1. Aus gestellten Diagnosen (wie hier etwa der PTBS) kann nicht ohne weiteres auf bestimmte Ereignisse zurückgeschlossen werden (vgl. zuletzt LSG Celle-Bremen vom 24.8.2023 - L 10 VE 31/19 - sowie LSG Celle-Bremen vom 9.2.2023 - L 10 VE 70/17 - (Rn.32)).
2. Ein langer Zeitraum (hier: 13 Jahre) zwischen den angeschuldigten Taten und dem Beginn der Erkrankung spricht gegen die Annahme einer PTBS (vgl. zuletzt LSG Celle-Bremen vom 24.8.2023 - L 10 VE 31/19)
3. Nach gedächtnispsychologischen Erkenntnissen können traumatische Erlebnisse in der Regel besonders langfristig erinnert werden und generell ist davon auszugehen, dass emotional bedeutsame Ereignisse besonders dauerhaft behalten und in der Regel auch explizit erinnert werden können, sodass zeitweise nicht zugängliche Erinnerungen (Wiedererinnerungen) gerade nicht als zuverlässig eingestuft werden (vgl. zuletzt LSG Celle-Bremen vom 24.8.2023 - L 10 VE 31/19).
4. Eine traumabedingte Amnesie ist nicht die typische Folge eines stressreichen Erlebnisses.
5. Es gibt bislang keine Methode, die eine Differenzierung zwischen suggerierten, subjektiv aber als wirklich erachteten und tatsächlich erlebnisfundierten Aussagen erlaubt.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 12. Oktober 2022 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Streitig sind die Feststellung von Schädigungsfolgen sowie die Gewährung von Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).
Die I. geborene Klägerin beantragte erstmals im März 2013 bei dem Beklagten die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG mit der Begründung, in ihrer Kindheit und Jugend von ihrem Vater sowie ihrem Halbbruder sexuell missbraucht worden zu sein. Zum näheren Tathergang machte sie mit Schreiben vom 9. Juni 2013 folgende Angaben: Ca. 1988 habe im elterlichen Schlafzimmer der Vater von ihr verlangt sich auszuziehen und habe ihrem Halbbruder durch Berührungen ihres Geschlechtsorgans gezeigt, wo er sie anfassen müsse. Ab ca. 1989 bis zu seinem Auszug ca. 1999 sei ihr 4 ½ Jahre älterer Halbbruder vom Vater regelmäßig, meistens jeden Samstag und Sonntag zum Onanieren ins elterliche Schlafzimmer geschickt worden. Ab ca. 1991 bis zu seinem Auszug ca. 1999 habe ihr Halbbruder im gemeinsamen Kinderzimmer ca. jeden zweiten Tag in ihrer Anwesenheit im gemeinsamen Zimmer im separaten Bett onaniert. Von ca. 1992 bis ca. 1994 habe ihr Halbbruder sie abends mehrmals in der Woche an ihrem Geschlechtsorgan angefasst und daran solange „herummanipuliert“, bis sie zum „Höhepunkt“ habe kommen müssen. Die Manipulation habe mit den Fingern und der Zunge stattgefunden. Auch habe ihr Halbbruder immer wieder ihre Schamlippen langgezogen. Mit einer Befragung ihres Vaters, des Halbbruders sowie ihrer Mutter sei sie aus Gründen des Schutzes ihrer selbst sowie ihrer Familie nicht einverstanden. Mittlerweile sind sowohl der Vater auch der Halbbruder der Klägerin verstorben.
Der Kommunale Sozialverband Sachsen, an welchen der Antrag zuständigkeitshalber zunächst weitergeleitet worden war, zog medizinische Unterlagen sowie die Schul- und Ausbildungszeugnisse der Klägerin bei und holte eine Stellungnahme der Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. J. nach Aktenlage ein. Mit Bescheid vom 16. Januar 2015 lehnte der Kommunale Sozialverband Sachsen den Antrag der Klägerin mit der Begründung ab, die angeschuldigten Ereignisse seien nicht hinreichend glaubhaft gemacht im Sinne des § 15 KOVVfG. Nach der beigezogenen neurologisch-psychiatrischen Stellungnahme bestünden Zweifel an der Erlebnisfundiertheit der Angaben der Klägerin. Tatzeugen existierten nicht. Mit einer Befragung der Täter sowie ihrer Mutter habe sich die Klägerin nicht einverstanden erklärt.
