L 11 AS 117/24

Land
Niedersachsen-Bremen
Sozialgericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
1. Instanz
SG Braunschweig (NSB)
Aktenzeichen
S 28 AS 1717/19
Datum
2. Instanz
LSG Niedersachsen-Bremen
Aktenzeichen
L 11 AS 117/24
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze

Die Verbüßung eines Jugendarrestes nach § 16 Jugendgerichtsgesetz (JGG) unterfällt dem Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II. Für eine erwerbszentrierte Definition des Begriffs der Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung (§ 7 Abs. 4 S. 2 SGB II) ist im Hinblick auf die hierauf nicht anwendbare Rückausnahme nach § 7 Abs. 4 S. 3 Nr. 2 SGB II kein Raum.

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Weitere als im Widerspruchsverfahren zuerkannte Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 Tatbestand

Der Kläger wendet sich auch mit der Berufung gegen die Aufhebungs- und Erstattungsentscheidung des Beklagten für Grundsicherungsleistungen im Juli 2019.

 Der am 5. Februar 1998 geborene Kläger bezog Grundsicherungsleistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) beim Beklagten. Mit Bewilligungsbescheid vom 15. März 2019 (Bl. 376 der Verwaltungsakte – VA) gewährte der Beklagte dem Kläger u.a. für den Leistungsmonat Juli 2019 Leistungen in Höhe von 844,00 Euro. Hierbei berücksichtigte er Kosten der Unterkunft und Heizung von zusammen 420,00 Euro im Monat und den Regelbedarf ohne Anrechnung von Einkommen. Aufgrund einer Mieterhöhung erließ der Beklagte am 7. Mai 2019 (Bl. 437 VA) einen Änderungsbescheid ab Mai 2019 und gewährte dem Kläger nunmehr monatliche Grundsicherungsleistungen in Höhe von 863,00 Euro.

 Am 17. Juli 2019 teilte der Betreuer des Klägers dem Beklagten mit, dass sich der Kläger seit dem 17. Juli 2019 bis voraussichtlich 31. Juli 2019 in der Jugendarrestanstalt I. befinden werde. Zu diesem Zeitpunkt waren die Leistungen für Juli 2019 bereits ausgezahlt. Am 5. September 2019 reichte der Betreuer die Haftbescheinigung für diesen Zeitraum nach (Bl. 516 VA).

 Nach vorheriger Anhörung mit Schreiben vom 15. August 2019 (Bl. 509 VA) hob der Beklagte durch den hier streitigen Bescheid vom 16. September 2019 (Bl. 517 VA) die Bewilligung für den 17. bis zum 31. Juli 2019 im Umfang von insgesamt 402,74 Euro auf. Er stützte seine Entscheidung auf § 48 SGB X und machte eine entsprechende Erstattungsforderung geltend.

 Dem hiergegen eingelegten Widerspruch vom 1. Oktober 2019 (Bl. 535 VA) half der Beklagte durch den Widerspruchsbescheid vom 19. November 2019 (Bl. 545 VA) teilweise ab und rechnete den Entlassungstag (31. Juli 2019) heraus. Dadurch reduzierte sich der Aufhebungs- und Erstattungsbetrag für Juli 2019 auf 373,98 Euro. Er übernahm teilweise Kosten des Vorverfahrens. Ergänzend betonte der Beklagte, dass die teilweise Aufhebung für die Zeit der Haft gerechtfertigt sei und sich der Kläger nicht auf Vertrauensschutz berufen könne.

Hiergegen hat der Kläger am 9. Dezember 2019 anwaltlich vertreten beim Sozialgericht (SG) Braunschweig Klage erhoben. Zur Begründung hat er vorgetragen, dass es sich beim Jugendarrest nach § 16 Jugendgerichtsgesetz (JGG) nicht um eine Haftstrafe handele und deshalb die Ausschlussregelung des § 7 Abs. 4 SGB II nicht greife. Hierzu hat er sich auf Entscheidungen des Sozialgerichts Gießen vom 1. März 2010 – S 29 AS 1053/09, des Sozialgerichts Dresden vom 27. Januar 2014 – S 7 AS 1567/13 und des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 24. September 2014 – L 4 AS 318/13 berufen. Zudem sei das Urteil des Bundessozialgerichts vom

5. August 2021 - B 4 AS 58/20 R (zur Zurückstellung einer Strafvollstreckung zugunsten einer stationären Entwöhnungsbehandlung) nicht auf den hier zu beurteilenden Fall eines Jugendarrestes übertragbar.

