Land
Schleswig-Holstein
Sozialgericht
Schleswig-Holsteinisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Lübeck (SHS)
Aktenzeichen
S 33 KR 1038/07
Datum
2. Instanz
Schleswig-Holsteinisches LSG
Aktenzeichen
L 5 KR 31/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Ein Handbike mit zuschaltbarem Elektroantrieb kann für eine erwachsene Klägerin eine erforderliche Hilfsmittelversorgung im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB V darstellen, wenn sie aufgrund einer Erkrankung der oberen Extremitäten einer individuell und situationsbedingt zu wählenden Unterstützung durch zuschaltbaren Elektroantrieb bedarf.
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 10. März 2010 und die Bescheide der Beklagten vom 24. Oktober 2006 und 3. April 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. September 2007 aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, die Klägerin mit einem Handbike mit zuschaltbarem Elektroantrieb zu versorgen. Die Beklagte hat der Klägerin ihre außergerichtlichen Kosten für beide Instanzen zu erstatten. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Versorgung der Klägerin mit einem Handbike mit zuschaltbarem Elektroantrieb.
Die 1977 geborene und bei der Beklagten versicherte Klägerin leidet an einer spastischen Paraparese der Beine, einer Hüftdysplasie beidseits mit Luxation links und einem Zustand nach Versteifungs-OP beider Füße (Tripel-Arthrodese) mit resultierender Spitzfußstellung. Sie ist dauerhaft auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen und von der Beklagten mit zwei Aktivrollstühlen versorgt worden. Die Beklagte gewährte der Klägerin 1996 einen Handbike-Vorsatz ohne Hilfsmotor, den sie auch heute noch benutzt. Die Klägerin bezieht Leistungen der Grundsicherung nach dem 4. Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und arbeitet geringfügig als Bürogehilfin. Bei ihr ist ein Grad der Behinderung von 100 festgestellt, ferner wurden ihr die Merkzeichen G, aG, H und RF zuerkannt.
Am 24. Oktober 2006 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Versorgung mit einem Speedy-Duo 2, einem Handbike mit intelligenter Motorunterstützung, das sowohl manuell als auch mit Elektroantrieb betrieben werden kann. Die Beklagte zog medizinische Befundunterlagen über die Klägerin und den Kostenvoranschlag der r. GmbH vom 12. März 2007 über 3.576,85 EUR bei. Sie holte die sozialmedizinische Stellungnahme des MDK vom 28. Juni 2007 ein. Mit Bescheiden vom 24. Oktober 2006 und 3. April 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19. September 2007 lehnte die Beklagte die begehrte Hilfsmittelversorgung ab. Zur Begründung führte sie aus, die beantragte Zurüstung an dem bereits vorhandenen Rollstuhl verleihe diesem fahrradähnliche Eigenschaften. Diese Funktion begründe keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung, weil das eigentliche Funktionsdefizit, die Gehbehinderung, bereits durch den zur Verfügung gestellten Rollstuhl ausgeglichen werde. Erwachsene hätten nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 16. September 1999 – B 3 KR 8/98 - keinen Anspruch auf Versorgung mit einem Handbike, da ein Handkurbelzuggerät für diesen Personenkreis kein Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung darstelle.
Die Klägerin hat am 10. Oktober 2007 Klage beim Sozialgericht Lübeck erhoben. Sie hat geltend gemacht, die Versagung des begehrten Hilfsmittels sei rechtswidrig. Das Bundessozialgericht habe im Urteil vom 28. Mai 2003 – B 3 KR 33/02 R – die Hilfsmitteleigenschaft eines Handbikes bestätigt. Sie benötige die beantragte Zurüstung auch zur Wahrnehmung ihrer Grundbedürfnisse des täglichen Lebens, insbesondere, um die Wege zurücklegen zu können, die ein Gesunder zu Fuß zurücklege. Den ihr von der Beklagten zur Verfügung gestellten manuell betriebenen Rollstuhl könne sie wegen eines chronischen Engpasssyndroms im Bereich der linken Schulter und schmerzhaften Reizzuständen der schulternahen Weichteile nur noch sehr eingeschränkt nutzen. Dies bestätige der Facharzt für Orthopädie Dr. P. in seinem auf Veranlassung des Sozialgerichts erstatteten Befundbericht vom 5. Mai 2009. Er habe zudem ein myogenes Cervikal- und Thorakalsyndrom mit Blockierungen diagnostiziert. Die von ihm durchgeführten Behandlungsmaßnahmen hätten zu keiner Besserung des Krankheitsbildes geführt, so dass sie nur unter Schmerzen den Aktivrollstuhl bewegen könne. Mit den vorhandenen Hilfsmitteln sei sie nicht in der Lage, die Wege des Nahbereichs zurückzulegen. In seinem Attest vom 18. November 2009 bestätige Dr. P., dass die bisherige Belastung durch den Aktivrollstuhl die Ausheilung der mittlerweile chronifizierten Schulterschmerzen verhindere. Um ihre selbständige Mobilität in einem akzeptablen Umfang zu erhalten, sei die Zurüstung mit einem Elektromotor erforderlich. Andernfalls sei eine größere Schulteroperation nicht zu vermeiden, um die Beschwerden zu lindern. In seinem Attest vom 11. Februar 2010 stelle Dr. P. auch nochmals klar, dass er die Versorgung mit einem Speedy-Bike empfehle.
Die Klägerin hat beantragt,
die Bescheide der Beklagten vom 24. Oktober 2006 und 3. April 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. September 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin mit einem Speedy-Duo-2-Hand-Bike zu versorgen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat sich auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid bezogen. Ergänzend hat die Beklagte vorgebracht, dass eine Versorgung mit einem Speedy-Bike als Antrieb für den Aktivrollstuhl nicht zu einer Entlastung im Schulterbereich führe und daher nicht sinnvoll sei. Insoweit hat sie sich auf das Gutachten des MDK (Dr. K.) vom 28. Mai 2009 gestützt.
Mit Urteil vom 10. März 2010 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass das begehrte Hilfsmittel nicht erforderlich sei, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Der Erfolg der Krankenbehandlung könne durch die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl bzw. einem Zusatzmotor für den vorhandenen Aktivrollstuhl ggf. mit Restkraftverstärker gesichert werden. Diese sei auch ausreichend, um einen Basisausgleich der Behinderung herbeizuführen. Die Klägerin begehre die beantragte Versorgung, um sich einen größeren Aktionsradius zu erschließen und erhoffe sich zusätzlich positive Auswirkungen auf Kreislauf und Muskulatur. Derlei Erwägungen seien aber bei der Prüfung der Erforderlichkeit eines Hilfsmittels nicht zu beachten.
