S 6 AS 3726/10

Land
Hamburg
Sozialgericht
SG Hamburg (HAM)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
6
1. Instanz
SG Hamburg (HAM)
Aktenzeichen
S 6 AS 3726/10
Datum
2. Instanz
LSG Hamburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Bescheid vom 01.04.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 02.07.2010 wird aufgehoben. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen die Aufhebung der Leistungsbewilligung für März 2010 nebst einer Erstattungsforderung i.H.v. 462.- Euro.

Der Beklagte bewilligte dem Kläger, seiner Ehefrau und den beiden Kindern mit Bescheid vom 27.11.2009 in der Fassung des Bescheides vom 14.12.2009 Leistungen i.H.v. 1.397,31 Euro monatlich für den Zeitraum vom 01.01.2010 bis zum 30.06.2010. Die bewilligte Regelleistung belief sich für den Kläger und seine Ehefrau auf jeweils 323.- Euro und für beide Kinder auf jeweils 31.- Euro. Die Zahlungen erfolgten i.H.v. 709,65 Euro an den Vermieter, i.H.v. 65.- Euro an ein Versorgungsunternehmen und in Höhe des übrigen Betrags (622,66 Euro) auf das Konto des Klägers.

Durch Beschluss des AG H.B. vom 05.03.2010 wurde der Kläger verpflichtet, seine bisherige Wohnung sofort zu verlassen. Das Betreten der Wohnung wurde ihm verboten und die Wohnung seiner Ehefrau zur alleinigen Nutzung zugewiesen.

Nachdem der Kläger dies dem Beklagten am 15.03.2010 mitgeteilt hatte, hörte diese ihn mit Schreiben vom 18.03.2010 zunächst zu einer beabsichtigten Aufhebung der Leistungsbewilligung für März 2010 i.H.v. 462,20 Euro an und hob schließlich mit Bescheid vom 01.04.2010 den Bewilligungsbescheid hinsichtlich Regelleistung i.H.v. 462.- Euro auf. Zur Begründung führte sie aus, der Kläger habe die gesamte Regelleistung der (bisherigen) Bedarfsgemeinschaft erhalten. Da er nicht rechtzeitig Mitteilung von der Trennung der Bedarfsgemeinschaft am 03.03.2010 gemacht habe, sei es insoweit zu einer Überzahlung gekommen.

Den am 08.04.2010 erhobenen Widerspruch wies der Beklagte mit Bescheid vom 02.07.2010 zurück. Er führte aus, der Kläger habe zumindest wissen müssen, dass er die Regelleistung für vier Personen nicht für sich alleine habe behalten können.

Hiergegen richtet sich die am 11.10.2010 erhobene Klage.

Der Kläger führt aus, er habe die Wohnung am 03.03.2010 lediglich unter Mitnahme einiger persönlicher Gegenstände sowie 70.- Euro in bar verlassen. Bereits zuvor seien von der für März 2010 ausgezahlten Leistung Einkäufe für eine gemeinsame Geburtstagsfeier (des Klägers und seines Sohnes) getätigt sowie Strom- und Ratenzahlungen i.H.v. insgesamt 170,70 Euro beglichen worden.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid vom 01.04.2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 02.07.2010 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er bleibt bei seiner Auffassung.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die übrige Gerichtsakte sowie die beigezogene Verwaltungsakte verwiesen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

Entscheidungsgründe:

A.) Die Klage ist zulässig, insbesondere innerhalb der Frist aus § 87 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erhoben. Ein früherer Zugang des Widerspruchsbescheides beim Verfahrensbevollmächtigten des Klägers (der ihn bereits im Widerspruchsverfahren vertreten hat) als am 09.09.2010 lässt sich nicht feststellen.

B.) Die Klage ist auch begründet. Die angefochtenen Entscheidungen sind rechtswidrig i.S.d. § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG.

I.) Die angefochtenen Entscheidungen lassen sich nicht auf die vom Beklagten für einschlägig erachteten Ermächtigungsgrundlagen stützen.

1.) Gem. § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 4 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) – i.V.m. § 40 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 1 Sozialgesetzbuch – Zweites Buch – Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II, hier in der zur Zeit der Entscheidung über den Widerspruch geltenden Fassung, a.F.) und § 330 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Drittes Buch – Arbeitsförderung (SGB III) ist ein Dauerverwaltungsakt mit Wirkung ab dem Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben, soweit der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist (auf diesen Aufhebungstatbestand stützt sich der Widerspruchsbescheid). Dasselbe gilt nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X (auf diesen Aufhebungstatbestand stützt sich der Bescheid vom 01.04.2010) soweit der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist.