Die Klägerin legte gegen diesen Bescheid Widerspruch ein und erklärte sich mit einer Befragung ihrer Mutter einverstanden. Die Mutter der Klägerin gab in ihrer schriftlichen Stellungnahme vom 31. Juli 2015 an, das Familienleben sei bis zum Auszug der Klägerin aus der elterlichen Wohnung glücklich und das Verhalten der Klägerin gegenüber den Eltern immer von Offenheit geprägt gewesen. Wenn es sexuelle Übergriffe von Seiten des Halbbruders oder des Vaters gegeben hätte, wäre es ihr als Mutter aufgefallen. Der Kommunale Sozialverband Sachsen holte daraufhin ein aussagepsychologisches Gutachten der Dipl.-Psychologin K. vom 20. Juni 2019 ein. Die Gutachterin gelangte darin zu dem Ergebnis, aus aussagepsychologischer Sicht seien die Angaben der Antragstellerin nicht als erlebnisfundiert zu bezeichnen. Aus der Analyse der Aussageentstehung und -entwicklung ergäben sich Hinweise auf Faktoren, welche die Aussagezuverlässigkeit deutlich einschränkten. Im Übrigen seien die Angaben der Klägerin von zu geringer Detaillierung, um auf einen Erlebnisbezug schließen zu können. Mit Bescheid vom 9. September 2019, der Klägerin zugegangen am 12. September 2019, wies daraufhin der Kommunale Sozialverband Sachsen den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück.
Dagegen hat die Klägerin am 14. Oktober 2019, einem Montag, Klage beim Sozialgericht Hannover erhoben, mit der sie die Gewährung von Beschädigtenrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von mindestens 50 begehrt hat. Das Sozialgericht hat weitere medizinische Unterlagen betreffend die Klägerin beigezogen und sodann mit Urteil vom 12. Oktober 2022 die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das Sozialgericht im Wesentlichen ausgeführt, das Vorliegen eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs auf die Klägerin sei nicht hinreichend glaubhaft gemacht im Sinne des § 15 KOVVfG. Die Umstände der Aussageentstehung der Klägerin sprächen für das Vorliegen von Scheinerinnerungen. Zudem habe die Klägerin widersprüchliche Angaben zu den Tathandlungen gemacht. Im OEG-Antrag vom März 2013 habe sie zunächst nur geschildert, dass ihr Halbbruder ihre Schamlippen langgezogen und sie im Intimbereich berührt habe. Im Schreiben vom 9. Juli 2013 habe sie darüber hinaus angegeben, der Halbbruder habe ihr Geschlechtsorgan mit den Fingern und der Zunge solange manipuliert, bis sie zum Höhepunkt habe kommen müssen. Es handele sich insoweit um eine deutliche Ausweitung des Kerns der Missbrauchshandlung. Unabhängig davon handele es sich bei dem behaupteten Onanieren des Bruders im Elternschlafzimmer sowie in ihrer Anwesenheit im gemeinsamen Kinderzimmer nicht um tätliche Angriffe im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG.
Die Klägerin hat gegen das ihr am 14. November 2022 zugestellte Urteil am 14. Dezember 2022 Berufung eingelegt, mit der sie ihr erstinstanzliches Begehren weiterverfolgt. Der Umstand, dass sie die sexuellen Missbrauchsvorfälle jahrelang nicht erinnert habe, sei nicht als Indiz für das Vorliegen einer Scheinerinnerung zu werten. Die Wiedererinnerung habe anlässlich eines Besuchs bei ihrer Familie stattgefunden, mithin an den Tatorten und aufgrund situativer Umstände, die in nachvollziehbarer Weise geeignet seien, Erinnerungen auszulösen. Das eingeholte aussagepsychologische Gutachten lege nicht den im Sozialen Entschädigungsrecht geltenden abgesenkten Beweismaßstab zur Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin zugrunde. Unter Berücksichtigung dieses Beweismaßstabes seien die Angaben der Klägerin glaubhaft.
Der Senat hat zunächst versucht, die Mutter der Klägerin als Zeugin zu befragen. Daraufhin hat diese dem Senat mit Schreiben vom 5. Dezember 2024 mitgeteilt, an ihren im Verwaltungsverfahren getätigten Angaben festzuhalten. Sie habe dem nichts hinzuzufügen. Die Klägerin hat nunmehr ein an ihren Rechtsanwalt gerichtetes Schreiben der Mutter vom 29. Dezember 2024 vorgelegt, in welchem diese erneut angibt, von den angeschuldigten Taten nichts bemerkt zu haben. Aus dem Schreiben ergibt sich nach Auffassung der Klägerin jedoch, dass die Mutter zum einen die Angaben ihrer Tochter für glaubhaft halte und zum anderen den Beschuldigten, insbesondere ihrem mittlerweile verstorbenen Ehemann, die streitgegenständlichen Taten zutraue.
