ersten Tag des tatsächlichen Aufenthalts begründet werden. Allein der Besitz eines befristeten Aufenthaltstitels lässt zudem keine belastbare Aussage darüber zu, welche Bleibeperspektive eine Person längerfristig hat (Leopold in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage 2021, § 7 <Stand: 29.11.2021>, Rn. 85). Soweit der EuGH in ständiger Rechtsprechung (vgl. etwa EuGH Urteile vom 19.09.2013, C-140/12 - Brey, Rn. 44 ff., juris; vom 11.11.2014, C-333/13 - Dano, Rn. 69 ff., juris; und vom 15.09.2015, C-67/14 - Alimanovic, Rn. 49 f., juris) geäußert hat, die Mitgliedstaaten dürften die Inanspruchnahme besonderer beitragsunabhängiger Geldleistungen i.S.v. Art. 3 Abs. 3, 70 VO (EG) Nr. 883/2004 bzw. Sozialhilfeleistungen i.S.v. Art. 24 Abs. 2 RL 2004/38/EG durch Unionsbürger von einem wirksamen Aufenthaltsrecht abhängig machen, ist darin keine Aussage über den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts enthalten. Die Prüfung, ob ein Aufenthaltsrecht besteht und welche Bedeutung dem zukommen soll, erfolgt systematisch zutreffend im Rahmen der Leistungsausschlüsse nach § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II und nicht bereits bei den allgemeinen Leistungsvoraussetzungen gemäß § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II. Einer Modifikation der Definition des gewöhnlichen Aufenthaltes bedarf es deswegen nicht (Leopold, a.a.O.).

 

Soweit der Beklagte sinngemäß meint, dass die Klägerin allein Dienstleistungen erbracht habe, ohne tatsächlich ihren dauerhaften Aufenthalt im Inland begründet zu haben und jederzeit habe nach Polen zurückkehren können, ist das unter dem Aspekt des „subjektiven Willens“ zu prüfen (dazu sogleich). Eine Überlagerung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts durch Unions- bzw. Aufenthaltsrecht findet jedenfalls im Falle der Klägerin nicht statt.

 

bb. Die Klägerin hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt mindestens seit dem 20.04.2015 durchgehend in Deutschland gehabt. Für die Zeiträume vom 20.04.2015 bis 06.09.2016 und seit dem 07.07.2017 liegen jeweils ordnungsgemäße behördliche Meldungen vor. Der Senat ist davon überzeugt, dass die Klägerin in diesen Zeiträumen tatsächlich ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland gehabt hat. Anlass zu Zweifeln am gewöhnlichen Aufenthalt im Inland trotz ordnungsbehördlicher Meldungen bestünden nur dann, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die Betreffende sich wiederholt oder dauerhaft im Ausland aufgehalten hat. Davon kann hier mangels Anhaltspunkten nicht ausgegangen werden und ist zu Recht zwischen den Beteiligten unstreitig. Der Umstand, dass die Klägerin sich im Streitzeitraum wiederholt in Polen zu Urlaubs- und Besuchszwecken aufgehalten hat, steht diesem Ergebnis nicht entgegen. Unwesentliche Unterbrechungen des Aufenthalts in Deutschland – z.B. ein kurzer Heimatbesuch – sind bei der Bestimmung der Fünfjahresfrist ausweislich der Gesetzesmaterialien unschädlich (BT-Drucks. 18/10211, S. 14). Dass die Besuche in Polen über kurze Heimatbesuche hinausgegangen wären, ergibt sich weder aus dem Vortrag der Klägerin noch aus den sonstigen aktenkundigen Unterlagen. Der Zeuge B. hat ebenfalls bestätigt, dass die Klägerin immer nur für wenige Tage nach Polen gegangen und wieder zurückgekehrt sei.

 

Der Senat ist ferner davon überzeugt, dass die Klägerin auch während der hier streitigen Meldelücke vom 07.09.2016 bis 06.07.2017 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland gehabt hat. Für diese Annahme sprechen zunächst Unterlagen, von denen eine erhebliche Indizwirkung für einen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland ausgeht: Das von der Klägerin vorgelegte Schreiben des Kassen- und Steueramtes der Beigeladenen vom 19.09.2016 soll ihr unter der Adresse D.-straße 40 in Z „persönlich übergeben“ worden sein, was auf einen Aufenthalt in Z in dieser Zeit hindeutet. Dies korrespondiert – wie das SG schon zutreffend ausgeführt hat – mit dem Bericht des Ermittlungsdienstes des Steueramtes der Beigeladenen vom 07.09.2016. Danach sei die Klägerin am 06.09.2016 nicht mehr in Z unter der Adresse H.-straße 22 angetroffen worden; Klingel und Briefkasten seien nicht beschriftet gewesen; von einer Hausbewohnerin sei mitgeteilt worden, dass die Klägerin „ein paar Tage“ in W. gearbeitet habe und sich wieder in Z aufhalte. Zu nennen ist ferner der Vergnügungssteuerbescheid vom 08.11.2016, der an die Klägerin unter ihrer Anschrift in der D.-straße 40 adressiert wurde. Die Klägerin hat ferner Quittungen von Frau U., einer vormaligen Vermieterin, vom 21.05.2017, 28.05.2017 und 04.06.2017 über den Erhalt der „Miete“ i.H.v. jeweils 273 Euro eingereicht. Diese beziehen sich auf Mietzahlungen für die Zeiträume vom 21.05.2017 bis 11.06.2017. Aktenkundig ist ferner ein Schreiben des Rechtsanwalts C. im Auftrag der N. vom 14.01.2019. Darin wird der Anspruch der N. auf ein Beförderungsentgelt wegen einer „Schwarzfahrt“ der Klägerin am 09.06.2017 um 22.19 Uhr in der N.-Linie N01 in Richtung R. geltend gemacht. Der Umstand, dass die Klägerin in der Meldelücke am 08.11.2016 erneut ein Konto bei der Postbank eröffnet hat, steht der Annahme eines mindestens fünfjährigen gewöhnlichen Aufenthaltes im Inland nicht entgegen. Zwar konnte die Klägerin auf Nachfrage des Senats nicht erklären, ob sie das vorangegangene Girokonto nur deshalb geschlossen hatte, weil sie nach Polen zurückzukehren beabsichtigte. Andererseits kann aus dem Umstand der Kontoeröffnung im Inland allein auch auf eine Bleibeperspektive geschlossen werden.

