S 20 SO 151/11

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Aachen (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
20
1. Instanz
SG Aachen (NRW)
Aktenzeichen
S 20 SO 151/11
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 17.01.2011in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2011 verurteilt, bei der Bemessung der Sozialhilfe der Klägerin ab 01.12.2010 die monatlichen Beiträge für eine private Haftpflichtversicherung als das einzusetzende Einkommen mindernd zu berücksichtigen, der Klägerin für die Zeit vom 01.12.2010 bis 31.03.2012 107,68 EUR nachzuzahlen und ihr ab 01.04.2012 höhere Sozialhilfeleistungen entsprechend der jeweiligen Beitragshöhe zu gewähren. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt der Beklagte. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte im Rahmen der der Klägerin ab 01.12.2010 geleisteten und künftig zu leistenden Sozialhilfe die von ihr zu zahlenden Beiträge für eine Privathaftpflichtversicherung einkommensmindernd zu berücksichtigen hat.

Die 0000 geborene Klägerin ist schwerbehindert und erheblich pflegebedürftig. Sie bezieht ein Altersruhegeld aus der gesetzlichen Rentenversicherung und Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach Pflegestufe I.

Seit 04.11.2010 lebt sie dauerhaft in einem Altenpflegeheim. Am selben Tag beantragte sie die Übernahme der nach Einsatz von Einkommen und Vermögen ungedeckten Heimkosten aus Mitteln der Sozialhilfe. Als von ihrem Einkommen absetzbare Beträge machte sie u.a. Beiträge zu einer Privathaftpflichtversicherung in Höhe von monatlich 6,55 EUR geltend, die sie durch eine entsprechende Beitragsrechnung belegte.

Durch Bescheid vom 17.01.2011 lehnte der Beklagte die Übernahme der Haftpflichtversicherungskosten ab mit der Begründung, diese Versicherung gehöre nicht zum (angemessenen) sozialhilferechtlichen Bedarf.

Dagegen erhob die Klägerin am 23.01.2011 Widerspruch. Sie legte eine Beitragsrechnung ihres Haftpflichtversicherers vor, wonach der Beitrag seit Juli 2011 monatlich 6,87 EUR beträgt.

Der Beklagte wies den Widerspruch durch Widerspruchsbescheid vom 19.08.2011 zurück. Er meinte, eine Haftpflichtversicherung stelle im Rahmen der Hilfe zur Pflege in stationären Einrichtungen keinen sozialhilferechtlichen Bedarf dar.

Dagegen hat die Klägerin am 16.09.2011 Klage erhoben. Sie ist der Auffassung, dass es sich bei der privaten Haftpflichtversicherung zwar um keine gesetzlich vorgeschriebene Versicherung handele; jedoch könne ein Haftpflichtfall für den Betroffenen besondere existenzgefährdende Bedeutung gewinnen. Es handele sich um eine allgemein übliche Versicherung, die von allen sozialen Schichten gleichermaßen gerade zum Schutz vor Inanspruchnahme in existenzgefährdendem Ausmaß abgeschlossen werde. Haftpflichtschäden könnten Jeden bereits in alltäglichen Situationen treffen; die Regulierung solcher Schäden könne so weit gehen, dass wirtschaftliche Existenzen vernichtet würden. Die Klägerin macht darüber hinaus ein besonderes Haftungsrisiko geltend; sie leide unter Blutarmut und einer chronischen Schwäche, die dazu führe, dass sie über das übliche alltägliche Ausmaß hinaus Gegenstände fallen lasse oder aber auch selbst falle und hierdurch Güter Dritter gefährde. Auch bei einer vollstationären Heimunterbringung sei für sie der Abschluss einer privaten Haftpflichtversicherung angemessen und sinnvoll. Insbesondere Schäden gegenüber anderen Personen seien weder durch die Pflegeversicherung noch sonst durch das Heim abgedeckt. Die Klägerin verweist hierzu auf den Heimvertrag und die darin getroffenen Vereinbarungen. Sie hat im Übrigen den Versicherungsvertrag zu der von ihr geschlossenen Privathaftpflichtversicherung und die dazugehörigen Kundeninformationen und Versicherungsbedingungen vorgelegt.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 17.01.2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.08.2011 zu verurteilen, bei der Bemessung der Sozialhilfe ab 01.12.2010 die monatlichen Beiträge für eine private Haftpflichtversicherung als das einzusetzende Einkommen mindernd zu berücksichtigen, ihr für die Zeit vom 01.12.2010 bis 31.03.2012 107,68 EUR nachzuzahlen und ab 01.04.2012 höhere Sozialhilfeleistungen entsprechend der jeweiligen Beitragshöhe zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verbleibt bei seiner Auffassung, dass die privaten Haftpflichtversicherungsbeiträge zwar der Höhe nach angemessen sein mögen, jedoch im Rahmen einer stationären Heimunterbringung nicht zum sozialhilferechtlichen Bedarf gehörten. Der Beklagte behauptet, die Heimleitung habe ihm gegenüber bestätigt, dass von der Klägerin im Heim verursachte Schäden durch die Pflegesätze abgegolten seien. Soweit die Einrichtung nicht für Schäden gegenüber Dritten hafte, sei angesichts der Pflegebedürftigkeit der Klägerin die Seltenheit solcher Schäden nachvollziehbar; es könne davon ausgegangen werden, dass Personen oder Sachen Dritter von der Klägerin gar nicht geschädigt werden könnten. Der Beklagte hat wiederholt auf Ziffer 8.1 des zwischen der Klägerin und dem Altenpflegeheim geschlossenen Heimvertrages hingewiesen; er behauptet, dass hiernach Bewohner und Heimträger einander im Rahmen dieses Vertrages bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit hafteten; genau diese Schadensfälle schließe die Haftpflichtversicherung der Klägerin aus. Sodann meint der Beklagte, bei Leistungsberechtigten ohne Einkommen sei eine Berücksichtigung von Beiträgen zur Haftpflichtversicherung gemäß § 82 Abs. 2 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) ausgeschlossen; ihr Haftungsrisiko könne dementsprechend nicht auf den Sozialhilfeträger abgewälzt werden; insoweit wären Personen mit eigenem Einkommen haftungsrechtlich besser gestellt als Personen ohne Einkommen. Im Übrigen ist der Beklagte der Auffassung, die Klägerin sei in der Lage, die Beiträge zur Haftpflichtversicherung aus ihrem monatlichen Taschengeld aufzubringen.