 Das SG hat die Klage mit Urteil vom 6. September 2022 zurückgewiesen. Es hat seine Entscheidung damit begründet, dass der Aufhebung- und Erstattungsbescheid rechtmäßig sei. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 S. 2 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) i.V.m. § 40 Abs. 2 Nr. 3 SGB II und § 330 Abs. 3 Satz 1 und 4 SGB III hätten vorgelegen. Insbesondere sei der Kläger während des Jugendarrestes von Leistungen nach dem SGB II gemäß § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II ausgeschlossen. Der Jugendarrest sei ein Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung. Dem Charakter als Freiheitsentziehung stehe auch nicht entgegen, dass nach § 13 JGG ein Jugendarrest als Zuchtmittel und nicht als Strafvollzug anzusehen sei. Denn für Sinn und Zweck der Ausschlussregelung des § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II sei dieser Unterschied nicht entscheidend. Maßgebend für diese Ausschussregelung sei, dass der Betroffene für Maßnahmen zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt (vgl. z.B. § 1, § 2 und §§ 14 ff. SGB II) während seines Aufenthaltes in dieser Einrichtung nicht zur Verfügung stehe. Dies sei beim Kläger der Fall gewesen.

 Der Kläger hat am 12. Oktober 2022 beim Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen die Zulassung der Berufung beantragt. Er hat dies umfassend damit begründet, dass ein rechtlicher Unterschied zwischen einem Jugendarrest und einer Freiheitsentziehung bestehe. Hierzu hat er sich ausführlich mit der Rechtsprechung zu § 7 Abs. 4 SGB II und in Bezug auf einen Jugendarrest auseinandergesetzt.

 Der erkennende Senat hat die Berufung mit Beschluss vom 14. Februar 2024 wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.

 Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß,

 das Urteil des SG Braunschweig vom 6. September 2022 sowie den Bescheid des Beklagten vom 16. September 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2019 aufzuheben.

 Der Beklagte beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

         die Berufung zurückzuweisen.

 Er setzt sich mit den Zulassungsgründen nach § 144 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auseinander und macht ebenfalls umfassende Ausführungen zu den Voraussetzungen von § 7 Abs. 4 SGB II sowie zu den Erwägungen des erstinstanzlichen Urteils, welche er für zutreffend erachtet.

 Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes sowie des übrigen Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten sowie die erst- und zweitinstanzliche Gerichtsakten verwiesen. Sie haben der Entscheidungsfindung zugrunde gelegen.

 Entscheidungsgründe

Mit Einverständnis der Beteiligten (Schriftsätze vom 14. und 21. Mai 2024) entscheidet der Senat ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs. 2 SGG.

 I. Die aufgrund der Zulassung statthafte Berufung ist unbegründet. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des Beklagten vom 16. September 2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. November 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

 Der Kläger hatte vom 17. bis 31. Juli 2019 keinen Anspruch auf Grundsicherungsleistungen. In diesem Zeitraum war er nach § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II ausgeschlossen.

 Der Kläger erfüllte zwar die Voraussetzungen für die Leistungsgewährung nach § 7 Abs. 1 SGB II. Er hatte das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, war erwerbsfähig, hilfebedürftig und hatte seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Er verfügte über keinerlei Einkommen, mit dem er seinen Lebensunterhalt decken konnte, so dass er in Höhe der vom Beklagten gewährten Leistungen hilfebedürftig war.

 Der Kläger war aber nach § 7 Abs. 4 SGB II von Leistungen ausgeschlossen. Nach § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II erhält Leistungen nach dem SGB II nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Weiter erhält Leistungen nach dem SGB II auch nicht, wer sich in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung aufhält. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung wird der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt (§ 7 Abs. 4 S. 2 SGB II).

 Von § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II werden alle richterlich angeordneten Freiheitsentziehungen in sämtlichen Rechtsbereichen erfasst (Geiger in: Münder/Geiger/Lenze, SGB II, 8. Auflage 2023, § 7 Rn. 154; SG Duisburg, Urteil vom 12. Dezember 2017 - S 49 AS 3784/15, Rn. 31). Des Weiteren ist § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II einschlägig, wenn nach § 1666 BGB das Vormundschaftsgericht bei Vernachlässigung der elterlichen Sorge die erforderlichen Maßnahmen zum Wohl des Kindes trifft (Leopold in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl. (Stand: 19.03.2024), § 7 Rn. 290). Auch Jugendstrafe und Jugendarrest haben unterbringenden Charakter und sind eine Freiheitsentziehung in diesem Sinne (Pütz in: BeckOK JGG, Gertler/Kunkel/Putzke, 33. Ed. 1.