 

Auch der Umstand, dass die Klägerin keine Einkommensteuererklärung beim Finanzamt während ihrer Tätigkeit als Prostituierte abgegeben hat, kann nicht als Indiz gegen ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gewertet werden. Gleiches gilt für die (nur einmalige) Entrichtung der Vergnügungssteuer gegenüber der Beigeladenen. Der Zeuge V. hat im Rahmen des Beweisaufnahmetermins am 16.06.2021 angegeben, dass die Einhaltung behördlicher Auflagen von Seiten der Ordnungsbehörde nicht überwacht werde. Nur die Bordellbetriebe würden kontrolliert. Von der Tätigkeit erfahre die Beigeladene daher nur über eigene Kontrollen oder durch die Meldung der Prostituierten bzw. der Bordellbetreiber selbst. Vor diesem Hintergrund ist auch die Veranlagung zur Vergnügungssteuer allein für das Jahr 2016 zu sehen. Mangels einer engmaschigen Geltendmachung der Vergnügungssteuer kann allein das Fehlen entsprechender Bescheide nicht als Indiz gegen den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland gewertet werden. In diesem Zusammenhang hat der Zeuge V. ausgeführt, dass es vor dem 01.07.2017 keine Meldepflicht hinsichtlich der Tätigkeit als Prostituierte bei dem Amt für öffentliche Ordnung der Beigeladenen gegeben habe. Dieser Zeitpunkt fällt in etwa zusammen mit dem Beginn der Schwangerschaft der Klägerin und der mutmaßlichen Beendigung ihrer Tätigkeit als Prostituierte.

 

Zwar beziehen sich die schriftlichen Unterlagen aus der Zeit der streitentscheidenden Meldelücke auf den Zeitraum vom 06.09.2016 bis 08.11.2016 und vom 21.05.2017 bis 11.06.2017, so dass zumindest zwischen Dezember 2016 und April 2017 eine größere Lücke ohne schriftliche Nachweise eines gewöhnlichen Aufenthalts der Klägerin im Bundesgebiet verbleibt. Diese Lücke ist zur Überzeugung des Senats jedoch durch andere Beweismittel als „geschlossen“ zu betrachten.

 

