S 149 AS 17644/09

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
149
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 149 AS 17644/09
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
1. Der Bescheid vom 11. März 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Mai 2009 (W /09) wird aufgehoben und der Beklagte wird verurteilt, den Klägern dem Grunde nach Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ab dem 19. Januar 2009 bis 30. September 2009 als Zuschuss zu gewähren. 2. Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Kläger. 3. Die Sprungrevision wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Kläger begehren Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Die am 1990 geborene Klägerin zu 1) ist polnische Staatsbürgerin. Sie reiste im Oktober 2004 mit ihren Eltern nach Deutschland ein und lebt seitdem ununterbrochen in B. Ab dem 14. November 2008 war sie in der Sch Straße ... B gemeldet (vgl. Bl. 18/19 der Verwaltungsakte). In der Wohnung Sch Straße ...zahlte die Klägerin monatlich eine Nettokaltmiete in Höhe von 200,00 EUR und Betriebskostenvorauszahlungen in Höhe von 140,00 EUR (vgl. Bl. 20 der Verwaltungsakte). Im Juni 2010 zog die Klägerin zu 1) in ihre derzeitige Wohnung in der D Straße ..., ... B.

Am 23. Juli 2008 stellte die Bundesagentur für Arbeit der Klägerin zu 1) eine unbefristete Arbeitsberechtigung-EU für berufliche Tätigkeiten jeder Art aus (vgl. Bl. 19 der Gerichtsakte). Mit Datum vom 13. Januar 2009 stellte das Landesamt für Bürger- und Ordnungs¬angelegenheiten der Klägerin zu 1) eine Bescheinigung nach § 5 FreizügG/EU aus (vgl. Bl. 16 der Verwaltungsakte).

Am 19. Januar 2009 stellte die Klägerin zu 1) einen Antrag auf Leistungen nach dem SGB II bei dem Beklagten. Am 2. Februar 2009 gebar sie ihren Sohn, den Kläger zu 2), der ebenfalls die polnische Staatsbürgerschaft hat. Der Kindsvater zahlte seitdem Unterhalt in Höhe monatlich 200,00 EUR. Außerdem erhielt die Klägerin zu 1) seit der Geburt Elterngeld in Höhe von monatlich 300,00 EUR und Kindergeld in Höhe von monatlich 164,00 EUR (vgl. Bl. 54 der Gerichtsakte und Bl. 56 der Verwaltungsakte). Weitere Einnahmen hatte sie nach den vorliegenden Unterlagen nicht.

Mit Bescheid vom 11. März 2009 lehnte der Beklagte den Leistungsantrag der Klägerin zu 1) ab. Zur Begründung führte er an, dass sie aufgrund von § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sei, weil sie ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland lediglich zur Arbeitssuche habe.

Mit Bescheid vom 7. Mai 2009 bewilligte der Beklagte den Klägern in Umsetzung eines Beschlusses des Sozialgerichts vom 30. April 2009 darlehensweise Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für den Zeitraum 30. März 2009 bis September 2009 (Az. S 128 AS /09 ER).

Den gegen die Ablehnung des Leistungsantrags eingelegten Widerspruch der Klägerin zu 1) vom 30. März 2009 wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 28. Mai 2009 zurück. Für Einzelheiten wird auf den Widerspruchsbescheid verwiesen (Bl. a der Gerichtsakte).

Mit ihrer am 10. Juni 2009 beim Sozialgericht eingegangenen Klage verfolgen die Kläger ihr Anliegen weiter. Zur Begründung führen sie an, dass die Klägerin zu 1) bis zur Geburt ihres Kindes mit ihrem Vater zusammen gewohnt habe. Der Vater habe seit Einreise in die Bundesrepublik im Oktober 2004 als Selbstständiger gearbeitet und tue dies ihres Wissens nach weiterhin. Die Eltern der Klägerin zu 1) hätten sich im Jahr 2006 getrennt. Im Jahr 2009 habe ihre Mutter, die die mit dem jüngeren Bruder der Klägerin zu 1) zusammenlebt, Leistungen nach dem SGB II beantragt und auch erhalten. Die Eltern hätten seit ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland eine Freizügigkeitsbescheinigung gehabt. Der Vater sei dafür selbst zur Bundesagentur für Arbeit gegangen. Für die Klägerin zu 1) habe ihr Vater keine eigene Freizügigkeitsbescheinigung beantragt.

Die Klägerin zu 1) gibt an, dass sie gegen Ende 2009 bei der Ausländerbehörde vorgesprochen habe, um eine Daueraufenthaltsberechtigung zu erhalten. Ihr sei dort gesagt worden, dass sie eine auf den Beginn ihrer Einreise datierte Freizügigkeitsbescheinigung benötige. Sie habe aber nur durchgehende Meldebescheinigungen seit Oktober 2004.