Gegen dieses ihrer Bevollmächtigten am 18. März 2010 zugestellte Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung, die am 16. April 2010 beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingegangen ist. Sie rügt, das Sozialgericht habe den Sachverhalt nicht richtig ermittelt, seiner Entscheidung unrichtige Tatsachen zu Grunde gelegt und daher rechtsfehlerhaft ihren Anspruch auf die beantragte Versorgung abgelehnt. Sie benötige ein Handbike mit zuschaltbarem Elektroantrieb um Alltagsgeschäfte z.B. bei der Post, Bank oder Apotheke im Nahbereich ihrer Wohnung zu erledigen. Hierbei handele es sich um Wege, die zum Grundbedürfnis der Mobilität bzw. der Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums gehörten und nicht um Entfernungen, die vergleichsweise durch einen Radfahrer oder Wanderer zurückgelegt würden. Das Sozialgericht habe daher zu Unrecht angenommen, sie begehre die Versorgung, um sich einen größeren Aktionsradius zu erschließen. Dr. P. habe auch die von ihm zunächst vorgenommene fehlerhafte Bezeichnung des Hilfsmittels korrigiert und im Attest vom 11. Februar 2010 die Erforderlichkeit der Versorgung mit einem Speedy-Bike bestätigt. Dies habe das Sozialgericht nicht berücksichtigt. Es sei ihrer Anregung, Dr. P. als sachverständigen Zeugen zu hören, nicht nachgekommen. Dadurch habe das Sozialgericht seine Amtsermittlungspflicht verletzt. Es führe hierzu in den Entscheidungsgründen lediglich aus, das Attest vom 11. Februar 2010 lege keine neuen Erkenntnisse dar, sondern konstatiere nur, dass sie nicht die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl, sondern mit einem Handbike begehre. Das Sozialgericht gehe fehlerhaft davon aus, dass behinderte Menschen den Nahbereich immer entweder mit einem handbetriebenen oder einem Elektrorollstuhl erschlössen und die Versorgung eines Erwachsenen mit einem "Rollstuhl-Handbike" keine erforderliche Hilfsmittelversorgung im Sinne des § 33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (SGB V) sei. Es könne sich dabei aber weder auf wissenschaftliche Erkenntnisse noch medizinische Erfahrungssätze stützen. Daher sei diese Feststellung fehlerhaft. Den allein entscheidenden Einzelfall habe das Sozialgericht rechtsfehlerhaft nicht berücksichtigt. Auch der MDK bestätige in seinem Gutachten vom 28. Mai 2009, dass ein elektrischer Antrieb notwendig sei. Es sei also unstreitig, dass sie derzeit nicht ausreichend versorgt sei und grundsätzlich einen Sachleistungsanspruch auf die begehrte Hilfsmittelversorgung habe. Dem stehe entgegen der Rechtsauffassung des Sozialgerichts auch nicht die Rechtsprechung des BSG entgegen. Das BSG verneine nicht die Hilfsmitteleigenschaft eines Rollstuhl-Bikes an sich, sondern nur dessen Erforderlichkeit im Einzelfall bei den von seiner Entscheidung betroffenen erwachsenen Klägern. Ein Rollstuhl-Bike sei bereits deshalb ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 SGB V, weil es ein Funktionsdefizit ausgleiche. Insoweit stützt sich die Klägerin auf die Rechtsprechung des BSG im Urteil vom 28. Mai 2003 – B 3 KR 33/02 R und des Senats im Urteil vom 3. April 2001 – L 1 KR 35/00. Das BSG habe im Urteil vom 12. September 2009 – B 3 KR 8/08 R – zudem entschieden, dass der Versicherte imstande sein müsse, den Nahbereich der Wohnung mit einem handbetriebenen Rollstuhl ohne übermäßige Anstrengung, schmerzfrei und aus eigener Kraft in normalem Rollstuhltempo zu bewältigen. Im Urteil vom 24. Mai 2006 (SozR 4-2500, § 33 Nr. 6) habe das BSG den Anspruch einer Versicherten auf die behindertengerechte Zusatzausrüstung für ein Liegedreirad bejaht, weil das Liegedreirad zur Erschließung eines über 200 m hinausgehenden Freiraums erforderlich sei. Mithin komme ein Handbike grundsätzlich als Alternative zu einem Elektrorollstuhl in Betracht, falls mittels eines Greifreifenrollstuhls die Mobilität nicht in ausreichendem Maße sichergestellt sei. Diese Voraussetzungen seien bei ihr erfüllt. Sie benötige das beantragte Hilfsmittel zum Ausgleich ihrer Behinderung. Die Konstruktion des Speedy-Duo 2 mit einem Radnabenmotor unterstütze sie beim Zurücklegen der Wegstrecken im Nahbereich der Wohnung. Zusätzlich ergebe sich ein therapeutischer Nutzen durch erhebliche Trainingseffekte im Hinblick auf Muskulatur und Herz-/Kreislaufsystem. Demgegenüber würde sie durch die Benutzung eines Elektrorollstuhls in die Immobilität gedrängt. Es bestünden auch keine ausreichenden Unterstellmöglichkeiten für einen größeren und sperrigen Elektrorollstuhl. Die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl stelle zudem keine wirtschaftlichere Alternative dar. Selbst wenn jedoch davon ausgegangen werde, dass der Elektrorollstuhl und das Speedy-Duo 2 gleich geeignete Hilfsmittel seien, stünde dies ihrem Anspruch nicht entgegen. Sie habe nach § 9 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) in Verbindung mit § 33 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch (SGB I) ein Wunsch- und Wahlrecht bei der Versorgung mit Hilfsmitteln. Insoweit stützt sich die Klägerin auf die Rechtsprechung des BSG im Urteil vom 3. November 1999 – B 3 KR 16/99 R -, des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen im Urteil vom 17. Oktober 2000 – L 5 KR 84/00 – und des Landessozialgerichts Leipzig im Urteil vom 8. September 2004 – S 8 KR 139/02.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 10. März 2010 und den Bescheid der Beklagten vom 24. Oktober 2006 und 3. April 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. September 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, sie – die Klägerin - mit einem Hand¬bike mit zuschaltbarem Elektroantrieb zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Senat hat das fachorthopädische Gutachten von Dr. L. vom 29. November 2011 eingeholt, den Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung ergänzend befragt und die Klägerin persönlich gehört.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakte der Beklagten. Diese haben dem Senat vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, insbesondere ist sie statthaft, da die Beteiligten über einen Gegenstandswert von über 750,00 EUR streiten.
Das Rechtsmittel ist auch begründet. Die Klägerin hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Versorgung mit einem Handbike mit zuschaltbarem Elektroantrieb. Das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts und die angefochtenen Bescheide der Beklagten können daher keinen Bestand haben.
Versicherte haben nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V einen Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit es sich hierbei nicht um allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens handelt oder § 34 Abs. 4 SGB V einen Ausschluss vorsieht. Diese Tatbestandsvoraussetzungen sind hier erfüllt. Insbesondere handelt es sich beim Handbike-Zusatzgerät nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens (BSG, Urteil vom 16. April 1998 – B 3 KR 9/97 R – veröffentlicht in juris).