Die Beteiligtenvernehmung ist im SGG als förmliche Beweiserhebung zwar nicht vorgesehen, weil § 118 Abs. 1 S. 1 SGG nicht auf die §§ 445 ff. Zivilprozessordung (ZPO, Beweis durch Parteivernehmung) verweist (vgl. BSG Beschluss vom 31.10.1956, 4 RJ 267/55, Rn. 5 juris). Es ist jedoch anerkannt, dass auch der Sachvortrag der Beteiligten von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit bei der Überzeugungsbildung verwertet werden muss, denn auch dieser Sachvortrag gehört zu dem in § 128 SGG genannten „Gesamtergebnis des Verfahrens“ (vgl. BSG Urteil vom 06.12.1966, 9 RV 194/64, Rn. 9 juris; Senatsurteil vom 24.11.2021, L 12 SO 330/20, Rn. 74, juris). Die Klägerin hat im Rahmen des Klage- und Berufungsverfahrens sowie diverser einstweiliger Rechtsschutzverfahren wiederholt und insoweit konsistent ausgeführt, sich seit ihrem Zuzug nach Deutschland im Jahr 2012 überwiegend im Inland und jeweils nur für kurze Zeiträume in Polen aufgehalten zu haben. So hatte die Klägerin bereits in ihrer E-Mail vom 30.10.2017 – noch bevor der Beklagte sich erstmals auf einen Leistungsausschluss berufen hat – mitgeteilt, dass sie bereits seit fünf Jahren in Z lebe und die letzten drei Jahre mit ihrem Freund in der S.-straße 64 in Z gewohnt habe. Die Klägerin hat im Rahmen des Beweisaufnahmetermins am 23.02.2022 und während des Verhandlungstermins am 15.02.2023 nachvollziehbar geschildert, dass sie auch in der Lücke vom 07.09.2016 bis 06.07.2017 überwiegend in Deutschland gewesen sei. In Polen sei sie nur für einige Tage gewesen. Auch der Vortrag, dass sie anfangs regelmäßiger und länger in Polen gewesen sei, stimmt mit ihrem übrigen Vortrag überein, dass sie zwei Söhne aus früheren Beziehungen in Polen zu versorgen und eine Wohnung dort zu unterhalten hatte. Dass dies ab Beginn der Schwangerschaft Mitte 2017 nicht mehr der Fall gewesen sein soll, ist ebenfalls nachvollziehbar, zumal neben dem erwarteten Nachwuchs und der Beziehung zum Kindsvater auch der Umstand im Sinne eines dauerhaften Bleibewillens zu berücksichtigen ist, dass die in den Jahren 1996 und 2001 geborenen Söhne aus den früheren Beziehungen schließlich auch älter und selbständiger wurden. Die Söhne in Polen hatten mit ihrer dort lebenden Tante und ihrem Großvater sowie – der jüngere Sohn – mit seinem leiblichen Vater feste Bezugspersonen und damit Halt gebende Strukturen, die mit der Annahme eines dauerhaften Bleibewillens der Klägerin in Deutschland vereinbar sind. Vor diesem Hintergrund erscheint auch die Heirat mit Herrn Y. im August 2015 nicht unverständlich, weil die Klägerin ohne einen gesetzlichen Vormund sich möglicherweise dazu veranlasst gesehen hätte, Deutschland zu verlassen, um nach Polen zu ihren Söhnen zurückzukehren. Die Heirat im August 2015 stellt insoweit ein Indiz für den Bleibewillen der Klägerin dar. Dieser subjektive Bleibewille wird durch die verschiedentlichen Meldungen der Klägerin bei den Ordnungsbehörden ebenfalls bestätigt. Von einem stetigen subjektiven Rückkehrwillen auszugehen, wie der Beklagte das ohne konkrete Anhaltspunkte behauptet, ist daher nicht überzeugend.

 

Obwohl es im Vortrag der Klägerin auch Widersprüche gibt, insbesondere hinsichtlich der zeitlichen Zuordnung, wann sie jeweils in welcher Straße in Z während der Meldelücke vom 07.09.2016 bis 06.07.2017 gewohnt hat, bleibt der Kernvortrag dem Grunde nach konsistent, dass nämlich der gewöhnliche Aufenthalt in Deutschland war. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin gerade auch wegen der wiederholten Konflikte mit dem Zeugen B., die von diesen beiden und der Zeugin L. im Rahmen ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 05.06.2023 bestätigt wurden, zwischen verschiedenen Wohnungen im Jahr 2016 und 2017 pendelte, so dass Schwierigkeiten hinsichtlich einer klaren Zuordnung, wann welche Wohnung bewohnt wurde, nachvollziehbar sind. Da der Senat auch nur den gewöhnlichen Aufenthalt im Inland als Maßstab zugrunde zu legen hat, kommt es auf den Aufenthalt in einer konkreten Wohnung nicht an.

 

Der klägerische Vortrag eines gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland, insbesondere im Zeitraum von Dezember 2016 bis April 2017, für den es keine schriftlichen Aufzeichnungen gibt, wird gestützt durch die Zeugenaussagen der Herren A. und J., die Kunden der Klägerin waren. Diese haben in von der Klägerin vorgelegten Stellungnahmen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren S 40 AS 1726/20 ER erklärt, dass die Klägerin in der Meldelücke vom 07.09.2016 bis 07.07.2017 in Z gewohnt habe. Im Rahmen des vom SG durchgeführten Verhandlungstermins am 21.12.2020 hat der Zeuge J. angegeben, dass er die Klägerin seit sieben bis acht Jahren kenne und Stammkunde bei ihr gewesen sei. Er sei alle zwei, drei bzw. längstens sieben Wochen bei ihr gewesen und habe ständig Kontakt mit ihr gehabt. Der Zeuge A. hat angegeben, dass er die Klägerin im Zeitraum 2016/2017 alle zwei bis drei Wochen gesehen habe, einmal seien es auch zwei Monate gewesen, in denen er sie nicht gesehen habe. Er könne sich an die Daten genau erinnern, weil er den Schriftverkehr mit der Klägerin in seinem alten Handy habe nachhalten können. Der Zeuge A. konnte sich im Rahmen seiner Vernehmung vor dem Senat am 14.06.2023 an Einzelheiten seiner Vernehmung vor dem SG zwar nicht mehr genau erinnern. Er hat jedoch auf Vorhalt des Senats bestätigt, dass er die Handydaten damals eingesehen und ausgewertet habe. Die Zeugenvernehmung durch das SG, insbesondere die des Zeugen J., ist dabei für den Senat im Wege des Zeugenbeweises verwertbar (sog. Grundsatz der Einheitlichkeit des sozialgerichtlichen Verfahrens, vgl. § 157 SGG; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Auflage 2020, § 157, Rn. 2c). Der Senat hat insoweit von dem ihm gemäß §§ 153 Abs. 1, 118 Abs. 1 SGG i.V.m. § 398 Abs. 1 ZPO eingeräumten Ermessen pflichtgemäß Gebrauch gemacht und die erstinstanzlich durchgeführte Beweisaufnahme nur zum Teil wiederholt (vgl. BSG Beschluss vom 05.09.2006, B 7a AL 78/06 B, Rn. 6, juris; Sommer in BeckOGK, Stand: 01.05.2023, § 157, Rn. 12). Diesem Vorgehen steht weder der Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (§ 117 SGG) noch der Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung (§ 128 Abs. 1 S. 1 SGG) entgegen. Denn die Glaubwürdigkeit der Zeugen A. und J. steht weder aus Sicht des Senats noch nach dem Beteiligtenvorbringen in Zweifel (vgl. dazu BSG a.a.O.; BSG Urteil vom 28.11.2007, B 11a/7a AL 14/07 R, Rn. 11, juris; Keller a.a.O. m.w.N.).