Die Klägerin gibt an, dass sie nach ihrer Einreise zunächst für ein Jahr eine Förderschule für Deutsch in W besucht habe. Der Name der Schule sei ihr nicht mehr geläufig. Im Anschluss habe sie die 9. Klasse einer Gesamtschule in C besucht, welche sie einmal wiederholt habe. Nach der Geburt ihres Sohnes habe sie die Schule verlassen. Einen Schulabschluss habe sie nicht gemacht. Die Klägerin erklärt, dass sie weder während noch nach ihrer Schulzeit in irgendeiner Form beruflich tätig war, gejobbt habe oder sonst gearbeitet habe. Sie habe auch in der Zwischenzeit keine Ausbildung aufgenommen. Die Klägerin zu 1) plant, ab August 2011 den Hauptschulabschluss nachzuholen, sobald ihr Sohn in den Kindergarten kommt.

Am 12. Oktober 2009 hat die Klägerin einen neuen Leistungsantrag beim Beklagten gestellt. Auf diesen Antrag hat der Beklagte vorläufig Leistungen nach dem SGB II ab 12. Oktober 2009 bewilligt. Die Beteiligten sind übereinstimmend der Auffassung, dass der Zeitraum ab 12. Oktober 2009 nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist.

Die Kläger beantragen,

den Bescheid vom 11. März 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28. Mai 2009 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, den Klägern Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch ab 19. Januar 2009 bis 30. September 2009 als Zuschuss zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist er auf sein Vorbringen im Widerspruchsbescheid. Er gehe davon aus, dass die Kläger gem. § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II von Leistungen nach dem SG II ausgeschlossen seien.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Prozessakte sowie der Verwaltungsakten des Beklagten und der Prozessakten in den Verfahren S 128 AS./09 ER und S 170 AS .../09 ER Bezug genommen. Er war Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe:

Die in Form einer kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (unechte Leistungsklage) gem. § 54 Abs. 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässige Klage ist begründet. Die Ablehnung des Leistungsantrags mit Bescheid vom 11. März 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Mai 2009 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten.

Gegenstand der Klage ist der Bescheid vom 11. März 2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 28. Mai 2009, mit welchem der Beklagte Leistungen nach dem SGB II abgelehnt hat. Streitig ist der Zeitraum vom 19. Januar 2009 bis zum 30. September 2009. Auf diesen Zeitraum haben die Kläger ihren Klageantrag beschränkt. Im Übrigen hat die Klägerin zu 1) am 19. Januar 2009 Leistungen nach dem SGB II bei dem Beklagten beantragt und den voraussichtlichen Entbindungstermin für ihren Sohn mitgeteilt. Nach der Geburt des Klägers zu 2) hat sie die Anlage KI nachgereicht. Soweit der Kläger zu 2) betroffen ist, besteht ein Leistungsanspruch erst ab der Geburt am 2. Februar 2009. Der erneute Leistungsantrag vom 12. Oktober 2009 würde auch ohne die Beschränkung des Klageantrags eine Zäsurwirkung hinsichtlich des streitigen Zeitraums entfalten.

1. Die Kläger haben einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II in dem streitgegenständlichen Zeitraum aus § 7 SGB II. Die Klägerin zu 1) gehörte zu dem grundsätzlich leistungs¬berechtigten Personenkreis gem. § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II. Die Klägerin zu 1) hatte (1.) das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht. Es liegen (2.) keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sie nicht erwerbsfähig war (§ 8 SGB II). Sie war (3.) nach den vorliegenden Unterlagen hilfebedürftig, weil sie ihren Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern konnte und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhielt (§ 9 Abs. 1 SGB II). Die Klägerin zu 1) erzielt neben Unterhaltszahlungen in Höhe von monatlich 200,00 EUR, Elterngeld in Höhe von monatlich 300,00 EUR und Kindergeld in Höhe von monatlich 164,00 EUR kein Einkommen. Es liegen außerdem keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sie Vermögen besaß. Sie erhielt die erforderliche Hilfe auch nicht von Angehörigen oder Trägern anderer Sozialleistungen. Schließlich hatte die Klägerin (4.) ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland. Sie war durchgehend in B gemeldet und es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass sie sich nicht in B aufgehalten hat. Im Übrigen hat sie sich auch rechtmäßig in der Bundesrepublik aufgehalten. Sie besaß eine Bescheinigung nach § 5 FreizügG/EU (vgl. Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 19. Oktober 2010, Az. B 14 AS 23/10 R, juris Rz. 14). Der Kläger zu 2) lebte in dem streitgegenständlichen Zeitraum mit der Klägerin zu 1) in Bedarfsgemeinschaft (§ 7 Abs. 2 S. 1 SGB II).