Für den Hilfsmittelbegriff ist es nicht erforderlich, dass das körperliche Funktionsdefizit unmittelbar überwunden wird. Es ist ausreichend, dass ein sächliches Mittel gewährt wird, das die ausgefallene Funktion ersetzt, erleichtert oder ergänzt, auch wenn dies in anderer Wirkungsweise geschieht. Rollstühle sind Hilfsmittel in diesem Sinne. Auch ein Vorsatz vor einem Rollstuhl, der über Handkurbeln und eine gesondert vorgehängte Vorderachse angetrieben wird und mit einem zuschaltbarem Elektroantrieb versehen ist, stellt ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB V dar (Urteile des Senats vom 2. November 1999 – L 1 Kr 54/98 – und 3. April 2001 – L 1 KR 35/00 -, veröffentlicht in juris). Denn auch Fahrrad-Rollstuhl-Kombina-tionen gleichen ein Funktionsdefizit aus. Unmaßgeblich ist demgegenüber, ob ein Hilfsmittel im Hilfsmittelverzeichnis nach § 139 SGB V enthalten ist. Nach dieser Vorschrift erstellt der Spitzenverband Bund der Krankenkassen ein systematisch strukturiertes Hilfsmittelverzeichnis, in dem die von der Leistungspflicht umfassten Hilfsmittel aufzuführen sind. Dem Verzeichnis kommt aber keine rechtsverbindliche Wirkung zu. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts schon zur Rechtslage nach § 128 SGB V in der durch das Gesundheits-Reformgesetz vom 20. Dezember 1988 (BGBl I 2477) begründeten und bis zur Außerkraftsetzung durch Art. 1 Nr. 94 des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz GKV WSG - vom 26. März 2007, BGBl I 378) zum 1. April 2007 insoweit unveränderten Fassung verkörpert das Hilfsmittelverzeichnis keine abschließende, die Leistungspflicht der Krankenkassen und Pflegekassen im Sinne einer "Positivliste" beschränkenden Regelung. Es handelt sich vielmehr um eine reine Auslegungs- und Orientierungshilfe für die medizinische Praxis. Auch für die Gerichte hat das Hilfsmittelverzeichnis daher nur die Rechtsqualität einer unverbindlichen Auslegungshilfe (vgl. BSG vom 29. September 1997 – 8 RKn 27/96 = SozR 3 2500 3 33 Nr. 25; BSG, Urteil vom 25. Juni 2009 – B 3 KR 4/08 R, veröffentlicht in juris). Das bedeutet, dass auch dann ein Anspruch auf ein Hilfsmittel bestehen kann, wenn es nicht im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt ist; der Versorgungsanspruch bleibt davon unberührt.
Die Versorgung der Klägerin mit dem begehrten Handbike mit zuschaltbarem Elektroantrieb stellt eine erforderliche Hilfsmittelversorgung im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB V dar. Im vorliegenden Fall geht es um die Frage eines Behinderungsausgleichs, der von der 3. Variante des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V erfasst wird. Nach dieser Vorschrift besteht ein Anspruch auf das begehrte Hilfsmittel, wenn es erforderlich ist, um das Gebot eines möglichst weit gehenden Behinderungsausgleichs zu erfüllen. Gegenstand des Behinderungsausgleichs sind zunächst solche Hilfsmittel, die auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet sind, also zum unmittelbaren Ersatz der ausgefallenen Funktionen dienen (BSGE 37, 138; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 18 und 20). Der in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannte Zweck des Behinderungsausgleichs umfasst jedoch auch solche Hilfsmittel, die die direkten und indirekten Folgen einer Behinderung ausgleichen. Ein Hilfsmittel ist von der gesetzlichen Krankenversicherung immer dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis betrifft. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG gehören zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, die Nahrungsaufnahme, das Ausscheiden, die (elementare) Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie das Erschließen eines körperlichen Freiraums im Nahbereich der Wohnung und das Bedürfnis, bei Krankheit oder Behinderung Ärzte und Therapeuten aufzusuchen (BSGE 93, 176; 91, 60). Zum Grundbedürfnis der Erschließung eines geistigen Freiraums gehören unter anderem die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen Menschen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens bzw. eines Schulwissens (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 29 und 46).
Im Falle der Klägerin ist das allgemeine Grundbedürfnis der "Bewegungsfreiheit" betroffen, das bei Gesunden durch die Fähigkeit des Gehens, Laufens, Stehens usw. sichergestellt wird. Ist diese Fähigkeit durch eine Behinderung beeinträchtigt, so richtet sich die Notwendigkeit eines Hilfsmittels in erster Linie danach, ob dadurch der Bewegungsradius in einem Umfang erweitert wird, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht. Die bei der Klägerin bestehende Querschnittslähmung im Sinne einer spastischen Paraparese beider Beine führt dazu, dass sie zur Fortbewegung in der Wohnung und im Nahbereich der Wohnung auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen ist. Deshalb sind ihr von der Beklagten auch zwei Aktivrollstühle zur Verfügung gestellt worden. Damit ist die Klägerin zwar grundsätzlich in der Lage, sich den Nahbereich der Wohnung zu erschließen. Sofern keine akuten Entzündungszustände im Bereich des linken Schultergürtels vorliegen, kann sie sich durch Einsatz von Muskelkraft mit Hilfe der Rollstühle eigenständig in einem Radius fortbewegen, den ein Gesunder normalerweise zu Fuß erreicht. Dabei kommt es aber auch in Zeiten der relativen Beschwerdefreiheit zwangsläufig zu unphysiolo¬gischen Belastungen der Arme und Schultern, die ihr aufgrund der Engpasssituation im Bereich des linken Schultergürtels und des Ulnarisrinnensyndroms am linken Ellenbogengelenk sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht nicht uneingeschränkt zumutbar sind. Bei akuten Entzündungen im Schulterbereich sind selbst kurze Wege mit dem Greifrollstuhl medizinisch nachvollziehbar für sie so schmerzhaft, dass diese von ihr aktiv mit den vorhandenen Hilfsmitteln nicht mehr zurückgelegt werden können. Die Klägerin leidet infolge des radiologisch nachgewiesenen Impingementsyndroms im Bereich der linken Schulter an wiederkehrenden Reizzuständen der schulternahen Weichteile, deren klinische Auswirkungen, insbesondere das für das Engpasssyndrom typische Phänomen des so genannten schmerzhaften Bogens, einer schmerzhaften Einschränkung der Beweglichkeit bei Seithebung des Armes über die Horizontale, durch den behandelnden Orthopäden Dr. P. mehrfach dokumentiert wurde. Darüber hinaus liegen ein Ulnarisrinnensyndrom und ein Reizzustand der gelenknahen Weichteile am linken Ellenbogengelenk (Epicondylapathie) vor. Auch wenn bei Benutzung der vorhandenen Hilfsmittel die Arme im Schultergelenk nur wenig angehoben werden müssen, zwingt doch selbst der Handkurbelbetrieb