Die Klägerin beantragt,
- das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 12. Oktober 2022 sowie den Bescheid des Kommunalen Sozialverbandes Sachsen vom 16. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. September 2019 aufzuheben,
- den Beklagten zu verurteilen, bei ihr Depressionen sowie eine posttraumatische Belastungsstörung als Schädigungsfolgen des in der Kindheit und Jugend erlittenen sexuellen Missbrauchs festzustellen sowie ihr Beschädigtenrente nach einem Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 50 zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 12. Oktober 2022 zurückzuweisen.
Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen.
EnTscheidungsgründe
Die zulässige Berufung ist unbegründet.
Das Sozialgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Bescheid des Kommunalen Sozialverbandes Sachsen vom 16. Januar 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. September 2019 ist rechtmäßig und verletzt die Klägerin demzufolge nicht in ihren Rechten. Die Klägerin hat in Anwendung von §§ 1, 10a OEG in Verbindung mit den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) keinen Anspruch auf Feststellung von Schädigungsfolgen und die Gewährung von Beschädigtenrente.
Nach diesen Vorschriften hat Anspruch auf Versorgung nach dem BVG, wer im Geltungsbereich des OEG infolge einer vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Für Taten, die sich – wie hier die Ereignisse in der Herkunftsfamilie der Klägerin – in der Zeit vom 7. Oktober 1949 bis zum 2. Oktober 1990 in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet ereignet haben, gilt dies für Personen, die allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und bedürftig sind. Schwerbeschädigt sind nach § 31 Abs. 2 BVG Personen, bei denen ein GdS von 50 festgestellt wird.
Zur Begründung nimmt der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen zunächst in Anwendung von § 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Bezug auf die ausführlichen und zutreffenden Ausführungen des Sozialgerichts in seinem angefochtenen Urteil. Auch der Senat hat nicht feststellen können, dass die Schilderungen der Klägerin hinsichtlich der angeschuldigten Ereignisse glaubhaft im Sinne von § 15 KOVVfG sind.
Grundsätzlich bedarf die Feststellung eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs i.S. des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG des Vollbeweises. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs. 3 OEG auch im Opferentschädigungsrecht anzuwenden ist, sind hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf mit der Schädigung im Zusammenhang stehende Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, soweit sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen und Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind. Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (vgl. grundlegend BSG, Urteil vom 31. Mai 1989 – 9 RVg 3/89 – BSGE 65, 123, 125). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 Satz 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können (vgl. BSG, Urteil vom 17. April 2013, Az.: B 9 V 3/12 R).
Da unmittelbare Tatzeugen nicht existieren, ist vorliegend der Beweismaßstab des § 15 KOVVfG anzuwenden.
Glaubhaftmachung i.S.d. § 15 KOVVfG bedeutet das Dartun überwiegender Wahrscheinlichkeit, d.h. der guten Möglichkeit, dass der Vorgang sich so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (BSG, Beschluss vom 8. August 2001, B 9 V 23/01 B, SozR 3-3900 § 15 Nr. 4, Seite 14 f. m.w.N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 14. Auflage, 2023, § 128, Rn. 3d m.w.N.), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Die bloße Möglichkeit einer Tatsache genügt jedoch nicht, die Beweisanforderungen zu erfüllen.
Der Senat konnte sich ebenso wie das Sozialgericht nicht die Überzeugung bilden, dass die Schilderungen der Klägerin hinsichtlich der von ihr angeschuldigten Taten ihres Halbbruders und ihres Vaters in diesem Sinne glaubhaft sind. Bei der Würdigung der im vorliegenden Verfahren festgestellten Umstände berücksichtigt der Senat die von ihm in langen Jahren unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Aussagepsychologie aufgestellten Grundsätze.