2. Ein Leistungsanspruch der Kläger scheitert auch nicht daran, dass die Klägerin zu 1) nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen wäre. Nach dieser Vorschrift sind Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen von Leistungen nach dem SGB II ausgenommen.

a) Nach dem Wortlaut der Vorschrift liegen die Voraussetzungen für einen Leistungsausschluss zwar vor. Die Klägerin zu 1) ist Ausländerin und ihr Aufenthaltsrecht ergibt sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche. Einreise und Aufenthalt der Klägerin zu 1) richten sich nach dem Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) (vgl. § 1 FreizügG/EU). Die Klägerin zu 1) ist polnische Staatsbürgerin und die Republik Polen ist mit Wirkung zum 1. Mai 2004 der Europäischen Union beigetreten.

Die Klägerin zu 1) hatte im streitgegenständlichen Zeitraum nur ein Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Sie war im Besitz einer Arbeitsberechtigung-EU für berufliche Tätigkeiten jeder Art und plante, ihren Schulabschluss nachzuholen und einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, sobald die Betreuung des Klägers zu 2) gesichert war.

Auf sonstige Aufenthaltsrechte konnte die Klägerin zu 1) sich nicht berufen. Sie war zunächst nicht als aktuelle oder ehemalige Arbeitnehmerin unmittelbar aus Art. 45 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) aufenthaltsberechtigt (vgl. Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH), Urteil vom 4. Juni 2009, Az. C-22/08 und C-23/08, Rz. 26 ff). Die Klägerin zu 1) ist bislang keiner Erwerbstätigkeit nachgegangen. Der Klägerin zu 1) stand auch kein Aufenthaltsrecht aus selbstständiger Tätigkeit nach § 2 Abs. 1 Nr. 2 FreizügG/EU zu. Einer solchen Tätigkeit ist sie ebenfalls nicht nachgegangen. Aus demselben Grund scheidet auch ein Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 1 Nr. 3 FreizügG/EU aus. Die Klägerin zu 1) hielt sich auch nicht lediglich als Empfängerin von Dienstleistungen in der Bundesrepublik Deutschland auf (§ 2 Abs. 1 Nr. 4 FreizügG/EU). Ein Aufenthaltsrecht aus § 2 Abs. 1 Nr. 5 iVm. § 4 FreizügG/EU scheidet aufgrund der Hilfebedürftigkeit der Klägerin zu 1) aus. Als Familienangehörige konnte die Klägerin zu 1) kein Aufenthaltsrecht gem. § 2 Abs. 1 Nr. 6 iVm. § 3 FreizügG/EU von ihren Eltern ableiten, weil sie im streitgegenständlichen Zeitraum nach ihren glaubhaften Angaben nicht (mehr) gem. § 3 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU gemeinsam mit ihren Eltern wohnte (zum Erfordernis einer gemeinsamen Wohnung vgl. Renner, Ausländerrecht, 9. Auflage 2011, § 3 FreizügG/EU Rz. 12). Schließlich besaß die Klägerin zu 1) im streitgegenständlichen Zeitraum kein Daueraufenthalts¬recht aus § 2 Abs. 1 Nr. 7 iVm. § 4a FreizügG/EU. Die Klägerin zu 1) hatte sich noch keine fünf Jahre gem. § 4a Abs. 1 FreizügG/EU in der Bundesrepublik Deutschland aufgehalten. Die Voraussetzungen von § 4a Abs. 2 FreizügG/EU lagen ebenfalls nicht vor.

Die Klägerin zu 1) konnte ein Aufenthaltsrecht auch nicht aus der elterlichen Sorge für den Kläger zu 2) ableiten. Zwar steht nach den Urteilen des EuGH vom 23. Februar 2010 in den Rechtssachen Teixeira und Ibrahim dem Elternteil, welches die elterliche Sorge für ein freizügigkeitsberechtigtes minderjähriges Kind ausübt, unter Umständen ein von diesem Kind abgeleitetes Aufenthaltsrecht unmittelbar aus Art. 12 der Verordnung 1612/68 vom 15. Oktober 1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu, welches unabhängig davon ist, ob das Elternteil selbst über ausreichende Existenzmittel verfügt (EuGH, Urteile vom 23. Februar 2010, Az. C-480/08 und C-310/08). Dies setzt allerdings voraus, dass das Elternteil selbst einmal Wanderarbeitnehmer war. Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Urteil des EuGH vom 8. März 2011 (Az. C-34/09). Soweit der EuGH dort entschieden hat, dass sich aus der Unionsbürgerschaft gem. Art. 20 AUEV ggf. ein Aufenthaltsrecht auch für Eltern eines Unionsbürgers mit Drittstaatsangehörigkeit ergibt, ist dieser Fall hier nicht einschlägig.