 

Schließlich spricht auch die Vernehmung des Zeugen B. durch den Senat für einen gewöhnlichen Aufenthalt der Klägerin im Inland (auch) während der hier streitigen Meldelücke. Der Zeuge hat angegeben, dass die Klägerin und er sich 2016 kennen gelernt hätten und im Jahr 2017, nachdem die Klägerin schwanger geworden war, zusammengezogen seien. Sie hätten sich fast jeden Tag gesehen, auch schon vor ihrem Zusammenzug. Die Klägerin sei in dieser Zeit auch nach Polen zu Besuch gefahren, allerdings immer nur für wenige Tage. Der Zeuge B. setzt sich damit zum Teil zwar in Widerspruch zu seinen früheren Angaben im Beweisaufnahmetermin am 23.02.2022. Hier hatte er noch erklärt, die Klägerin 2014 kennengelernt zu haben und im Jahr 2015 mit ihr zusammengezogen zu sein. Ferner widerspricht er damit auch der Darstellung der Klägerin, die ebenfalls erklärt hat, dass sie 2014 einander kennengelernt und 2015 zusammengezogen seien. Dennoch hält der Senat die Angaben des Zeugen B. im Verhandlungstermin am 14.06.2023 für glaubhaft. Dafür spricht das Vorhandensein bestimmter Realitätskriterien (vgl. dazu: Kirchhoff, MDR 2010, 791, 793 m.w.N.), insbesondere der Detailreichtum und die Verflechtung der Angaben mit anderen Geschehnissen. So ist der Zeuge trotz des Vorhalts des Senats bei seiner jüngsten Darstellung geblieben und hat diese näher erläutert. Er hat angegeben, dass die Klägerin und er sich in der Frühjahrs-/Sommerzeit so etwa im Mai/Juni 2016 kennen gelernt hätten. Die Klägerin sei des Öfteren in das Lokal gekommen, in dem er gekellnert habe. Dort habe sie z.B. Carpaccio gegessen oder nur etwas getrunken. Sie hätten sich in dieser Zeit nahezu jeden Tag getroffen. Ein Paar seien sie ab Oktober/November 2016 geworden. Bei ihrem Zusammenzug im Jahr 2017 sei die Klägerin schwanger gewesen. Sie hätten drei Weihnachten gemeinsam verbracht: eines im Jahr 2016 in der S.-straße in Z, eines in Polen im Jahr 2017 und das dritte Weihnachten im Jahr 2018 wieder in Z. Im Jahr 2017 sei er über Weihnachten in Mailand gewesen und sei dann am 27. oder 28.12. von dort nach Polen geflogen. Diese detaillierten Angaben stimmen mit denen der Klägerin überein, die ebenfalls von einem gemeinsamen Weihnachtsurlaub in Polen berichtet hatte, auch wenn sie diese Reise einem anderen Jahr zuordnete als der Zeuge B.. Der Senat konnte in der Aussage des Zeugen B. zudem keine Elemente einer bewussten Steuerung feststellen. Letzten Endes ist für den Nachweis des gewöhnlichen Aufenthalts der Klägerin im Inland vom 07.09.2016 bis 06.07.2017 nicht erheblich, ob sie und der Zeuge B. sich im Jahr 2014 oder 2016 kennengelernt haben. Insofern kann der Senat dahinstehen lassen, ob entweder die Angaben der Klägerin oder die des Zeugen B. in zeitlicher Hinsicht zu korrigieren wären. Entscheidend ist, dass die Klägerin sich im Jahr 2016 und 2017 gewöhnlich im Inland aufgehalten hat. Davon ist der Senat nach Auswertung der Angaben der Klägerin und des Zeugen B. sowie der übrigen, oben genannten Beweismittel überzeugt.

 

cc. Entgegen der Ansicht des Beklagten verlangt das Gesetz nicht, dass der Anspruchsteller durchgehend in den letzten fünf Jahren in Deutschland gemeldet gewesen sein muss (ausführlich dazu und im Folgenden: Senatsbeschluss vom 08.12.2021, L 12 AS 1644/21 B ER, Rn. 47 ff., juris).