Danach gilt zunächst, dass aus gestellten Diagnosen (wie hier etwa der PTBS) nicht ohne weiteres auf bestimmte Ereignisse rückgeschlossen werden kann (vgl. zuletzt Urteil des Senats vom 9. Februar 2023, L 10 VE 70/17, juris, Rdnr. 54 m.w.N. aus der Rechtsprechung des Senats und anderer Gerichte; vgl. auch Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 19. August 2015, L 4 VG 5/13, juris; Rademacker, in: Knickrehm/Rademacker, SGB XIV, § 13, Rdnr. 84). Auch die Dipl.-Psychologin Zietlow hat in ihrem Gutachten zutreffend darauf hingewiesen, dass aus wissenschaftlicher Sicht die Feststellung „typischer“ Traumasymptome keinen sicheren Rückschluss auf die objektive bzw. ursächliche Seite dieser Beschwerden zuließe.
Gegen die Annahme einer PTBS spricht auch schon der lange Zeitraum zwischen den angeschuldigten Taten und dem Beginn der Erkrankung der Klägerin im Jahr 2007. Nach dem eigenen Vortrag der Klägerin traten ihre psychischen Beschwerden in Gestalt von überflutenden Erinnerungen erstmals nach einem gemeinsam mit ihrem Partner erfolgten Besuch ihrer Eltern statt. Damit läge zwischen dem von der Klägerin gegenüber der Gutachterin K. behaupteten letzten erlittenen Missbrauch im Alter von 11 Jahren und ihrem Erkrankungsbeginn 2007 ein beschwerdefreies Intervall von 13 Jahren. Das ist mit den allgemeinen Erkenntnissen zum Erkrankungsverlauf und Beginn einer PTBS nur schwer in Einklang zu bringen (vgl. auch Schreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 2. Dezember 2008, in dem über die Tagung der Sektion „Versorgungsmedizin“ des Sachverständigenbeirats vom 6./7. November 2008 und den Beschluss zur „Posttraumatischen Belastungsstörung“ vom 12. bis 13. November 1997 berichtet wird und in diesem Zusammenhang auf die Ausbildung einer PTBS „in der Regel innerhalb von 3 Monaten“ nach dem erlittenen Trauma hingewiesen wird; dazu schon Senatsurteil vom 30. Juni 2022 – L 10 VE 58/18 veröffentlicht in juris dort Rn 58). Zudem hat die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. J. zutreffend darauf hingewiesen, dass sich aus den Akten keinerlei Hinweise auf ein seelisch traumatisiertes Kind ergäben. Die Klägerin selbst beschrieb sich als fröhliches und starkes Kind. Die Großmutter, eine ehemalige Horterzieherin, teilte mit, sie habe immer das Gefühl gehabt, die Klägerin wachse geliebt und behütet auf. Sie habe eine fröhliche Art gehabt und sei vom Vater nur mit Lobesworten bedacht worden, während der Vater mit ihrem Halbbruder, der aus einer früheren Beziehung der Mutter stammte, seine Schwierigkeiten gehabt habe. Wie Dr. J. weiter überzeugend ausführt, habe die Klägerin auch nicht das traumatisierte Menschen erfahrungsgemäß auszeichnende Vermeidungsverhalten gezeigt, sondern sei mit 13 Jahren ihre erste dreijährige Partnerschaft eingegangen. Danach sei eine weitere Partnerschaft gefolgt und seit dem 19. Lebensjahr sei die Klägerin mit ihrem heutigen Ehemann zusammen.
Zudem ergeben sich Zweifel an der Erlebnisbasiertheit der Angaben der Klägerin insbesondere daraus, dass sie sich jahrelang nicht an den fraglichen Missbrauch erinnert hat.