Schließlich ist der Leistungsausschluss gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II auch nicht deswegen unanwendbar, weil die Klägerin zu 1) in den Anwendungsbereich des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) fallen würde. Polen gehört nicht zu den Vertragsstaaten des EFA (vgl. BSG, Urteil vom 19. Oktober 2010, Az. B 14 AS 23/10 R).

b) Die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ist jedoch europarechtskonform einschränkend dahingehend auszulegen, dass sie nur dann Anwendung findet, wenn die Arbeitssuche bereits Zweck der Einreise war. Eine wortgetreue Anwendung des Leistungsausschlusses auf sämtliche Fälle, in denen ein Unionsbürger zum Zeitpunkt der Stellung eines Leistungsantrags ein Aufenthaltsrecht nur zum Zweck der Arbeitssuche hat, ohne Ansehung des ursprünglichen Zwecks der Einreise würde gegen vorrangig anwendbares Europarecht verstoßen (zu den in der Rechtsprechung bestehenden europarechtliche Bedenken vgl. Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. Dezember 2010, Az. L 34 AS 1501/10 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 29. November 2010, Az. L 34 AS 1001/10 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 9. September 2010, Az. L 10 AS 1023/10 B ER; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 25. August 2010, Az. L 7 AS 3769/10 ER-B).

§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II dient der Umsetzung der Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familien¬angehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewesen (Unionsbürger-RL). Nach Art. 24 Abs. 1 der Unionsbürger-RL genießen Unionsbürger, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaates aufhalten, grundsätzlich das Recht auf Gleichbehandlung mit den Staatsangehörigen dieser Mitgliedstaaten. Die Mitgliedstaaten dürfen von diesem Recht gem. Art. 24 Abs. 2 Unionsbürger-RL iVm. Art. 14 Abs. 4 Nr. b Unionsbürger-RL jedoch Ausnahmen vorsehen in Bezug auf Ansprüche auf Sozialhilfe, wenn Unionsbürger eingereist sind, um Arbeit zu suchen.

aa) Zweifel bestehen schon daran, ob die Leistungen nach dem SGB II von dieser Ausnahmeregel überhaupt erfasst sind. Das wäre nur dann der Fall, wenn es um Leistungen der Sozialhilfe im Sinne des Art. 24 Abs. 2 Unionsbürger-RL handelt. Dafür kommt es nicht auf die Terminologie des deutschen Gesetzgebers bei der Abgrenzung des Zweiten und Zwölften Buchs Sozialgesetzbuch an, sondern auf die europarechtliche Auslegung des Begriffs der Sozialhilfe. Nach dem EuGH stellen finanzielle Leistungen, die unabhängig von ihrer Einstufung nach nationalem Recht den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, keine Sozialhilfeleistungen gem. Art. 24 Abs. 2 Unionsbürger-RL dar (EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009, Az. C-22/08, Rz. 45). Dies könnte auch auf SGB II-Leistungen zutreffen. Die Grundsicherung für Arbeitssuchende soll gem. § 1 Abs. 2 S. 2 SGB II "erwerbsfähige Leistungsberechtigte bei der Aufnahme oder Beibehaltung einer Erwerbstätigkeit unterstützen und den Lebensunterhalt sichern, soweit sie ihn nicht auf andere Weise bestreiten können". Außerdem gehört zu den Voraussetzungen für den Leistungsbezug gem. § 7 Abs. 1 S. 1 SGB II unter anderem auch die Erwerbsfähigkeit. Dies könnte auch nach dem EuGH ein Hinweis darauf sein, dass die Leistungen den Zugang zur Beschäftigung erleichtern sollen (EuGH, Urteil vom 4. Juni 2009 - Vatsouras, Koupatanze, Rs. C-22/08, Rdnr. 43).