Mai 2024, § 16 JGG Rn. 3; ebenso: LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 24. September 2014 – L

4 AS 318/13, Rn. 31 ff.; Thüringer Landessozialgericht, Urteil vom 30. Juni 2022 – L 7 AS 747/20, Rn. 17).

 Gleichwohl ist der Jugendarrest – im Gegensatz zur Freiheitstrafe – in seiner konkreten Vollstreckung variabel und kann in Abhängigkeit von den individuellen Lebensumständen des Betroffenen jederzeit geändert werden. Beispielsweise könnte eine vom Jobcenter vermittelte Arbeit oder ein Bildungsangebot Anlass sein, den Erziehungsaspekt des Jugendarrests zu beeinflussen und zur Aufhebung des Arrestes führen. In § 16 Abs. 3 Satz 1 JGG ist eine sorgfältige Abwägung bei der Verhängung eines Kurz- oder Freiheitsarrests ausdrücklich vorgeschrieben. Danach darf diese Arrestform nur verhängt werden, wenn "weder die Ausbildung noch die Arbeit des Jugendlichen beeinträchtigt werden." Das Jobcenter hat bei einem verhängten Jugendarrest eines Leistungsberechtigten somit konkrete Möglichkeiten, seine Vermittlungsbemühungen oder Förderungsaspekte in das jugendgerichtliche Verfahren einzubringen und kann durch eigenes Tätigwerden die Verhängung des Zuchtmittels beeinflussen. Die besondere Gestaltungsfreiheit nach dem JGG bei der Verhängung von Zuchtmitteln unterscheidet sich grundlegend von freiheitsentziehenden Maßnahmen bei einer Jugendstrafe ohne Bewährung. Der von einer Jugendstrafe betroffene Jugendliche kann zwar in der Jugendhaft bestimmte Bildungsangebote wahrnehmen, ist aber der Vermittlung durch das Jobcenter ohne jede Einwirkungsmöglichkeit entzogen (vgl. LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 24. September 2014 – L 4 AS 318/13, Rn. 31 ff. und Thüringer Landessozialgericht, Urteil vom 30. Juni 2022 – L 7 AS 747/20, Rn. 18 ff.).

 Diese Besonderheiten des Jugendarrestes waren allerdings nur in den früheren, mittlerweile nicht mehr geltenden Gesetzesfassungen des § 7 Abs. 4 SGB II zu berücksichtigen. Bis zu einer Gesetzesänderung zum 1. August 2006 hatte § 7 Abs. 4 SGB II folgenden Wortlaut: Leistungen nach diesem Buch erhält nicht, wer für länger als sechs Monate in einer stationären Einrichtung untergebracht ist oder Rente wegen Alters bezieht.

 Literatur und Rechtsprechung stellten zu dieser Regelung insgesamt darauf ab, ob die objektive

Struktur der Einrichtung eine Erwerbstätigkeit im Umfang von mindestens 15 Stunden pro Woche ermöglichte (Spellbrink in: Eicher/Spellbrink, 2. Aufl. 2008, SGB II § 7 Rn. 64; so auch noch LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 24. September 2014 – L 4 AS 318/13, Rn. 30 ff. und Thüringer Landessozialgericht, Urteil vom 30. Juni 2022 – L 7 AS 747/20, Rn. 18 ff.). Daran haben Literatur und Rechtsprechung die Abgrenzung zwischen dem Leistungssystem nach dem SGB II und dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) vorgenommen.

 Dieses funktionalen Einrichtungsbegriffes bedurfte es bereits seit der Gesetzesänderung zum 1. August 2006 nicht mehr. Die Regelung hatte in § 7 Abs. 4 SGB II nunmehr folgenden Wortlaut:

Leistungen nach diesem Buch erhält nicht, wer in einer stationären Einrichtung untergebracht ist, Rente wegen Alters oder Knappschaftsausgleichsleistung oder ähnliche Leistungen öffentlich-rechtlicher Art bezieht. Dem Aufenthalt in einer stationären Einrichtung ist der Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung gleichgestellt. Abweichend von Satz 1 erhält Leistungen nach diesem Buch,

  1. wer voraussichtlich für weniger als sechs Monate in einem Krankenhaus (§ 107 des Fünften Buches) untergebracht ist oder
  2. wer in einer stationären Einrichtung untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist.