Das Phänomen des „Wiedererinnerns“ ist dem Senat aus einer Vielzahl ähnlich gelagerter Streitsachen bekannt. Nach Kenntnis des Senates geht die ganz herrschende Lehrmeinung im Bereich der Gedächtnisforschung davon aus, dass späte und sukzessive Tatschilderungen eher Zweifel an der Erlebnisbasiertheit begründen. Diese Erkenntnis hat der Senat zum Gegenstand seiner ständigen Rechtsprechung gemacht und hält hieran auch weiterhin fest. Dabei geht er von folgenden Erkenntnissen über Erinnerungen an traumatische Ereignisse aus (zusammenfassend Urteil vom 9. Februar 2023, Az. L 10 VE 70/17 veröffentlicht in juris dort Rn 54; vgl. grundlegender etwa Beschluss vom 11. Mai 2021, Az. L 10 VE 67/18; Urteil vom 26. November 2020, Az. L 10 VE 60/17 beide veröffentlicht in juris und mit weiteren Nachweisen aus der Rechtsprechung des Senats und anderer Gerichte): Die Annahme, Erinnerungen an traumatische Ereignisse würden sich generell von anderen Erinnerungen qualitativ dahingehend unterscheiden, dass sie gar nicht oder allenfalls fragmentiert erinnert werden könnten, findet durch empirische Untersuchungen keine systematische Unterstützung; im Gegenteil: Traumatische Erlebnisse können i.d.R. besonders langfristig erinnert werden (vgl. Volbert/Steller in: Venzlaff/Foerster/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 7. Auflage 2021, S. 777; Volbert in Psychotherapie im Dialog, 2014 S. 82 ff passim auch zum Nachstehenden) und generell ist davon auszugehen, dass emotional bedeutsame Ereignisse besonders dauerhaft behalten und in der Regel auch explizit erinnert werden können (vgl. auch: Julia Shaw, Das trügerische Gedächtnis, S. 186, 187). Eine traumabedingte Amnesie ist jedenfalls sicherlich nicht die typische Folge eines stressreichen Erlebnisses (vgl. Volbert in: Beurteilung von Aussagen über Traumata, 2004, S. 98, so auch schon Senatsurteil vom 21. September 2017, L 10 VE 25/14 veröffentlicht in juris). Substanzielle Beeinträchtigungen der expliziten Erinnerung, die deutlich über normale Vergessensprozesse hinausgehen, treten als Folge von traumatischen Ereignissen insbesondere auch bei PTBS-Patienten in der Regel nicht auf (vgl. Volbert/Steller in: Venzlaff/Foerster/Dreßing/Habermeyer, Psychiatrische Begutachtung, 7. Auflage 2021, S. 778). Die Auffassung, traumatische Erinnerungen blieben im Gegensatz zu alltäglichen Erinnerungen in einer reproduktiven, nonrekonstruktiven Weise bis zur Entdeckung der Erinnerung bzw. der Möglichkeit der weiteren Verarbeitung erhalten, steht im Widerspruch zu gedächtnispsychologischen Erkenntnissen, in denen durchgängig gezeigt wurde, dass Erinnern ein konstruktiver Prozess ist, bei dem nicht nur gespeicherte Bilder aktiviert werden (vgl. Volbert in: Beurteilung von Aussagen über Traumata, S. 92; Volbert in Psychotherapie im Dialog, 2014 S. 82 ff). Zeitweise nicht zugängliche Erinnerungen können somit gerade nicht als zuverlässig eingestuft werden: Menschen neigen dazu, Informationen ihren eigenen Schemata hinzuzufügen. Sind Menschen intrusiven, irritierenden, nicht einzuordnenden fragmentarischen Erinnerungen ausgesetzt, ist zu vermuten, dass sie diese fragmentarischen Erinnerungen mit Schemata versehen, unabhängig davon, ob die so einer fragmentierten Erinnerung zugeordnete Bedeutung mit dem Ursprungserlebnis etwas zu tun hat oder nicht. Solche „Erinnerungen“ können richtig sein, aber auch völlig falsch. Unter therapeutischen Gesichtspunkten können auch wenig mit der historischen Wahrheit korrespondierende Erinnerungskonstruktionen ihre Funktion erfüllen, ein Beleg für die Zuverlässigkeit der Erinnerung ergibt sich daraus nicht (Volbert in: Beurteilung von Aussagen über Traumata, S. 92). Bei der Wiederherstellung von Erinnerungen im wirklichen Leben ist nur eins klar: Wenn keine unanfechtbare Bestätigung vorliegt, kann ein Außenstehender nicht eindeutig sagen, ob eine bestimmte Erinnerung echt oder fabriziert ist (Volbert in: Beurteilung von Aussagen über Traumata, S. 92). Es gibt bislang keine Methode, die eine Differenzierung zwischen suggerierten, subjektiv aber als wirklich erachteten und tatsächlich erlebnisfundierten Aussagen erlaubt. Dies liegt u.a. darin begründet, dass lediglich vorgestellte, imaginierte bzw. intern generierte Pseudoerinnerungen nach denselben Organisationsprinzipien im menschlichen Gedächtnis repräsentiert sein können wie Erlebnisse in der Wachwirklichkeit. Folglich tragen die entsprechend rekonstruierten Gedächtnisinhalte bzw. Aussagen ein ähnliches Merkmalsgepräge und sind u.U. weder durch die betroffene Person selbst, noch durch Dritte hinsichtlich ihres Wirklichkeitsstatus unterscheidbar (vgl. Greuel: Was ist Glaubhaftigkeitsbegutachtung (nicht)? In: Themenheft Glaubhaftigkeitsbegutachtung der DGfPI, Heft 2 2009, S. 78).