 

Soweit in Rechtsprechung und Literatur die seitens des Beklagten aufgegriffene Auffassung vertreten wird, § 7 Abs. 1 S. 4 und 5 SGB II setze fortwährende (und überdies melderechtskonforme) Anmeldungen während der gesamten Dauer der Fünfjahresfrist voraus (so LSG Berlin-Brandenburg Beschlüsse vom 31.05.2021, L 5 AS 457/21 B ER, Rn. 7, juris; und vom 04.05.2020, L 31 AS 602/20 B ER, Rn. 5 f., juris; LSG Schleswig-Holstein Beschluss vom 04.05.2018, L 6 AS 59/18 B ER, Rn. 27, juris; Hessisches LSG Beschluss vom 16.10.2019, L 7 AS 343/19 B ER, Rn. 24, juris; Groth in BeckOK, SGB XII, Stand: 01.06.2023, § 23, Rn. 18e <zu den Parallelvorschriften des § 23 Abs. 3 S. 7 und 8 Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch – Sozialhilfe, SGB XII>; Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, Stand: 07/2021, § 23, Rn. 89d), folgt der Senat dem nicht (so schon: Senatsbeschluss vom 08.12.2021 a.a.O.; wie hier: LSG NRW Beschlüsse vom 18.08.2021, L 21 AS 1016/21 B ER, Rn. 8, juris; vom 23.04.2018, L 7 AS 2162/17 B ER, Rn. 21, juris; und vom 19.04.2022, L 7 AS 1746/21 B ER, Rn. 22, juris; LSG Berlin-Brandenburg Beschlüsse vom 21.10.2021, L 19 AS 929/21 B ER, Rn. 4 ff., juris; vom 01.12.2022, L 19 AS 929/22 B ER, Rn. 28, juris; und vom 24.05.2022, L 8 AS 449/22 B ER, Rn. 9, juris; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 11.05.2020, L 18 AS 1812/19, Rn. 20, juris; LSG Sachsen-Anhalt Beschluss vom 13.09.2021, L 2 AS 446/21 B ER, Rn. 37, juris; LSG Hamburg Beschluss vom 20.06.2019, L 4 AS 34/19 B ER, Rn. 5, juris; LSG Schleswig-Holstein Beschluss vom 09.12.2019, L 6 AS 152/19 B ER, Rn. 9, juris; LSG Niedersachsen-Bremen Beschlüsse vom 03.07.2020, L 8 SO 73/20 B ER, Rn. 29, juris; und vom 25.11.2021, L 8 SO 207/21 B ER, Rn. 17, juris; SG Dortmund Urteil vom 26.01.2022, S 32 AS 3591/18, Rn. 38 ff., juris <Sprungrevision anhängig unter: B 4 AS 8/22 R>; Geiger in Münder/Geiger, SGB II, 7. Auflage 2021, § 7, Rn. 42; Becker in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Auflage 2021, § 7, Rn. 55; Leopold in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage 2020, § 7 <Stand: 29.11.2021>, Rn. 165; noch weitergehender: Siefert in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB XII, 3. Auflage 2020, § 23 <Stand: 05.12.2022>, Rn. 114).

 

Maßgebend für die Auslegung von Gesetzen ist der in der Norm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers. Der Erfassung des objektiven Willens des Gesetzgebers dienen die anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung aus dem Wortlaut der Norm, der Systematik, ihrem Sinn und Zweck sowie aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte, die einander nicht ausschließen, sondern sich gegenseitig ergänzen. Unter ihnen hat keine einen unbedingten Vorrang vor einer anderen (BVerfG Beschluss vom 17.05.1960, 2 BvL 11/59, Rn. 18, juris; BVerfG Urteil vom 20.03.2002, 2 BvR 794/95, Rn. 79, juris). Ausgangspunkt und Grenze der Auslegung ist der Wortlaut der Vorschrift. Für die Beantwortung der Frage, welche Regelungskonzeption dem Gesetz zugrunde liegt, kommt daneben den Gesetzesmaterialien eine nicht unerhebliche Indizwirkung zu (BVerfG Urteil vom 19.03.2013, 2 BvR 2628/10 u.a., Rn. 66 f., juris). Der klar erkennbare Wille des Gesetzgebers darf dabei nicht übergangen oder verfälscht werden (BVerfG Beschluss vom 06.08.2018, 1 BvL 7/14, 1 BvR 1375/14, Rn. 74 f. m.w.N., juris).

 

Die Auffassung, § 7 Abs. 1 S. 4 und 5 SGB II setze für den Lauf der Fünfjahresfrist eine durchgehende Meldung voraus, überschreitet jedoch die systematisch akzentuierte Wortlautgrenze und übersteigt gleichermaßen die Absichten des Gesetzgebers.

 