des zurzeit verfügbaren Handbike-Vorsatzes die Klägerin, die Arme stärker nach vorn zu bewegen. Auch diese Körperhaltung führt zu einer unphysiologischen Beanspruchung der Arme und des Schultergürtels, die sich ungünstig auf die Erkrankungen der oberen linken Extremität auswirkt. Damit befindet sich die Klägerin in einem für sie unlösbaren Dilemma: Unabhängig davon, welches der vorhandenen Hilfsmittel sie für die aktive Fortbewegung wählt und ob das Handbike trotz mehrfacher Schweißnähte noch verkehrssicher und von der Größe für sie tatsächlich noch passend ist, ist es ihrer gesundheitlichen Situation nicht zuträglich. Wollte sie die problematische Belastung der Schultergelenke gänzlich vermeiden, müsste sie auf einen Rollstuhl mit einem Elektroantrieb ausweichen. Hierzu kann der Klägerin aus allgemeinmedizinischer Sicht unter Berücksichtigung ihrer besonderen Situation, die eine spezielle Gesundheitsprophylaxe erfordert, aber nicht geraten werden. Zur Vorbeugung von Herzkreislauferkrankungen und Stoffwechselstörungen sowie zur Gewichtskontrolle bedarf sie eines gewissen Ausdauertrainings. Hierfür stehen der Klägerin jedoch nur die oberen Extremitäten zur Verfügung. Deshalb ist sie aufgrund der vorhandenen Gesundheitsstörungen in diesem Bereich in einem besonderen Maße darauf angewiesen, beim Zurücklegen von Wegen im Nahbereich der Wohnung jeweils situationsrecht auf ihren momentanen Körperzustand reagieren zu können. Sie bedarf der Möglichkeit, sich für bestimmte, mit einem Aktivrollstuhl individuell und unter Umständen auch nur kurzzeitig gerade nicht zu bewältigende Wegstrecken, durch einen zuschaltbaren Elektroantrieb unterstützen lassen zu können. Andernfalls ist sie aufgrund der festgestellten Gesundheitsstörungen im Bereich der oberen Extremitäten nicht in der Lage, den für sie erforderlichen Trainingseffekt zu erreichen. Insbesondere sind die ihr ansonsten noch zur Verfügung stehenden Bewegungsformen wie Kranken- und Wassergymnastik hierfür nicht ausreichend. Auch die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl würde der besonderen Problematik der gesundheitlichen Situation der Klägerin nicht gerecht werden. Sie böte ihr nicht die Trainingsmöglichkeiten, die der variable Einsatz eines Handbikes mit zuschaltbarem Elektroantrieb ermöglicht. Insbesondere würde die Versorgung mit diesem Hilfsmittel die ohnehin schon eingeschränkten aktiven Bewegungsmöglichkeiten der Klägerin noch mehr verringern und sie weitgehend in die körperliche Passivität drängen. Aufgrund der besonderen gesundheitlichen Gesamtsituation der Klägerin ist es deshalb erforderlich, sie mit dem begehrten Hilfsmittel zu versorgen.
Mit diesen Feststellungen folgt der Senat den wohlbegründeten und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. L ... Er hat die in den Akten befindlichen medizinischen Befundunterlagen über die Klägerin ausgewertet und sie eingehend untersucht. Dabei konnte sich Dr. L. insbesondere davon überzeugen, dass die Klägerin auch über die nötige Einsicht und den entsprechenden Willen verfügt, Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen und den zuschaltbaren Elektroantrieb nur im jeweils erforderlichen Bedarfsfall zur Unterstützung der Armkraft einzusetzen. Auch der Senat hat in der mündlichen Verhandlung von der Klägerin den Eindruck gewonnen, dass ihr selbst daran gelegen ist, die ihr noch zur Verfügung stehenden aktiven Bewegungsmöglichkeiten in dem Umfang auszunutzen, der ihr möglich ist. Der Senat hat keinen Zweifel daran, dass die Klägerin über das nötige Problembewusstsein im Hinblick auf ihre spezielle gesundheitliche Situation verfügt und bereit ist, den zuschaltbaren Elektroantrieb dementsprechend verantwortungsbewusst zu handhaben.
Dem Anspruch der Klägerin stand auch bis zur Vorlage in der Berufungsverhandlung nicht entgegen, dass es an einer vertragsärztlichen Verordnung des begehrten Hilfsmittels fehlte. Insoweit schließt sich der erkennende Senat der wiederholten Rechtsprechung des 3. Senats des BSG an, dass der Arztvorbehalt des § 15 Abs. 1 Satz 2 SGB V im Hilfsmittelbereich nicht gilt und das Fehlen einer vertragsärztlichen Verordnung den Leistungsanspruch auf ein Hilfsmittel grundsätzlich nicht ausschließt (vgl. Urteile vom vom 10. März 2010 B 3 KR 1/09 R, veröffentlicht in juris, vom 16. September 1999, BSGE 84,266 und vom 28. Juni 2001, BSGE 88, 204).
Eben so wenig ist der Umstand, dass der im Verwaltungsverfahren übersandte Kostenvoranschlag der r. GmbH vom 12. März 2007 sich nicht auf ein Handbike mit Motorunterstützung, sondern auf ein manuell betriebenes Hilfsmittel bezog, nicht entscheidungserheblich. Zwar konnte dies den MDK in seiner Stellungnahme vom 10. Juli 2007 zu der Annahme verleiten, es sei nur ein manuell betriebenes Hilfsmittel beantragt worden. Tatsächlich hatte die Klägerin jedoch bereits in ihrem Antrag vom 24. Oktober 2006 gegenüber der Beklagten unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie die Gewährung eines Handbikes mit intelligenter Motorunterstützung begehrt. Hierauf bezogen sich auch die ablehnenden Verwaltungsakte der Beklagten. In den Bescheiden vom 26. Oktober 2006 und 3. April 2007 wird zwar ausgeführt, dass weder Kosten für eine Reparatur eines vorhandenen Therapievorsatzes, noch für eine Neuversorgung mit entsprechendem Therapievorsatz übernommen werden können. Daraus folgt aber nicht der Schluss, die Beklagte habe nur eine Entscheidung über einen gleichwertigen Ersatz des bereits vorhandenen Handbikes treffen wollen. Im Widerspruchsbescheid vom 19. September 2007 wird ausdrücklich ausgeführt: "Aus den dargelegten Gründen und unter Würdigung sämtlicher Umstände tatsächlicher wie rechtlicher Art, besteht keine Möglichkeit, die Kosten der beantragten Zurüstungen an ihrem Rollstuhl zu übernehmen." Damit hat die Beklagte deutlich zum Ausdruck gebracht, dass Regelungsgegenstand der Versagungsbescheide die beantragte Versorgung mit einem Speedy-Duo 2 mit Elektrounterstützung war. Aus Sicht der Beklagten kam es für sie jedoch nicht darauf an, in der Begründung der Verwaltungsakte zwischen manuellem Handbike und Handbike mit intelligenter Motorunterstützung zu unterscheiden. Schließlich hatte sie die Auffassung vertreten, jedes Handbike stelle für einen Erwachsenen kein Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung dar.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage, die dem Rechtsstreit zugrunde liegt, hat der Senat die Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.
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Tatbestand:
Die Beteiligten streiten um die Versorgung der Klägerin mit einem Handbike mit zuschaltbarem Elektroantrieb.