Genau diese Erkenntnisse spricht auch die Gutachterin K. in ihrem für den Senat überzeugenden Gutachten vom 20. Juni 2019 an.
Ferner sprechen die Umstände des Wiedererinnerns aus Sicht des Senats für das Vorliegen von Scheinerinnerungen: So traten die Erinnerungen in Form von Bildern erstmals im Rahmen einer Familienrundreise auf, welche die Klägerin mit ihrem heutigen Ehemann nach eigenen Angaben im OEG-Antrag zu dem Zweck unternahm, herauszufinden, aus welchen Gründen ihr Kinderwunsch trotz intensiver Bemühungen bisher unerfüllt geblieben war. Die Klägerin befand sich also auf der Suche nach einer in der Vergangenheit liegenden Erklärung für ihren unerfüllten Kinderwunsch. In diesem Zusammenhang besuchte sie erstmals mit ihrem heutigen Ehemann ihre Eltern. Zuvor hatte sie diese nach eigenen Angaben gegenüber der Gutachterin K. immer allein aufgesucht, weil sie sich für ihre alkoholabhängigen Eltern geschämt habe. Als die Klägerin dann erstmals gemeinsam mit ihrem Partner ihre Eltern besuchte, habe sich ihr Vater, wie die Klägerin der Gutachterin K. berichtete, dem zukünftigen Schwiegersohn im Feinrippunterhemd und in Turnhose präsentiert. Die Klägerin habe daraufhin das Gefühl gehabt, immer kleiner und stiller zu werden. Es sei schrecklich für sie gewesen. Danach habe sie überhaupt nicht mehr schlafen können. Sie habe ihrem Partner nachts Briefe geschrieben, wie schlecht es ihr gehe. Sie wisse nicht, wie viele Nächte sie nicht geschlafen habe. Eines nachts seien dann nach einem Geschlechtsverkehr mit ihrem Partner starke Unterleibsschmerzen bei ihr aufgetreten und in diesem Zusammenhang erste Erinnerungsbilder an den fraglichen Missbrauch. Wie Dr. J. ausführt, habe die Klägerin offenbar negative Gefühle gegen ihren Vater entwickelt, auf deren Boden es zu Scheinerinnerungen gekommen sei. Dies kann auch der Senat jedenfalls nicht ausschließen.
Wie sich aus dem Entlassungsbericht der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie L. vom 6. Juli 2012 nach einem dortigen zweimonatigen stationären Aufenthalt der Klägerin und auch aus ihren Schilderungen gegenüber der Dipl.-Psychologin K. ergibt, kann die Klägerin das fragliche Geschehen nur lückenhaft im Rahmen von Flashbacks erinnern, so dass sie phasenweise die Traumatisierung selber in Frage stellte und nicht mehr wusste, ob diese wirklich vorgefallen war. Diese subjektive Unsicherheit hinsichtlich der fraglichen Vorfälle stellt nach den überzeugenden Ausführungen der Gutachterin K. ebenfalls ein Indiz für das Vorliegen von Scheinerinnerungen dar.
Gegen die Annahme eines Erlebnisbezuges spricht in Übereinstimmung mit der Einschätzung der Gutachterin K. weiter die geringe Aussagequalität der Angaben der Klägerin. Sowohl die schriftlichen Angaben der Klägerin zum fraglichen Missbrauch als auch ihre Tatschilderungen gegenüber der Gutachterin K. sind von sehr geringem Umfang und zu geringer Detaillierung, um auf einen Erlebnisbezug schließen zu können. Die Angaben bewegen sich auf der Behauptungsebene und lassen nach den zutreffenden Ausführungen der Gutachterin K. keine Rückschlüsse auf Interaktionen oder individuelles Befinden zu. Trotz ihres geringen Umfangs sind die Angaben der Klägerin zum Kerngeschehen zudem teilweise widersprüchlich. So teilte die Klägerin beispielsweise in ihrem Brief an die Großmutter mit, dass sie nicht wisse, wie lange und wie oft ihr Vater sie in all den Jahren sexuell misshandelt habe. Gegenüber der Gutachterin K. gab die Klägerin dagegen eine einzelne Missbrauchstat durch den Vater an.
Vor diesem Hintergrund hat auch der Senat nicht feststellen können, dass die Schilderungen der Klägerin hinsichtlich der angeschuldigten Ereignisse glaubhaft im Sinne von § 15 KOVVfG sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.