§ 7 Abs. 1 S. 5 SGB II regelt das Anmeldeerfordernis eindeutig allein im Zusammenhang mit dem Beginn des Laufes der Frist, während § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II im Kontrast dazu für den Fristablauf gerade nicht an das Anmeldeerfordernis, sondern allein an den gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet anknüpft (Senatsbeschluss vom 08.12.2021 a.a.O., Rn. 50, juris; LSG NRW Beschluss vom 18.08.2021, L 21 AS 1016/21 B ER, Rn. 8, juris; eindeutig auch die Formulierung der Parallelvorschrift des § 23 Abs. 3 S. 7 SGB XII: „aufhalten“). Der in seinem Inhalt bereits dargelegte Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts i.S.d. § 30 Abs. 3 S. 2 SGB I setzt unbestritten jedoch gerade keine solche Meldung voraus (vgl. BSG Urteile vom 26.07.1979, 8b RKg 12/78, Rn. 17, juris; vom 28.05.1997, 14/10 RKg 14/94, Rn. 13, juris; und vom 24.06.1998, B 14 KG 2/98 R, Rn. 14, juris; LSG Sachsen-Anhalt Beschluss vom 13.09.2021, L 2 AS 446/21 B ER, Rn. 37, juris; Sächsisches LSG Beschluss vom 31.01.2008, L 3 B 465/07 AS-ER, Rn. 25, juris; Pitz in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Auflage 2018, § 30 <Stand: 13.08.2018>, Rn. 45; Mrozynski, SGB I, 6. Auflage 2019, § 30, Rn. 23). Hätte der Gesetzgeber beabsichtigt, kumulativ eine ununterbrochene Meldung zu fordern, hätte es des Satzes 5 nicht bedurft und nahegelegen, im Rahmen des Satzes 4 das Erfordernis des mindestens fünf Jahre bestehenden gewöhnlichen Aufenthaltes im Bundesgebiet mit dem Erfordernis einer durchgehenden Meldung bei der zuständigen Meldebehörde zu verbinden.

 

Unter systematischen Gesichtspunkten verdeutlicht insofern die Trennung des Anmeldeerfordernisses und des gewöhnlichen Aufenthaltes in zwei Sätze deren unterschiedlichen zeitlichen Aspekt. Satz 4 quantifiziert die Leistungsvoraussetzung des gewöhnlichen Aufenthaltes aus § 7 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 SGB II, der ebenso kein Meldeerfordernis beinhaltet (Senatsbeschluss vom 08.12.2021 a.a.O., Rn. 51, juris; vgl. Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, Stand: 06/2021, § 7, Rn. 110; Leopold in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage 2020, § 7 <Stand: 29.11.2021>, Rn. 77, 80). Außerdem hat der Gesetzgeber die Ausnahmen vom Lauf der Frist explizit geregelt, zu denen eine Unterbrechung der Meldung nicht gehört. Nach § 7 Abs. 1 S. 6 SGB II werden Zeiten des nicht rechtmäßigen Aufenthalts, in denen eine Ausreisepflicht besteht, auf Zeiten des gewöhnlichen Aufenthalts nicht angerechnet (LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 11.05.2020, L 18 AS 1812/19, Rn. 20, juris). Eine Regelung dazu, dass auch eine Unterbrechung der Meldung die Frist unterbricht, findet sich im Gesetz nicht.

 

Wortlaut und Systematik korrespondieren mit der Intention der Rückausnahme, einer durch den Zeitaspekt zum Ausdruck kommenden Verbindung zu Deutschland Rechnung zu tragen, die mit der zwischenzeitlichen Aufgabe des gewöhnlichen Aufenthaltes entfällt und erst nach erneuter Anmeldung wieder zu erwerben ist (Geiger in Münder/Geiger, SGB II, 7. Auflage 2021, § 7, Rn. 41). Die Vorstellung eines längeren und damit verfestigten Aufenthaltes in Deutschland knüpft die Begründung des Gesetzesentwurfes der Bundesregierung, der unverändert verabschiedet worden ist, an den Ablauf eines gewöhnlichen Aufenthalts von mindestens fünf Jahren, nicht an eine durchgehende Meldung. So wird ausgeführt: Sei abzusehen, dass ausländische erwerbstätige Personen ohne materielles Freizügigkeits- oder Aufenthaltsrecht dauerhaft oder jedenfalls für einen längeren Zeitraum in Deutschland verblieben und damit eine Verfestigung des Aufenthaltes eintrete, solle für sie nach fünf Jahren das Leistungsrecht des SGB II und damit auch der Grundsatz des Förderns und Forderns uneingeschränkt gelten. Die verpflichtende Anmeldung bei der Meldebehörde versteht der Gesetzgeber dabei als Startpunkt der Dokumentation der Verbindung zu Deutschland, während die Vorstellung des Entfalls des Leistungsanspruches wiederum nicht an eine (wesentliche) Unterbrechung der Meldung, sondern des Aufenthaltes knüpft. Bei einer solchen Unterbrechung beginne die Fünfjahresfrist neu zu laufen (BT-Drucks. 18/10211, S. 14, ferner S. 16 zur Parallelvorschrift des § 23 Abs. 3 S. 7-9 SGB XII; BR-Drucks. 587/16, S. 9; vgl. ferner Senatsbeschluss vom 08.12.2021 a.a.O., Rn. 52, juris; a.A. Schleswig-Holsteinisches LSG Beschluss vom 04.05.2018, L 6 AS 59/18 B ER, Rn. 27, juris).