Die 1977 geborene und bei der Beklagten versicherte Klägerin leidet an einer spastischen Paraparese der Beine, einer Hüftdysplasie beidseits mit Luxation links und einem Zustand nach Versteifungs-OP beider Füße (Tripel-Arthrodese) mit resultierender Spitzfußstellung. Sie ist dauerhaft auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen und von der Beklagten mit zwei Aktivrollstühlen versorgt worden. Die Beklagte gewährte der Klägerin 1996 einen Handbike-Vorsatz ohne Hilfsmotor, den sie auch heute noch benutzt. Die Klägerin bezieht Leistungen der Grundsicherung nach dem 4. Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch und arbeitet geringfügig als Bürogehilfin. Bei ihr ist ein Grad der Behinderung von 100 festgestellt, ferner wurden ihr die Merkzeichen G, aG, H und RF zuerkannt.
Am 24. Oktober 2006 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Versorgung mit einem Speedy-Duo 2, einem Handbike mit intelligenter Motorunterstützung, das sowohl manuell als auch mit Elektroantrieb betrieben werden kann. Die Beklagte zog medizinische Befundunterlagen über die Klägerin und den Kostenvoranschlag der r. GmbH vom 12. März 2007 über 3.576,85 EUR bei. Sie holte die sozialmedizinische Stellungnahme des MDK vom 28. Juni 2007 ein. Mit Bescheiden vom 24. Oktober 2006 und 3. April 2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19. September 2007 lehnte die Beklagte die begehrte Hilfsmittelversorgung ab. Zur Begründung führte sie aus, die beantragte Zurüstung an dem bereits vorhandenen Rollstuhl verleihe diesem fahrradähnliche Eigenschaften. Diese Funktion begründe keine Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenversicherung, weil das eigentliche Funktionsdefizit, die Gehbehinderung, bereits durch den zur Verfügung gestellten Rollstuhl ausgeglichen werde. Erwachsene hätten nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 16. September 1999 – B 3 KR 8/98 - keinen Anspruch auf Versorgung mit einem Handbike, da ein Handkurbelzuggerät für diesen Personenkreis kein Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung darstelle.
Die Klägerin hat am 10. Oktober 2007 Klage beim Sozialgericht Lübeck erhoben. Sie hat geltend gemacht, die Versagung des begehrten Hilfsmittels sei rechtswidrig. Das Bundessozialgericht habe im Urteil vom 28. Mai 2003 – B 3 KR 33/02 R – die Hilfsmitteleigenschaft eines Handbikes bestätigt. Sie benötige die beantragte Zurüstung auch zur Wahrnehmung ihrer Grundbedürfnisse des täglichen Lebens, insbesondere, um die Wege zurücklegen zu können, die ein Gesunder zu Fuß zurücklege. Den ihr von der Beklagten zur Verfügung gestellten manuell betriebenen Rollstuhl könne sie wegen eines chronischen Engpasssyndroms im Bereich der linken Schulter und schmerzhaften Reizzuständen der schulternahen Weichteile nur noch sehr eingeschränkt nutzen. Dies bestätige der Facharzt für Orthopädie Dr. P. in seinem auf Veranlassung des Sozialgerichts erstatteten Befundbericht vom 5. Mai 2009. Er habe zudem ein myogenes Cervikal- und Thorakalsyndrom mit Blockierungen diagnostiziert. Die von ihm durchgeführten Behandlungsmaßnahmen hätten zu keiner Besserung des Krankheitsbildes geführt, so dass sie nur unter Schmerzen den Aktivrollstuhl bewegen könne. Mit den vorhandenen Hilfsmitteln sei sie nicht in der Lage, die Wege des Nahbereichs zurückzulegen. In seinem Attest vom 18. November 2009 bestätige Dr. P., dass die bisherige Belastung durch den Aktivrollstuhl die Ausheilung der mittlerweile chronifizierten Schulterschmerzen verhindere. Um ihre selbständige Mobilität in einem akzeptablen Umfang zu erhalten, sei die Zurüstung mit einem Elektromotor erforderlich. Andernfalls sei eine größere Schulteroperation nicht zu vermeiden, um die Beschwerden zu lindern. In seinem Attest vom 11. Februar 2010 stelle Dr. P. auch nochmals klar, dass er die Versorgung mit einem Speedy-Bike empfehle.
Die Klägerin hat beantragt,
die Bescheide der Beklagten vom 24. Oktober 2006 und 3. April 2006 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. September 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die Klägerin mit einem Speedy-Duo-2-Hand-Bike zu versorgen.
Die Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie hat sich auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid bezogen. Ergänzend hat die Beklagte vorgebracht, dass eine Versorgung mit einem Speedy-Bike als Antrieb für den Aktivrollstuhl nicht zu einer Entlastung im Schulterbereich führe und daher nicht sinnvoll sei. Insoweit hat sie sich auf das Gutachten des MDK (Dr. K.) vom 28. Mai 2009 gestützt.
Mit Urteil vom 10. März 2010 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, dass das begehrte Hilfsmittel nicht erforderlich sei, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Der Erfolg der Krankenbehandlung könne durch die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl bzw. einem Zusatzmotor für den vorhandenen Aktivrollstuhl ggf. mit Restkraftverstärker gesichert werden. Diese sei auch ausreichend, um einen Basisausgleich der Behinderung herbeizuführen. Die Klägerin begehre die beantragte Versorgung, um sich einen größeren Aktionsradius zu erschließen und erhoffe sich zusätzlich positive Auswirkungen auf Kreislauf und Muskulatur. Derlei Erwägungen seien aber bei der Prüfung der Erforderlichkeit eines Hilfsmittels nicht zu beachten.
