S 1 R 352/08

Land
Hessen
Sozialgericht
SG Fulda (HES)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Fulda (HES)
Aktenzeichen
S 1 R 352/08
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Gerichtsbescheid
Leitsätze
Die Versagung einer stationären Heilbehandlung für Kinder von Versicherten lässt sich nicht damit begründen, dass für das Kind eine spätere Erwerbsfähigkeit nicht mehr zu erreichen ist.
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 26.09.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17.11.2008 verurteilt, der Klägerin Leistungen zur Kinderrehabilitation in gesetzlicher Form zu gewähren.

Die Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Leistungen der Kinderrehabilitation nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI.

Im Rahmen einer Schulterarthroskopie am 04.04.2006 im Kreiskrankenhaus B-Stadt kam es bei der 1986 geborenen Klägerin zu einem Narkosezwischenfall und in der Folge zu einer schweren hypoxischen Hirnschädigung. Die Klägerin wurde am 05.04.2006 zunächst in die Neurologische Klinik Z-Stadt verlegt, von dort am 11.04.2006 in die neurologische Rehabilitation (Neurologisches Rehabilitationszentrum des Y-Jugendwerks) nach X-Stadt. Zum Aufnahmezeitpunkt bestand ein ausgeprägtes Psychosyndrom mit hoher Agitation, Harn- und Stuhlinkontinenz und schweren motorischen und kognitiven Funktionseinschränkungen (Anarthrie, Apraxie).

In X-Stadt durchlief die Klägerin über den Zeitraum eines Jahres bis zum 01.06.2007 eine intensive neurologische Reha. In diesem Zeitraum konnte eine kontinuierliche Verbesserung der genannten Dysfunktionen erzielt werden; eine vollständige Restitution wurde aufgrund der Schwere der Schädigung nicht erreicht. Wegen der Einzelheiten wird auf den Abschlussbericht des Y-Jugendwerkes vom 17.07.2007 verwiesen.

Bereits am 22.05.2007 hatte die Klägerin bei der Beklagten Leistungen der Kinderrehabilitation beantragt.

Mit Bescheid vom 26.09.2007 lehnte die Beklagte diesen Antrag ab.

Dagegen legte die Klägerin am 11. Oktober 2007 Widerspruch ein.

Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens holte die Beklagte ein Gutachten bei dem Neurologen und Psychiater Dr. W. ein, das dieser am 30.04.2008 erstellte und auf das wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird.

Mit Widerspruchsbescheid vom 17.11.2008 wurde der Widerspruch zurückgewiesen.

Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Beklagte für Kinderleistungen zur medizi-nischen Rehabilitation erbringe, wenn nur hierdurch eine erhebliche Gefährdung der Gesundheit beseitigt oder eine beeinträchtigte Gesundheit des Kindes wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden könne und dies Einfluss auf die spätere Erwerbsfähigkeit haben könne (§ 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI in Verbindung mit den hierzu ergangenen Richtlinien) oder nur hierdurch die Gesundheit des Kindes positiv beeinflusst werden könne. Unter Berücksichtigung des Fachgutachtens von Dr. W. sei festgestellt worden, dass die genannten Voraussetzungen bei der Klägerin nicht vorlägen. Durch eine stationäre Leistung zur Rehabilitation durch die Beklagte sei eine nachhaltige Besserung des Gesundheitszustandes nicht zu erreichen. Leistungen zur medizinischen Rehabilitation durch den Rentenversicherungsträger könnten daher nicht erbracht werden. Die zu diesem Zeitpunkt durchgeführte Behandlung der Klägerin sollte fortgesetzt werden, wobei für diese Behandlung der Beklagte allerdings nicht leistungszuständig sei.

Dagegen hat die Klägerin am 19.12.2008 Klage erhoben.

Zur Begründung wird vorgetragen, dass die medizinisch Verantwortlichen des Y-Jugendwerkes in X-Stadt davon ausgingen, dass durch die Rehabilitation die Voraussetzungen für eine spätere Teilausbildung geschaffen werden könnten. Ein Eintritt in ein späteres Erwerbsleben erscheine deshalb keineswegs ausgeschlossen.

Auch wenn – wie sich aus einem weiteren Bericht des Y-Jugendwerkes vom 21.07.2009 ergebe – eine Rehabilitationsbehandlung mit dem Ziel der Herstellung der BvB-Fähigkeit nicht realistisch erscheine, sei allerdings eine Rehabilitation, die zukünftig die Teilhabe am Arbeitsleben in Form einer Tätigkeit auf einer anderen Ebene realistisch erscheinen lasse, sehr wohl möglich.

Die Klägerin habe – wie sie mit Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 02.02.2011 ausführt – in den letzten 1 ½ Jahren im Hinblick auf eine spätere Erwerbsfähigkeit und Erwerbstätigkeit erhebliche Fortschritte gemacht. Es sei derzeit auf jeden Fall anzunehmen, dass eine spätere Erwerbsfähigkeit erreicht werden könne und die beantragte Reha-bilitation hierzu mit deutlichen Verbesserungen beitragen könne.