 

Dem kann entgegen der Rechtsauffassung des LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 31.05.2021, L 5 AS 457/21 B ER, Rn. 7, juris) wortlautbezogen nicht entgegengehalten werden, § 7 Abs. 1 S. 5 SGB II lasse sich nicht entnehmen, welche Anmeldung für den Beginn der Fünfjahresfrist maßgeblich sei, weil weder von einer erstmaligen oder einer letztmaligen Anmeldung die Rede sei. Dies sei indes erforderlich, ginge man nicht vom Erfordernis einer durchgehenden Meldung aus. Diese Argumentation stellt genau besehen keine Auslegung des Wortlautes dar, sondern eine Modulation des Gesetzestext zur Unterbindung einer Auslegungsfrage, die das LSG Berlin-Brandenburg schließlich entsprechend dazu führt, den Wortlaut in der Verschmelzung der Sätze 4 bis 6 des § 7 Abs. 1 SGB II neu zu fassen, als stünde dort: „wenn sie seit mindestens fünf Jahren ihren gewöhnlichen und rechtmäßigen (...) Aufenthalt haben, gerechnet ab dem Zeitpunkt, ab dem sie im Bundesgebiet durchgehend ordnungsgemäß gemeldet sind (a.a.O. Rn. 7 a.E.). Es ist indes nichts dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber zu einer entsprechenden Formulierung nicht in der Lage gewesen wäre, hätte er ein durchgehendes Meldeerfordernis aufstellen wollen. Die verdrängte Auslegungsfrage lässt sich ohnehin wiederum bereits unter Betrachtung des Wortlautes beantworten. Da § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II im Präsens formuliert ist, wird ohne weiteres erkennbar, dass der gewöhnliche Aufenthalt im Bundesgebiet nach der letzten Anmeldung (nicht Ummeldung) bei der zuständigen Meldebehörde entscheidend ist. Auch insoweit bringt der Wortlaut die dargelegte gesetzgeberische Intention zum Ausdruck (Senatsbeschluss vom 08.12.2021 a.a.O., Rn. 53, juris).

 

Die Annahme, Sinn und Zweck des Meldeerfordernisses geböten eine durchgehende polizeiliche Meldung, weil nur so überprüfbar sei, ob tatsächlich ein gewöhnlicher Aufenthalt im Bundesgebiet vorliege (LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 04.05.2020, L 31 AS 602/20 B ER, Rn. 5, juris), entspringt nicht eigentlich der aus Wortlaut und Gesetzesmaterialen zu entnehmenden Zielsetzung, sondern trägt den typisierenden Erfahrungssatz an den Normbefehl heran, dass, wer an einem Ort gemeldet ist, dort auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Durch die Implementierung einer solchen Beweisregel wird die individuelle Tatsachenkenntnis zur schematischen Tatsachenbestimmung und werden die Rechtsfolgevoraussetzungen wiederum selbst festgelegt. Der Gesetzgeber geht demgegenüber ausdrücklich davon aus, dass sich der mindestens fünfjährige Aufenthalt durch freie Beweismittel und geeignete Nachweise belegen lässt (BT-Drucks. 18/10211, S. 15; BR-Drucks. 587/16, S. 9; vgl. Senatsbeschluss vom 08.12.2021 a.a.O., Rn. 54, juris).

 

Soweit die gegenteilige Ansicht weiter anführt, das Gleichbehandlungsgebot aus Art. 3 Abs. 1 Grundgesetz (GG) gebiete es, für die Zeit nach der Anmeldung fortwährende (und überdies melderechtskonforme) Meldungen zu verlangen, da sich andernfalls nicht rechtfertigen lasse, weshalb derjenige, der sich nachweislich seit mindestens fünf Jahren gewöhnlich in Deutschland aufhalte, sich aber erst kürzlich angemeldet habe, keine Leistungen erhalte, wohl aber derjenige, der in der Folgezeit einer Anmeldung hierzulande fristerfüllend seinen gewöhnlichen Aufenthalt habe (LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 31.05.2021, L 5 AS 457/21 B ER, Rn. 7, juris), überzeugt auch dies nicht. De facto wird das rechtfertigende Potenzial einer ordnungsgemäßen Meldung für eine Ungleichbehandlung seit mindestens fünf Jahren in Deutschland lebender ausländischer Hilfesuchender in Abrede gestellt. Insofern bleibt unerklärt, weshalb gerade eine Verschärfung des Erfordernisses zu einem verfassungskonformen Rechtsverständnis führen soll (Senatsbeschluss vom 08.12.2021 a.a.O., Rn. 55, juris). Ein solches Verständnis liefe auch der höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Vereinheitlichung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts zuwider, wenn dem Gesetzeswortlaut nicht zu entnehmende Tatbestandsmerkmale im Sinne von rechtlichen Erfordernissen zum Aufenthaltsstatus – hier das Erfordernis einer ununterbrochenen behördlichen Meldung – aufgestellt und damit einzelnen Personengruppen der Zugang zu existenzsichernden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts versperrt würde (vgl. BSG Urteil vom 20.01.2013, B 4 AS 54/12 R, Rn. 19, juris; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 11.05.2020, L 18 AS 1812/19, Rn. 20, juris).

 

Ferner führt auch der Hinweis auf die enge Auslegung von Ausnahmevorschriften nicht weiter (so aber: LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 31.05.2021, L 5 AS 457/21 B ER, Rn. 7, juris; Schleswig-Holsteinisches LSG Beschluss vom 04.05.2018, L 6 AS 59/18 B ER, Rn. 27, juris). Zunächst stellt § 7 Abs. 1 S. 4 und 5 SGB II keine Ausnahme, sondern die Begrenzung der Ausnahme des § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II dar. Ohnehin aber fehlt es an einem rationalisierenden Maßstab für das Verhältnis der anerkannten Auslegungsmethoden nach Wortlaut, Zweck, Systematik und Historie zum Postulat der engen Auslegung von Ausnahmevorschriften, das hiernach bestenfalls ein Einfallstor für teleologische Erwägungen sein kann, sich aber nicht eignet, um den gesetzgeberischen Willen zu verschärfen (Larenz, Methodenlehre, 6. Auflage 1991, S. 355 f.; Möller, Juristische Methodenlehre, 3. Auflage 2020, S. 219 f.; Senatsbeschluss vom 08.12.2021 a.a.O., Rn. 56, juris).