Gegen dieses ihrer Bevollmächtigten am 18. März 2010 zugestellte Urteil wendet sich die Klägerin mit ihrer Berufung, die am 16. April 2010 beim Schleswig-Holsteinischen Landessozialgericht eingegangen ist. Sie rügt, das Sozialgericht habe den Sachverhalt nicht richtig ermittelt, seiner Entscheidung unrichtige Tatsachen zu Grunde gelegt und daher rechtsfehlerhaft ihren Anspruch auf die beantragte Versorgung abgelehnt. Sie benötige ein Handbike mit zuschaltbarem Elektroantrieb um Alltagsgeschäfte z.B. bei der Post, Bank oder Apotheke im Nahbereich ihrer Wohnung zu erledigen. Hierbei handele es sich um Wege, die zum Grundbedürfnis der Mobilität bzw. der Erschließung eines gewissen körperlichen Freiraums gehörten und nicht um Entfernungen, die vergleichsweise durch einen Radfahrer oder Wanderer zurückgelegt würden. Das Sozialgericht habe daher zu Unrecht angenommen, sie begehre die Versorgung, um sich einen größeren Aktionsradius zu erschließen. Dr. P. habe auch die von ihm zunächst vorgenommene fehlerhafte Bezeichnung des Hilfsmittels korrigiert und im Attest vom 11. Februar 2010 die Erforderlichkeit der Versorgung mit einem Speedy-Bike bestätigt. Dies habe das Sozialgericht nicht berücksichtigt. Es sei ihrer Anregung, Dr. P. als sachverständigen Zeugen zu hören, nicht nachgekommen. Dadurch habe das Sozialgericht seine Amtsermittlungspflicht verletzt. Es führe hierzu in den Entscheidungsgründen lediglich aus, das Attest vom 11. Februar 2010 lege keine neuen Erkenntnisse dar, sondern konstatiere nur, dass sie nicht die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl, sondern mit einem Handbike begehre. Das Sozialgericht gehe fehlerhaft davon aus, dass behinderte Menschen den Nahbereich immer entweder mit einem handbetriebenen oder einem Elektrorollstuhl erschlössen und die Versorgung eines Erwachsenen mit einem "Rollstuhl-Handbike" keine erforderliche Hilfsmittelversorgung im Sinne des § 33 Abs. 1 Sozialgesetzbuch, Fünftes Buch (SGB V) sei. Es könne sich dabei aber weder auf wissenschaftliche Erkenntnisse noch medizinische Erfahrungssätze stützen. Daher sei diese Feststellung fehlerhaft. Den allein entscheidenden Einzelfall habe das Sozialgericht rechtsfehlerhaft nicht berücksichtigt. Auch der MDK bestätige in seinem Gutachten vom 28. Mai 2009, dass ein elektrischer Antrieb notwendig sei. Es sei also unstreitig, dass sie derzeit nicht ausreichend versorgt sei und grundsätzlich einen Sachleistungsanspruch auf die begehrte Hilfsmittelversorgung habe. Dem stehe entgegen der Rechtsauffassung des Sozialgerichts auch nicht die Rechtsprechung des BSG entgegen. Das BSG verneine nicht die Hilfsmitteleigenschaft eines Rollstuhl-Bikes an sich, sondern nur dessen Erforderlichkeit im Einzelfall bei den von seiner Entscheidung betroffenen erwachsenen Klägern. Ein Rollstuhl-Bike sei bereits deshalb ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 SGB V, weil es ein Funktionsdefizit ausgleiche. Insoweit stützt sich die Klägerin auf die Rechtsprechung des BSG im Urteil vom 28. Mai 2003 – B 3 KR 33/02 R und des Senats im Urteil vom 3. April 2001 – L 1 KR 35/00. Das BSG habe im Urteil vom 12. September 2009 – B 3 KR 8/08 R – zudem entschieden, dass der Versicherte imstande sein müsse, den Nahbereich der Wohnung mit einem handbetriebenen Rollstuhl ohne übermäßige Anstrengung, schmerzfrei und aus eigener Kraft in normalem Rollstuhltempo zu bewältigen. Im Urteil vom 24. Mai 2006 (SozR 4-2500, § 33 Nr. 6) habe das BSG den Anspruch einer Versicherten auf die behindertengerechte Zusatzausrüstung für ein Liegedreirad bejaht, weil das Liegedreirad zur Erschließung eines über 200 m hinausgehenden Freiraums erforderlich sei. Mithin komme ein Handbike grundsätzlich als Alternative zu einem Elektrorollstuhl in Betracht, falls mittels eines Greifreifenrollstuhls die Mobilität nicht in ausreichendem Maße sichergestellt sei. Diese Voraussetzungen seien bei ihr erfüllt. Sie benötige das beantragte Hilfsmittel zum Ausgleich ihrer Behinderung. Die Konstruktion des Speedy-Duo 2 mit einem Radnabenmotor unterstütze sie beim Zurücklegen der Wegstrecken im Nahbereich der Wohnung. Zusätzlich ergebe sich ein therapeutischer Nutzen durch erhebliche Trainingseffekte im Hinblick auf Muskulatur und Herz-/Kreislaufsystem. Demgegenüber würde sie durch die Benutzung eines Elektrorollstuhls in die Immobilität gedrängt. Es bestünden auch keine ausreichenden Unterstellmöglichkeiten für einen größeren und sperrigen Elektrorollstuhl. Die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl stelle zudem keine wirtschaftlichere Alternative dar. Selbst wenn jedoch davon ausgegangen werde, dass der Elektrorollstuhl und das Speedy-Duo 2 gleich geeignete Hilfsmittel seien, stünde dies ihrem Anspruch nicht entgegen. Sie habe nach § 9 Sozialgesetzbuch, Neuntes Buch (SGB IX) in Verbindung mit § 33 Sozialgesetzbuch, Erstes Buch (SGB I) ein Wunsch- und Wahlrecht bei der Versorgung mit Hilfsmitteln. Insoweit stützt sich die Klägerin auf die Rechtsprechung des BSG im Urteil vom 3. November 1999 – B 3 KR 16/99 R -, des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen im Urteil vom 17. Oktober 2000 – L 5 KR 84/00 – und des Landessozialgerichts Leipzig im Urteil vom 8. September 2004 – S 8 KR 139/02.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 10. März 2010 und den Bescheid der Beklagten vom 24. Oktober 2006 und 3. April 2007 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. September 2007 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, sie – die Klägerin - mit einem Hand¬bike mit zuschaltbarem Elektroantrieb zu versorgen.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Der Senat hat das fachorthopädische Gutachten von Dr. L. vom 29. November 2011 eingeholt, den Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung ergänzend befragt und die Klägerin persönlich gehört.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird Bezug genommen auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakte der Beklagten. Diese haben dem Senat vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung ist zulässig, insbesondere ist sie statthaft, da die Beteiligten über einen Gegenstandswert von über 750,00 EUR streiten.
Das Rechtsmittel ist auch begründet. Die Klägerin hat gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Versorgung mit einem Handbike mit zuschaltbarem Elektroantrieb. Das klageabweisende Urteil des Sozialgerichts und die angefochtenen Bescheide der Beklagten können daher keinen Bestand haben.
Versicherte haben nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V einen Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit es sich hierbei nicht um allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens handelt oder § 34 Abs. 4 SGB V einen Ausschluss vorsieht. Diese Tatbestandsvoraussetzungen sind hier erfüllt. Insbesondere handelt es sich beim Handbike-Zusatzgerät nicht um einen Gebrauchsgegenstand des täglichen Lebens (BSG, Urteil vom 16. April 1998 – B 3 KR 9/97 R – veröffentlicht in juris).