So habe die Klägerin im Jahre 2010 ein Praktikum im Altenzentrum des E-Kreises absolviert. Im Februar werde sie mit der Absolvierung der Fahrschule beginnen. Hieran werde sich eine Zertifizierung zur Erlangung der Ausbildungsreife als Demenzbetreuerin anschließen. Es werde angestrebt, nach einer entsprechenden Ausbildung im Altenzentrum des E-Kreises als Demenzbetreuerin tätig zu sein.

Die Klägerin beantragt,
den Bescheid vom 26.09.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 17.11.2008 abzuändern,
die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Leistungen zur Kinderrehabilitation in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.

Zur Begründung wird ausgeführt, dass sich aus § 2 der bereits in Bezug genommenen Kinderrichtlinien ergebe, dass der Rentenversicherungsträger nur dann Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erbringen könne, wenn dies positiven Einfluss auf die spätere Erwerbstätigkeit bzw. Erwerbsfähigkeit habe. Im Umkehrschluss bedeute dies zugleich, dass es keinesfalls Aufgabe der gesetzlichen Rentenversicherung sei, Kinderrehabilitationen durchzuführen, wenn wegen der Schwere der Erkrankung oder der Behinderung voraussichtlich kein Eintritt in ein späteres Erwerbsleben erfolgen werde.

Der Entlassungsbericht der V-Klinik in E-Stadt, betreffend den Behandlungszeitraum vom 21.07.2008 bis zum 12.09.2008 belege, dass ein künftiges Arbeitsleben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht realistisch erscheine.

Da gemäß § 31 Abs. 2 Satz 2 SGB VI die Leistungen nach Absatz 1 nur aufgrund von Richtlinien erbracht würden, seien deren Bestimmungen auch auf der Tatbestandsseite zu berücksichtigen.

Das Gericht hat Untersuchungs- und Behandlungsberichte der behandelnden Kliniken beigezogen. Wegen der Einzelheiten wird auf die Befundberichte des Klinikums F-Stadt (Blatt 20 ff. der Akte), der V-Klinik in E-Stadt. (Blatt 35 ff. der Akte) sowie des Y-Jugendwerkes (Blatt 94 ff. der Akte) verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie die einschlägige Behördenakte verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht kann über die Klage ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, weil die Sache keine besonderen Schwierigkeiten rechtlicher oder tatsäch-licher Art aufweist, der Sachverhalt geklärt ist und den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben wurde, § 105 SGG.

Die zulässige Klage ist begründet.

Die Versagung von Leistungen zur Kinderrehabilitation in dem Bescheid vom 26.09.2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.11.2008 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin hat Anspruch auf Gewährung der beantragten Leistungen.

Rechtsgrundlage für die von der Klägerin begehrte stationäre Rehabilitationsmaßnahme ist § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI. Nach dieser Vorschrift kann die Beklagte als sonstige Leistung zur Teilhabe – reduziert auf die für den vorliegenden Fall einschlägigen Alternativen – stationäre Heilbehandlung für Kinder von Versicherten erbringen, wenn hierdurch voraussichtlich eine beeinträchtigte Gesundheit wesentlich gebessert werden kann.

Die Mutter der Klägerin ist Versicherte; in ihrer Person liegen die versicherungsrecht-lichen Voraussetzungen von § 31 Abs. 2 Satz 1 letzter Halbsatz vor.

Auch die Voraussetzung der Möglichkeit einer wesentlichen Besserung der Gesundheit ist in der Person der Klägerin gegeben. Bereits der abschließende Bericht des Y-Jugendwerkes vom 17.07.2007 stellte fest, dass das Rehabilitationspotenzial der Klägerin noch nicht ausgeschöpft sei. Auch der von der Beklagten im Verwaltungsverfahren beauftragte Gutachter Dr. W. kam in seinem Gutachten vom 30.04.2008 (Seite 9 des Gutachtens) zu dem Ergebnis, dass die bisherigen Rehabilitationsergebnisse sehr zufriedenstellend und auch weiterhin hoffnungsvoll seien; der langwierige Rehabilitationsverlauf entspreche der diagnostisch gesicherten vorangegangenen Hirnschädigung. Zusammenfassend kommt Dr. W. zu dem Ergebnis: "Aus gutachtlicher Sicht sind die Rehabilitationsaussichten prognostisch noch günstig, es sollten alle Möglichkeiten einer intensiven neuropsychologischen Behandlung auch unter stationären Bedingungen ausgenutzt werden."