 

Soweit der Beklagte schließlich unter Berufung auf das LSG Berlin-Brandenburg (Beschluss vom 04.05.2020, L 31 AS 602/20 B, Rn. 6, juris) meint, dass im Rahmen des § 7 Abs. 1 S. 4 und 5 SGB II nicht angenommen werden könne, der Gesetzgeber habe eine einmalige, möglicherweise nur wenige Tage dauernde Meldung beim Einwohnermeldeamt als Voraussetzung für die Begründung eines zum Leistungsbezug führenden Rechts nach fünfjährigem Aufenthalt ausreichen lassen wollen, verfängt auch dieses Argument nicht. Diesem steht entgegen, dass die einmalige Meldung allein für die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts für einen Zeitraum von fünf Jahren für die Anspruchsentstehung nicht ausreichend ist, sondern die tatsächlichen Verhältnisse in diesem Zeitraum ausschlaggebend sind. Erforderlich ist stets eine Einzelfallprüfung, ob ein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland über mindestens fünf Jahre gegeben ist, wozu auch Meldebescheinigungen, Mietverträge, Abrechnungen mit Energieversorgern etc. herangezogen werden können (LSG Niedersachsen-Bremen Beschluss vom 03.07.2020, L 8 SO 73/20 B ER, Rn. 29, juris). Unwesentliche Unterbrechungen sind dabei unschädlich. Die Fünfjahresfrist beginnt dagegen bei wesentlichen Unterbrechungen wieder neu zu laufen (Becker in Eicher/Luik/Harich, SGB II, 5. Auflage 2021, § 7, Rn. 54). Es besteht vor diesem Hintergrund kein Anlass, aus Gründen des Schutzes vor etwaigem Leistungsmissbrauch eine durchgehende polizeiliche Meldung zu verlangen. Ist ein gewöhnlicher Aufenthalt nach allen zumutbaren Ermittlungsmöglichkeiten für die Behörde (§ 20 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz <SGB X>) oder das Gericht (§ 103 S. 1 Hs. 1 SGG) nicht zu ermitteln, fällt die Nichtaufklärbarkeit dieser Tatsache nach den allgemeinen Beweislastgrundsätzen zu Lasten des Anspruchstellers aus, weil es sich insoweit um eine für ihn günstige Tatsache handelt, für die er die objektive Beweislast trägt (vgl. Leopold in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Auflage 2020, § 7 <Stand: 29.11.2021>, Rn. 162; Mushoff in BeckOK Sozialrecht, 68. Edition, Stand: 01.03.2023, § 7 SGB II, Rn. 46). Für den Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts ist in erster Linie auf die objektiv gegebenen tatsächlichen Verhältnisse abzustellen. Entscheidend ist danach, ob der örtliche Schwerpunkt der Lebensverhältnisse faktisch dauerhaft im Inland ist. Dauerhaft ist ein solcher Aufenthalt, wenn und solange er nicht auf Beendigung angelegt, also zukunftsoffen ist. Mit einem Abstellen auf den Schwerpunkt der Lebensverhältnisse im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland soll – maßgeblich im Sinne einer Missbrauchsabwehr – ausgeschlossen werden, dass ein Wohnsitz zur Erlangung von Sozialleistungen im Wesentlichen nur formal begründet, dieser jedoch tatsächlich weder genutzt noch beibehalten werden soll (vgl. BSG Urteil vom 20.01.2013, B 4 AS 54/12 R, Rn. 18 f. m.w.N., juris; LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 11.05.2020, L 18 AS 1812/19, Rn. 20, juris). Hierfür bestehen vorliegend keine Anhaltspunkte.

 

dd. Da die Klägerin die Voraussetzungen der Rückausnahme nach § 7 Abs. 1 S. 4 SGB II erfüllt, kann sich der Kläger als Familienangehöriger – wie sich aus dem insoweit eindeutigen Wortlaut der Norm ergibt – ebenfalls auf diese Rückausnahme berufen.

 

3. Nachdem sich ein Leistungsanspruch der Kläger bereits gegen den Beklagten ergibt, sind nachrangige Leistungsansprüche gegen die Beigeladene nicht zu prüfen, insbesondere kommt es auf einen Leistungsausschluss nach § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 SGB XII und eine Rückausnahme nach § 23 Abs. 3 S. 7 SGB XII ebenso wenig an wie auf etwaige Leistungsansprüche nach § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII und § 23 Abs. 3 S. 3 bis 6 SGB XII (vgl. dazu Senatsurteil vom 06.10.2021, L 12 AS 1004/20, Rn. 72 ff., juris).

 

D. Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.

 

E. Der Senat hat die Revision im Hinblick auf die höchstrichterlich noch nicht entschiedene Frage der Auslegung des § 7 Abs. 1 S. 4 und 5 SGB II und damit wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG) zugelassen.

 

Rechtskraft
Aus
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