Für den Hilfsmittelbegriff ist es nicht erforderlich, dass das körperliche Funktionsdefizit unmittelbar überwunden wird. Es ist ausreichend, dass ein sächliches Mittel gewährt wird, das die ausgefallene Funktion ersetzt, erleichtert oder ergänzt, auch wenn dies in anderer Wirkungsweise geschieht. Rollstühle sind Hilfsmittel in diesem Sinne. Auch ein Vorsatz vor einem Rollstuhl, der über Handkurbeln und eine gesondert vorgehängte Vorderachse angetrieben wird und mit einem zuschaltbarem Elektroantrieb versehen ist, stellt ein Hilfsmittel im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB V dar (Urteile des Senats vom 2. November 1999 – L 1 Kr 54/98 – und 3. April 2001 – L 1 KR 35/00 -, veröffentlicht in juris). Denn auch Fahrrad-Rollstuhl-Kombina-tionen gleichen ein Funktionsdefizit aus. Unmaßgeblich ist demgegenüber, ob ein Hilfsmittel im Hilfsmittelverzeichnis nach § 139 SGB V enthalten ist. Nach dieser Vorschrift erstellt der Spitzenverband Bund der Krankenkassen ein systematisch strukturiertes Hilfsmittelverzeichnis, in dem die von der Leistungspflicht umfassten Hilfsmittel aufzuführen sind. Dem Verzeichnis kommt aber keine rechtsverbindliche Wirkung zu. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts schon zur Rechtslage nach § 128 SGB V in der durch das Gesundheits-Reformgesetz vom 20. Dezember 1988 (BGBl I 2477) begründeten und bis zur Außerkraftsetzung durch Art. 1 Nr. 94 des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz GKV WSG - vom 26. März 2007, BGBl I 378) zum 1. April 2007 insoweit unveränderten Fassung verkörpert das Hilfsmittelverzeichnis keine abschließende, die Leistungspflicht der Krankenkassen und Pflegekassen im Sinne einer "Positivliste" beschränkenden Regelung. Es handelt sich vielmehr um eine reine Auslegungs- und Orientierungshilfe für die medizinische Praxis. Auch für die Gerichte hat das Hilfsmittelverzeichnis daher nur die Rechtsqualität einer unverbindlichen Auslegungshilfe (vgl. BSG vom 29. September 1997 – 8 RKn 27/96 = SozR 3 2500 3 33 Nr. 25; BSG, Urteil vom 25. Juni 2009 – B 3 KR 4/08 R, veröffentlicht in juris). Das bedeutet, dass auch dann ein Anspruch auf ein Hilfsmittel bestehen kann, wenn es nicht im Hilfsmittelverzeichnis aufgeführt ist; der Versorgungsanspruch bleibt davon unberührt.
Die Versorgung der Klägerin mit dem begehrten Handbike mit zuschaltbarem Elektroantrieb stellt eine erforderliche Hilfsmittelversorgung im Sinne des § 33 Abs. 1 SGB V dar. Im vorliegenden Fall geht es um die Frage eines Behinderungsausgleichs, der von der 3. Variante des § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V erfasst wird. Nach dieser Vorschrift besteht ein Anspruch auf das begehrte Hilfsmittel, wenn es erforderlich ist, um das Gebot eines möglichst weit gehenden Behinderungsausgleichs zu erfüllen. Gegenstand des Behinderungsausgleichs sind zunächst solche Hilfsmittel, die auf den Ausgleich der Behinderung selbst gerichtet sind, also zum unmittelbaren Ersatz der ausgefallenen Funktionen dienen (BSGE 37, 138; BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 18 und 20). Der in § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V genannte Zweck des Behinderungsausgleichs umfasst jedoch auch solche Hilfsmittel, die die direkten und indirekten Folgen einer Behinderung ausgleichen. Ein Hilfsmittel ist von der gesetzlichen Krankenversicherung immer dann zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein Grundbedürfnis betrifft. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG gehören zu den Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Greifen, Sehen, Hören, die Nahrungsaufnahme, das Ausscheiden, die (elementare) Körperpflege, das selbständige Wohnen sowie das Erschließen eines körperlichen Freiraums im Nahbereich der Wohnung und das Bedürfnis, bei Krankheit oder Behinderung Ärzte und Therapeuten aufzusuchen (BSGE 93, 176; 91, 60). Zum Grundbedürfnis der Erschließung eines geistigen Freiraums gehören unter anderem die Aufnahme von Informationen, die Kommunikation mit anderen Menschen sowie das Erlernen eines lebensnotwendigen Grundwissens bzw. eines Schulwissens (BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 29 und 46).
Im Falle der Klägerin ist das allgemeine Grundbedürfnis der "Bewegungsfreiheit" betroffen, das bei Gesunden durch die Fähigkeit des Gehens, Laufens, Stehens usw. sichergestellt wird. Ist diese Fähigkeit durch eine Behinderung beeinträchtigt, so richtet sich die Notwendigkeit eines Hilfsmittels in erster Linie danach, ob dadurch der Bewegungsradius in einem Umfang erweitert wird, den ein Gesunder üblicherweise noch zu Fuß erreicht. Die bei der Klägerin bestehende Querschnittslähmung im Sinne einer spastischen Paraparese beider Beine führt dazu, dass sie zur Fortbewegung in der Wohnung und im Nahbereich der Wohnung auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen ist. Deshalb sind ihr von der Beklagten auch zwei Aktivrollstühle zur Verfügung gestellt worden. Damit ist die Klägerin zwar grundsätzlich in der Lage, sich den Nahbereich der Wohnung zu erschließen. Sofern keine akuten Entzündungszustände im Bereich des linken Schultergürtels vorliegen, kann sie sich durch Einsatz von Muskelkraft mit Hilfe der Rollstühle eigenständig in einem Radius fortbewegen, den ein Gesunder normalerweise zu Fuß erreicht. Dabei kommt es aber auch in Zeiten der relativen Beschwerdefreiheit zwangsläufig zu unphysiolo¬gischen Belastungen der Arme und Schultern, die ihr aufgrund der Engpasssituation im Bereich des linken Schultergürtels und des Ulnarisrinnensyndroms am linken Ellenbogengelenk sowohl in quantitativer als auch qualitativer Hinsicht nicht uneingeschränkt zumutbar sind. Bei akuten Entzündungen im Schulterbereich sind selbst kurze Wege mit dem Greifrollstuhl medizinisch nachvollziehbar für sie so schmerzhaft, dass diese von ihr aktiv mit den vorhandenen Hilfsmitteln nicht mehr zurückgelegt werden können. Die Klägerin leidet infolge des radiologisch nachgewiesenen Impingementsyndroms im Bereich der linken Schulter an wiederkehrenden Reizzuständen der schulternahen Weichteile, deren klinische Auswirkungen, insbesondere das für das Engpasssyndrom typische Phänomen des so genannten schmerzhaften Bogens, einer schmerzhaften Einschränkung der Beweglichkeit bei Seithebung des Armes über die Horizontale, durch den behandelnden Orthopäden Dr. P. mehrfach dokumentiert wurde. Darüber hinaus liegen ein Ulnarisrinnensyndrom und ein Reizzustand der gelenknahen Weichteile am linken Ellenbogengelenk (Epicondylapathie) vor. Auch wenn bei Benutzung der vorhandenen Hilfsmittel die Arme im Schultergelenk nur wenig angehoben