2.) Das Gericht vermag bereits keine wesentliche Änderung (§ 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X) erkennen, die zur Aufhebung der Leistungsbewilligung für März 2010 gegenüber dem Kläger berechtigt hätte.

a) Der (erzwungene) Auszug des Klägers aus der gemeinsamen Wohnung und somit die Trennung der Bedarfsgemeinschaft haben nicht dazu geführt, dass sich die Summe der Leistungsansprüche des Klägers, seiner Ehefrau und der beiden Kinder auf Regelleistung nach § 20 SGB II vermindert hätte (eher hat die Trennung der Bedarfsgemeinschaft den Gesamtbedarf der früheren Mitglieder erhöht). Auch an der "internen" Verteilung der im Bewilligungsbescheid zusammengefassten Individualansprüche der (früheren) Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft auf Regelleistung hat sich nichts geändert. Insbesondere war es nicht so, dass dem Kläger nach der Trennung der Bedarfsgemeinschaft eine geringere Regelleistung als im Bescheid vom 14.12.2009 zuerkannt zugestanden hätte.

b) Auch wenn der Kläger was er bestreitet und was keinesfalls erwiesen ist bei der Trennung der Bedarfsgemeinschaft den anderen Mitgliedern deren Regelleistungen vorenthalten haben sollte, wäre dies keine wesentliche Änderung gewesen, die den Beklagten zur rückwirkenden Aufhebung berechtigten könnte.

aa) Zahlt der Grundsicherungsträger Leistungen an den zum Zeitpunkt der Auszahlung Empfangsberechtigten aus, so sind auch die Ansprüche der anderen Leistungsberechtigten auf diese Leistungen erloschen (§ 362 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, BGB), wie sich aus § 38 Abs. 1 Satz 1 und 2 SGB II ergibt (vgl. Boerner, in: Löns/Herold-Tews, SGB II, 3. Aufl., 2011, Rn. 18). Ein Leistungsberechtigter, den der Empfangsberechtigte bei der "Aufteilung" der Leistungssumme im Innenverhältnis einer Bedarfsgemeinschaft gleichsam übergangen hat, kann seine Individualleistungen daher nicht nochmals vom Leistungsträger fordern, sondern muss seinen (zivilrechtlichen) Anspruch gegenüber dem Empfangsberechtigten geltend machen. (vgl. SG Nordhausen, Urteil vom 18.05.2011, S 12 AS 8691/10, juris)

bb) Nur wenn der Leistungsträger trotz fehlender Empfangsberechtigung an einen anderen als den Anspruchsinhaber auszahlt, tritt diese Erfüllungswirkung nicht ein. Nur in diesem Fall kann der Leistungsberechtigte ungeachtet der vorherigen Zahlung "nochmals" die nunmehr korrekte Auszahlung an sich verlangen und nur dann kommt ein Erstattungsanspruch gegenüber dem vermeintlich Empfangsberechtigten in Betracht (Boerner, a.a.O.), wobei bislang nicht geklärt erscheint, welches die genaue Grundlage für diesen Anspruch wäre.

cc) Im vorliegenden Fall ist die Auszahlung der Leistung für März 2010 zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem der Kläger noch nach Maßgabe von § 38 Abs. 1 SGB II zur Inempfangnahme der Regelleistungen auch seiner Ehefrau und der Kinder berechtigt war. Eine Änderung in dieser Empfangsberechtigung ist erst zu einem Zeitpunkt eingetreten, als die Auszahlung bereits erfolgt war. Da sich keinerlei Anhaltspunkt dafür ergibt, dass der Gesetzgeber in einem solchen Fall ein nachträgliches Entfallen der Erlöschenswirkung vorgesehen hat, war die Trennung der Bedarfsgemeinschaft hinsichtlich der Ansprüche auf Regelleistung für März 2010 aus Sicht des Beklagten irrelevant. Ein etwaiger gegen den Kläger gerichteter Anspruch der Ehefrau und der Kinder auf Auskehr der für sie bestimmten Geldbeträge berührte nicht den Rechtskreis des Beklagten und der Beklagte ist auch nicht zu dessen Durchsetzung berufen. Für dieses Ergebnis spricht schließlich, dass § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X eine Aufhebung frühestens zum Zeitpunkt der wesentlichen Änderung zulässt. Da eine Änderung der Verhältnisse nach dem bisher Gesagten allein im Wegfall der nach § 38 Abs. 1 SGB II vermuteten Empfangsberechtigung des Klägers liegen kann, muss insoweit auf die ihrer Natur nach punktuellen Auszahlungen abgestellt werden.

II.) Auch auf § 50 Abs. 2 SGB X lassen sich die angefochtenen Entscheidungen nicht stützen. Auch diese Vorschrift enthält keinen globalen sozialrechtlichen Erstattungsanspruch, sondern betrifft nur die seltenen Fälle, in denen Sozialleistungen ohne zugrundeliegenden Verwaltungsakt erbracht werden (etwa bei schlichtem Verwaltungshandeln, Doppelzahlungen, irrtümlicher Auszahlung an Dritte oder Zahlungen über den Ablauf des Bewilligungszeitraums hinaus, vgl. hierzu Waschull, in: LPK-SGB X, 3. Aufl., 2011, § 50, Rn. 30 f.). Erfolg wie im vorliegenden Fall eine Zahlung aufgrund eines Verwaltungsaktes, so scheidet § 50 Abs. 2 SGB X als Grundlage eines Erstattungsanspruchs aus (Waschull, a.a.O., Rn. 30 m.w.N.).

III.) Das Gericht braucht nicht zu prüfen, ob noch weitere Ermächtigungsgrundlagen in Betracht kommen, da dies den Rahmen einer zulässigen Umdeutung sprengte.

C.) Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Die Entscheidung über die Zulassung der Berufung beruht auf § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 SGG.
Rechtskraft
Aus
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