In der Literatur und Rechtsprechung wurde die Änderung als Klarstellung aufgefasst, da auch nach alter Rechtslage der Aufenthalt in einer JVA zum Leistungsausschluss führte (Spellbrink/G. Becker in: Eicher, 3. Aufl. 2013, SGB II § 7 Rn. 127; BSG, Urteil vom 6. September 2007 – B 14/7b AS 60/06 R, Rn. 16). Bereits zu dieser Rechtsänderung führte das BSG aus, dass die Rückausnahme Anlass zu einer Modifizierung des bisherigen Einrichtungsbegriffs in Zusammenschau mit dem sozialhilferechtlichen Begriffsverständnis aus § 13 SGB XII gebe (BSG, Urteil vom 5. Juni 2014 – B 4 AS 32/13 R, Rn. 23). Für eine sogenannte erwerbszentrierte Definition des Begriffs der Einrichtung im Rahmen des § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II bleibe nunmehr kein Raum mehr (hierzu Thie in: LPK-SGB II, 5. Aufl. 2013, § 7 Rn. 91). Nach § 7 Abs. 4 S. 3 Nr. 2 SGB II in der bis zum 31. Juli 2016 geltenden Fassung sollte nur derjenige weiterhin Leistungen erhalten, der in einer stationären Einrichtung untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich tatsächlich erwerbstätig ist.

 Seit dem 1. August 2016 gilt § 7 Abs. 4 S. 3 Nr. 2 SGB II mit einem darüber hinaus geänderten Wortlaut (Hervorhebung durch den Senat):

wer in einer stationären Einrichtung nach Satz 1 untergebracht und unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 15 Stunden wöchentlich erwerbstätig ist.

 Damit sieht die im Juli 2019 und auch heute noch geltende Fassung des Gesetzes nur für den Fall einer tatsächlichen Erwerbstätigkeit eine Rückausnahme vom Leistungsausschluss bei Unterbringung in einer stationären Einrichtung nach Satz 1 vor. Der Wortlaut verweist bzgl. der Rückausnahme nunmehr in Abs. 4 S. 3 vor der Aufzählung und nochmal in Nr. 2 auf Satz 1. Zentrales Kriterium wird damit eine tatsächliche Erwerbstätigkeit im Umfang von 15 Wochenstunden unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes (Hervorhebung durch den Senat). Für einen Aufenthalt in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung nach § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II hat der Gesetzgeber ausdrücklich keine solche Rückausnahme geregelt. Dies war mit der Gesetzesänderung gerade beabsichtigt. Der Gesetzgeber führt zu der Änderung aus, dass mit der Ergänzung in § 7 Abs. 4 S. 3 Nr. 2 SGB II klargestellt wird, dass Personen, die sich in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung aufhalten, auch dann nicht leistungsberechtigt nach dem SGB II sind, wenn sie als Freigänger einer Beschäftigung nachgehen (Beschlussempfehlung zum Entwurf eines Neunten Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch ‒ Rechtsvereinfachung, BT-Drs. 18/8909, S. 29).

 Liegen die Voraussetzungen des § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II vor, kommt es nicht mehr darauf an, ob auch die Voraussetzungen für einen Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 S. 1 SGB II und diejenigen einer Rückausnahme nach § 7 Abs. 4 S. 3 SGB II bei Aufenthalt in einem Krankenhaus als Unterfall der stationären Einrichtungen i.S. des § 7 Abs. 4 S.1 SGB II vorliegen (vgl. auch BSG, Urteil vom 2. Dezember 2014, Rn. 22) oder eine Erwerbstätigkeit ausgeübt wird. Der Ausschluss nach § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II hängt allein davon ab, ob sich der Betroffene in einer Einrichtung und (weiterhin) "im Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung" befindet (BSG, Urteil vom 5. August 2021 – B 4 AS 58/20 R, Rn. 23).

 § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II stellt in seiner derzeit geltenden Fassung nur auf die Freiheitsentziehung als solche ab, nicht aber auf die rechtliche Grundlage für diese (Münder/Geiger, SGB II - Grundsicherung für Arbeitsuchende, SGB II, 7. Auflage 2021, § 7 Rn. 154). Das BSG hat hierzu schon früh ausgeführt, dass die ausdrückliche und spezielle Regelung bezüglich der Einrichtungen zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehungen im Rahmen des § 7 Abs. 4 SGB II eine Sonderstellung einnimmt (BSG, Urteil vom 24. Februar 2011 – B 14 AS 81/09 R, Rn. 25; Urteil vom 5. August 2021 – B 4 AS 58/20 R, Rn. 22). Gemäß § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II ist nach der Definition des Gesetzgebers der Aufenthalt in einer solchen Einrichtung dem Aufenthalt "in einer stationären Einrichtung" gleichgestellt. Nach der Gesetzesbegründung war es Ziel, Personen in diesen Einrichtungen vom Leistungsbezug nach dem SGB II insgesamt auszuschließen (vgl. BT-Drucks 16/1410, S. 20). Es kommt folglich bei den Einrichtungen zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehungen nicht darauf an, ob sie nach ihrer Art die Aufnahme einer mindestens dreistündigen täglichen Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt von vornherein ausschließen (so noch LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 24. September 2014 – L 4 AS 318/13, Rn. 30 ff.). Nicht einmal eine tatsächliche Erwerbstätigkeit würde zu einem anderen Ergebnis führen. Mit der Gesetzesänderung zum 1. August 2016 wurde klargestellt werden, dass Personen, die sich in einer Einrichtung zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung aufhalten, auch dann nicht nach dem SGB II leistungsberechtigt sind, wenn sie als Freigänger einer Beschäftigung nachgehen (vgl. hierzu BT Drs. 18/8909 S. 29).

 Die Weichenstellung zwischen den Leistungssystemen erfolgt nach der aktuellen Gesetzeslage somit nicht mehr anhand der objektiven Struktur der Einrichtung im Einzelfall, sondern generalisiert für alle unter § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II fallenden Einrichtungen, weil sich der Aufenthalt in diesen Einrichtungen wesentlich von dem Aufenthalt in anderen stationären Einrichtungen unterscheidet (vgl. BSG, Urteil vom 24. Februar 2011 - B 14 AS 81/09 R, Rn. 28; BSG, Urteil vom 28. August 2017 - B 14 AS 91/17 B, Rn. 6; BSG, Urteil vom 5. August 2021 – B 4 AS 26/20 R, Rn. 24).

 Dementsprechend muss auch außer Betracht bleiben, dass nach dem JGG besondere Regelungen für den Jugendarrest gelten, wonach die Ahndung mit Zuchtmitteln nach § 13 Abs. 3 JGG nicht mit den Rechtswirkungen einer Strafe gleichgestellt werden darf (a.A. Thüringer Landessozialgericht, Urteil vom 30. Juni 2022 – L 7 AS 747/20 –, Rn. 18). Auch dass es im Gegensatz zu einer Ersatzfreiheitsstrafe oder auch einer Freiheitsstrafe dem zuständigen Jugendrichter obliegt, in seiner aus dem JGG abzuleitenden freien Gestaltungs- und Ermessensfreiheit zu entscheiden, ob und ggf. welches Zuchtmittel gegen den Jugendlichen verhängt werden soll, ändert an der Auslegung von § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II nichts. Zumal bei der Verhängung des Jugendarrestes bereits eine Auswirkung auf Ausbildung und Erwerbstätigkeit geprüft, aber verneint wurde. Bei einer geänderten Sachlage wäre eine erneute Prüfung notwendig.

 Darüber hinaus gibt der Gesetzgeber im Rahmen von § 7 Abs. 4 S. 2 SGB II keine zeitliche Grenze vor. Anders als bei der Unterbringung in einem Krankenhaus (§ 7 Abs. 4 S. 3 Nr. 1 SGB II), für den eine Prognose bzgl. eines Aufenthaltes von mehr als sechs Monaten anzustellen ist, greift der Leistungsausschluss für Einrichtungen zum Vollzug richterlich angeordneter Freiheitsentziehung unabhängig von deren Dauer vom ersten Tag an und unabhängig davon, dass die Dauer des Jugendarrestes auf zwei Wochen begrenzt ist.

 Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht der teilweisen Abhilfe im Widerspruchsverfahren bei Unterliegen in beiden Rechtszügen.

 Die Revision wird im Hinblick auf die o.g. divergierenden Entscheidungen zum Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 4 Satz 2 SGB II wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.

 

 

Rechtskraft
Aus
Saved