Diese Einschätzung setzt sich in denen im gerichtlichen Verfahren beigezogenen Befundberichten fort. Der ärztliche Entlassungsbericht der V-Klinik E-Stadt. vom 20.02.2009 stellt fest, dass die Klägerin immer noch starke Einschränkungen neuro-psychologisch kognitiv, wie sprachlich und auch motorisch habe. Eine Weiterbehandlung sei zwingend erforderlich. Der ärztliche Entlassungsbrief des Y-Jugendwerkes vom 08.07.2009, der der Klägerin – wie die übrigen Befundberichte auch - Anstrengungsbereitschaft und Therapiewilligkeit bescheinigte, erläutert, dass im Rahmen der Förderung das primäre Ziel der Rehabilitationsbehandlung, die Voraussetzung für eine sich anschließende BvB-Maßnahme zu schaffen, fallen gelassen werden musste. Wegen der bestehenden dyspraktischen und neurokognitiven Einschränkungen habe sich vielmehr das Erreichen von Anlernniveau als realistisches Ziel der stationären Rehabilitationsbehandlung herauskonkretisiert.

Die Beklagte stützt die Ablehnung der begehrten Rehabilitationsmaßnahme auf den Umstand, dass bei der Klägerin eine spätere Erwerbsfähigkeit nicht mehr zu erreichen sei. Dabei stützt sich die Beklagte auf § 2 Abs. 1 Satz 1 der Gemeinsamen Richtlinien der Träger der Rentenversicherung nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI für Kinderheilbehandlungen (KiHB-Richtlinien) vom 5. September 1991 in der Fassung vom 26. Februar 1997. Danach werden Kinderheilbehandlungen erbracht, wenn hierdurch voraus- sichtlich eine beeinträchtigte Gesundheit wesentlich gebessert oder wiederhergestellt werden kann und dies Einfluss auf die spätere Erwerbsfähigkeit haben kann. Damit nimmt die KiHB-Richtlinie, deren gesetzliche Ermächtigung für ihren Erlass sich in § 31 Abs. 2 Satz 2 SGB VI befindet, durch das zusätzliche Merkmal "Einfluss auf die spätere Erwerbsfähigkeit" bestimmte Kinder vom Anwendungsbereich des § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI aus. Mit dieser Einschränkung setzt sich § 2 Abs. 1 Satz 1 KiHB-Richtlinie in Widerspruch zu § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI. Dieser Verstoß gegen höherrangiges Recht macht die untergesetzliche Rechtsnorm – hier § 2 Abs. 1 Satz 1 KiHB-Richtlinie – insoweit unwirksam (vgl. BSG, Urteil vom 01.09.2005 – NZS 2006, 485 (488) m.w.N.).

Denn das Erfordernis des (positiven) Einflusses auf die spätere Erwerbsfähigkeit ist auch nicht immanent in § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI enthalten. Dies ergibt sich beispielhaft aus einem Vergleich mit § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB VI, wo der Gesetzgeber die finale Verknüpfung mit dem Merkmal der "Erwerbsfähigkeit" ausdrücklich herstellt.

Zwar weist der Beklagte darauf hin, dass § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB VI ausdrücklich Leistungen nach § 26 Abs. 2 Nr. 2 und § 30 SGB IX, also Leistungen der Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder ausschließt. Dies vermag nach der Auffassung des erkennenden Gerichts im vorliegenden Fall nicht zu greifen, weil diese Leistungen sich auf den Personenkreis noch nicht eingeschulter behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder bezieht, wie sich aus § 1 der Verordnung zur Früherkennung und Frühförderung behinderter und von Behinderung bedrohter Kinder – FrühV - vom 24. Juni 2003 (BGBl. I Seite 998) ergibt (vgl. auch Gemeinsames Rundschreiben des BMAS und des BMG zum Thema "Frühförderung" (RdLH 2009, 104 (106)). Zu diesem Personenkreis gehört die 1986 geborene Klägerin eindeutig nicht.

Soweit die Beklagte der Auffassung ist, dass die hier im Streit befindlichen Rehabili-tationsleistungen generell nicht zu dem gesetzlich festgelegten Aufgabengebiet der Rentenversicherung zählen, findet sich dies – wie oben dargelegt – in den im vorliegenden Verfahren anzuwendenden Rechtsnormen nicht wieder.

Bei dieser Sachlage kann offen bleiben, ob im Falle der Klägerin tatsächlich davon auszugehen ist, dass die begehrten Rehabilitationsleistungen ohne Einfluss auf die spätere Erwerbsfähigkeit der Klägerin bleiben werden. Dies ist von der Klägerin zuletzt im Schriftsatz ihres Bevollmächtigten vom 02.02.2011 in Frage gestellt worden, ohne das dem – wie dargelegt – nachgegangen werden müsste.

Zwar ist in § 31 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 SGB VI die von der Beklagten zu treffende Entscheidung als Ermessensentscheidung ("können") ausgestaltet, aber § 2 Abs. 1 Satz 1 KiHB-Richtlinie modifiziert dies zu einer gebundenen Entscheidung ("werden erbracht"), wogegen – als für die Klägerin günstig – keine Bedenken bestehen.

Die Beklagte war deshalb antragsgemäß zu verurteilen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
Saved