werden müssen, zwingt doch selbst der Handkurbelbetrieb des zurzeit verfügbaren Handbike-Vorsatzes die Klägerin, die Arme stärker nach vorn zu bewegen. Auch diese Körperhaltung führt zu einer unphysiologischen Beanspruchung der Arme und des Schultergürtels, die sich ungünstig auf die Erkrankungen der oberen linken Extremität auswirkt. Damit befindet sich die Klägerin in einem für sie unlösbaren Dilemma: Unabhängig davon, welches der vorhandenen Hilfsmittel sie für die aktive Fortbewegung wählt und ob das Handbike trotz mehrfacher Schweißnähte noch verkehrssicher und von der Größe für sie tatsächlich noch passend ist, ist es ihrer gesundheitlichen Situation nicht zuträglich. Wollte sie die problematische Belastung der Schultergelenke gänzlich vermeiden, müsste sie auf einen Rollstuhl mit einem Elektroantrieb ausweichen. Hierzu kann der Klägerin aus allgemeinmedizinischer Sicht unter Berücksichtigung ihrer besonderen Situation, die eine spezielle Gesundheitsprophylaxe erfordert, aber nicht geraten werden. Zur Vorbeugung von Herzkreislauferkrankungen und Stoffwechselstörungen sowie zur Gewichtskontrolle bedarf sie eines gewissen Ausdauertrainings. Hierfür stehen der Klägerin jedoch nur die oberen Extremitäten zur Verfügung. Deshalb ist sie aufgrund der vorhandenen Gesundheitsstörungen in diesem Bereich in einem besonderen Maße darauf angewiesen, beim Zurücklegen von Wegen im Nahbereich der Wohnung jeweils situationsrecht auf ihren momentanen Körperzustand reagieren zu können. Sie bedarf der Möglichkeit, sich für bestimmte, mit einem Aktivrollstuhl individuell und unter Umständen auch nur kurzzeitig gerade nicht zu bewältigende Wegstrecken, durch einen zuschaltbaren Elektroantrieb unterstützen lassen zu können. Andernfalls ist sie aufgrund der festgestellten Gesundheitsstörungen im Bereich der oberen Extremitäten nicht in der Lage, den für sie erforderlichen Trainingseffekt zu erreichen. Insbesondere sind die ihr ansonsten noch zur Verfügung stehenden Bewegungsformen wie Kranken- und Wassergymnastik hierfür nicht ausreichend. Auch die Versorgung mit einem Elektrorollstuhl würde der besonderen Problematik der gesundheitlichen Situation der Klägerin nicht gerecht werden. Sie böte ihr nicht die Trainingsmöglichkeiten, die der variable Einsatz eines Handbikes mit zuschaltbarem Elektroantrieb ermöglicht. Insbesondere würde die Versorgung mit diesem Hilfsmittel die ohnehin schon eingeschränkten aktiven Bewegungsmöglichkeiten der Klägerin noch mehr verringern und sie weitgehend in die körperliche Passivität drängen. Aufgrund der besonderen gesundheitlichen Gesamtsituation der Klägerin ist es deshalb erforderlich, sie mit dem begehrten Hilfsmittel zu versorgen.
Mit diesen Feststellungen folgt der Senat den wohlbegründeten und überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Dr. L ... Er hat die in den Akten befindlichen medizinischen Befundunterlagen über die Klägerin ausgewertet und sie eingehend untersucht. Dabei konnte sich Dr. L. insbesondere davon überzeugen, dass die Klägerin auch über die nötige Einsicht und den entsprechenden Willen verfügt, Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen und den zuschaltbaren Elektroantrieb nur im jeweils erforderlichen Bedarfsfall zur Unterstützung der Armkraft einzusetzen. Auch der Senat hat in der mündlichen Verhandlung von der Klägerin den Eindruck gewonnen, dass ihr selbst daran gelegen ist, die ihr noch zur Verfügung stehenden aktiven Bewegungsmöglichkeiten in dem Umfang auszunutzen, der ihr möglich ist. Der Senat hat keinen Zweifel daran, dass die Klägerin über das nötige Problembewusstsein im Hinblick auf ihre spezielle gesundheitliche Situation verfügt und bereit ist, den zuschaltbaren Elektroantrieb dementsprechend verantwortungsbewusst zu handhaben.
Dem Anspruch der Klägerin stand auch bis zur Vorlage in der Berufungsverhandlung nicht entgegen, dass es an einer vertragsärztlichen Verordnung des begehrten Hilfsmittels fehlte. Insoweit schließt sich der erkennende Senat der wiederholten Rechtsprechung des 3. Senats des BSG an, dass der Arztvorbehalt des § 15 Abs. 1 Satz 2 SGB V im Hilfsmittelbereich nicht gilt und das Fehlen einer vertragsärztlichen Verordnung den Leistungsanspruch auf ein Hilfsmittel grundsätzlich nicht ausschließt (vgl. Urteile vom vom 10. März 2010 B 3 KR 1/09 R, veröffentlicht in juris, vom 16. September 1999, BSGE 84,266 und vom 28. Juni 2001, BSGE 88, 204).
Eben so wenig ist der Umstand, dass der im Verwaltungsverfahren übersandte Kostenvoranschlag der r. GmbH vom 12. März 2007 sich nicht auf ein Handbike mit Motorunterstützung, sondern auf ein manuell betriebenes Hilfsmittel bezog, nicht entscheidungserheblich. Zwar konnte dies den MDK in seiner Stellungnahme vom 10. Juli 2007 zu der Annahme verleiten, es sei nur ein manuell betriebenes Hilfsmittel beantragt worden. Tatsächlich hatte die Klägerin jedoch bereits in ihrem Antrag vom 24. Oktober 2006 gegenüber der Beklagten unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie die Gewährung eines Handbikes mit intelligenter Motorunterstützung begehrt. Hierauf bezogen sich auch die ablehnenden Verwaltungsakte der Beklagten. In den Bescheiden vom 26. Oktober 2006 und 3. April 2007 wird zwar ausgeführt, dass weder Kosten für eine Reparatur eines vorhandenen Therapievorsatzes, noch für eine Neuversorgung mit entsprechendem Therapievorsatz übernommen werden können. Daraus folgt aber nicht der Schluss, die Beklagte habe nur eine Entscheidung über einen gleichwertigen Ersatz des bereits vorhandenen Handbikes treffen wollen. Im Widerspruchsbescheid vom 19. September 2007 wird ausdrücklich ausgeführt: "Aus den dargelegten Gründen und unter Würdigung sämtlicher Umstände tatsächlicher wie rechtlicher Art, besteht keine Möglichkeit, die Kosten der beantragten Zurüstungen an ihrem Rollstuhl zu übernehmen." Damit hat die Beklagte deutlich zum Ausdruck gebracht, dass Regelungsgegenstand der Versagungsbescheide die beantragte Versorgung mit einem Speedy-Duo 2 mit Elektrounterstützung war. Aus Sicht der Beklagten kam es für sie jedoch nicht darauf an, in der Begründung der Verwaltungsakte zwischen manuellem Handbike und Handbike mit intelligenter Motorunterstützung zu unterscheiden. Schließlich hatte sie die Auffassung vertreten, jedes Handbike stelle für einen Erwachsenen kein Hilfsmittel im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung dar.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage, die dem Rechtsstreit zugrunde liegt, hat der Senat die Revision nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen.
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