Andererseits unterscheidet § 1 Abs. 3 SGB II zwischen Eingliederungsleistungen und Leistungen zur Sicherung des Lebens¬unterhalts. Diese Unterscheidung könnte nahe legen, dass nur erstere keine Sozialhilfe im europäischen Sinn darstellen. Dies wird möglicherweise auch durch Art. 70 Abs. 1 iVm. Anhang X der Verordnung 883/2004 vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO 883/2004), welche die Verordnung VO 1408/71 ersetzt hat, gestützt, wonach Leistungen der Grundsicherung für Arbeits¬suchende besondere beitragsunabhängige Leistungen darstellen, die sowohl Merkmale der Sozialhilfe als auch der sozialen Sicherheit aufweisen, d.h. eine Form von Hybridleistungen darstellen. Andererseits ist fraglich, ob sich das Leistungssystem des SGB II sinnvoll aufteilen lässt. Unter § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II fallende Unionsbürger müssten dann die Leistungen nach §§ 14 ff SGB II erhalten, ohne Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu bekommen.

bb) Es ist allerdings weiterhin äußerst zweifelhaft, ob der Leistungsausschluss gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II nicht gegen den – unmittelbar anwendbaren – Art. 4 VO 883/2004 verstößt. Danach haben Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates wie die Staatsangehörigen dieses Staates. Gem. Art. 3 Abs. 3 iVm. Art. 70 iVm. Anhang X VO 883/2004 gilt dieser Gleichbehandlungs¬grundsatz auch für Leistungen der Grundsicherung für Arbeitssuchende. Die Verordnung gilt nach Art. 2 VO 883/2004 jedenfalls für alle Unionsbürger.

cc) Im Ergebnis muss im vorliegenden Fall allerdings nicht entschieden werden, ob die Leistungen des SGB II überhaupt unter Art. 24 Abs. 2 Unionsbürger-RL fallen und ob der Leistungsausschluss gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II insgesamt aufgrund vorrangig anwendbaren Europarechts unangewendet bleiben muss. Ein Anspruch der Kläger auf die geltend gemachten Leistungen besteht schon dann, wenn die Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II europarechtskonform einschränkend dahingehend ausgelegt wird, dass sie nur dann Anwendung findet, wenn die Arbeitssuche bereits Zweck der Einreise war.

Ein Leistungsausschluss unabhängig davon, ob die Arbeitssuche bereits zum Zeitpunkt der Einreise Zweck des Aufenthalts war oder erst nach einer Einreise aus anderen Gründen später zum Aufenthaltszweck geworden ist, verstößt gegen die unionsrechtliche Ermächtigung für Leistungsausschlüsse gem. Art. 24 Abs. 2 Unionsbürger-RL. Die Vorschrift des Art. 14 Abs. 4 Nr. b Unionsbürger-RL erfasst nach seinem Wortlaut nur "Unionsbürger [die] in das Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats eingereist sind, um Arbeit zu suchen". Die Einreise und die Arbeitssuche werden somit final verknüpft. Auf einen später arbeitssuchend werdenden Unionsbürger, der zu einem anderen Zweck eingereist ist, findet diese Vorschrift nach ihrem Wortlaut keine Anwendung. Ausnahmevorschriften sind im Übrigen nach ständiger Rechtsprechung des EuGH generell eng auszulegen (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Mai 2010, Az. C-94/09, Rz. 29; Urteil vom 15. April 2010, Az. C-538/08, Rz. 43).

Auf Grundlage der einschränkenden Auslegung der Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II liegen die Voraussetzungen für einen Leistungsausschluss nicht vor. Die Klägerin zu 1) ist nicht zum Zweck der Arbeitssuche in die Bundesrepublik eingereist. Zum Zeitpunkt der Einreise war sie erst 14 Jahre alt. Die Klägerin zu 1) hat zum damaligen Zeitpunkt gem. § 3 Abs. 1 FreizügG/EU ihre Eltern begleitet, die ihrerseits wohl zum Zweck der Arbeitssuche bzw. Arbeitsaufnahme in die Bundesrepublik eingereist sind. Ob die Eltern tatsächlich einer selbstständigen oder nicht-selbstständigen Beschäftigung nachgegangen sind, kann hier außen vor bleiben. Es ist davon auszugehen, dass die Eltern und die Klägerin zu 1) zumindest ein Aufenthaltsrecht ggf. aus § 4 FreizügG/EU hatten. Bis zum Jahr 2009 hatten weder die Klägerin zu 1) noch ihre Eltern Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts erhalten. Im Übrigen besaßen sie nach den glaubhaften Angaben der Klägerin zu 1) Freizügigkeitsbescheinigungen.

Das Gericht konnte den Beklagten gem. § 130 SGG zur Leistung dem Grunde nach verurteilen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Das Gericht hat die Sprungrevision gem. § 161 Abs. 2 iVm. § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Die Europarechtskonformität des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ist in der Rechtsprechung umstritten, ohne dass bislang eine höchstrichterliche Klärung vorliegt.
Rechtskraft
Aus
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