Auf Anfrage des Gerichts hat der Träger des Pflegeheims, in dem die Klägerin wohnt, mitgeteilt, dass die Klägerin ihrem Alter entsprechend orientiert sei und sich mit einem Rollator selbstständig und ohne Hilfe fortbewegen könne. Abgesehen von der Aufsicht, die sie entsprechend der bei ihr vorliegenden Pflegestufe I benötige, gestalte sie sich ihren Tagesablauf überwiegend selbst. Es sei nicht ausgeschlossen, dass die Klägerin dritte Personen oder Sachen Dritter beschädigen könne; für einen solchen Schaden müsse sie selbst eintreten.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze und den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte sowie der beigezogenen die Klägerin betreffende Verwaltungsakte des Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Die Klägerin wird durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG), da sie rechtswidrig sind. Die Klägerin hat seit 01.12.2010 Anspruch auf höhere Sozialhilfe in dem Umfang, wie sie Beiträge zur privaten Haftpflichtversicherung zu entrichten hat, das heißt von Dezember 2010 bis Juni 2011 monatlich 6,55 EUR, seit 01.07.2011 monatlich 6,87 EUR.

Wer Sozialhilfe beansprucht, erhält diese nur in dem Umfang, wie er seinen sozialhilferechtlichen Bedarf nicht durch Einsatz seines Einkommens und seines Vermögens zumutbar decken kann. Dies ergibt sich aus den §§ 2 Abs. 1, 19, 61, 82 ff. und 90 SGB XII. Über Vermögen, das zumutbar (oberhalb des Freibetrages) zur Deckung des sozialhilferechtlichen Bedarfs eingesetzt werden könnte, verfügte die Klägerin nicht. Dagegen bezieht sie Einkommen (Altersruhegeld und Leistungen der Pflegeversicherung), das sie zur Deckung des notwendigen Lebensunterhalts einsetzen kann. Dieses Einkommen hat der Beklagte auch bei der Bemessung der Sozialhilfe seit 01.12.2010 im Wesentlichen zutreffend angesetzt. Einzig die Beiträge zur Privathaftpflichtversicherung hat der Beklagte zu Unrecht nicht einkommensmindernd berücksichtigt.

Von dem zur Deckung des notwendigen Lebensunterhaltes einzusetzenden Einkommens sind u.a. gemäß § 82 Abs. 2 Nr. 3 SGB XII Beiträge zu privaten Versicherungen abzusetzen, soweit diese nach Grund und Höhe angemessen sind. Ob der Beitrag zur Privathaftpflichtversicherung nach Grund und Höhe angemessen und vom Einkommen absetzbar ist, bemisst sich danach, ob es sich bei dieser Versicherung um eine Vorsorgemaßnahme handelt, die zwar gesetzlich nicht vorgeschrieben ist, aber einem vorausplanenden Bürger, der kein überzogenes Sicherheitsbedürfnis hat, ratsam erscheint (LSG, NRW, Urteil vom 30.10.2008 – L 9 SO 12/06; Wahrendorf in: Grube/Wahrendorf, SGB XII-Kommentar, 3. Auflage 2010, § 82 SGB XII, Rn. 76). Angemessen sind hierbei Beiträge für in der Bevölkerung weitgehend übliche Versicherungen, die vernünftigerweise ein Risiko absichern, bei deren Eintritt die weitere Lebensführung außerordentlich belastet wäre. Maßgebend ist, ob ein in bescheidenen Verhältnissen lebender, aber nicht sozialhilfebedürftiger Bürger in einer vergleichbaren Lage den Abschluss einer Haftpflichtversicherung auch als sinnvoll erachtet hätte (LSG a.a.O. unter Hinweis auf BVerwG, Urteil vom 28.05.2003 – 5 C 8/02). Auch ein in beengten wirtschaftlichen Verhältnissen lebender Bezieher von Einkommen knapp oberhalb der Sozialhilfegrenze würde bei Abwägung der Versichertenrisiken einerseits und der Sparzwänge anderseits eine Haftpflichtversicherung abschließen. Denn eine private Haftpflichtversicherung deckt vernünftigerweise ein Risiko ab, bei dessen Eintritt die weitere Lebensführung außerordentlich belastet wäre (LSG NRW, a.a.O., m.w.N.).

Diese von der erkennenden Kammer bereits im Urteil vom 09.05.2006 (S 20 SO 27/06) und vom LSG NRW im bestätigenden Urteil vom 30.10.2008 (L 9 SO 12/06) aufgestellten Grundsätze gelten nicht nur für Hilfebedürftige, die in Privathaushalten leben, sondern auch für Pflegeheimbewohner wie die Klägerin. Auch diese kann, wie sich aus dem Heimvertrag und den "Allgemeinen Versicherungsbedingungen über die Haftpflichtversicherung" (AHB) ergibt, auch für leicht und grob fahrlässig verursachte Schäden in Haftung genommen werden. Nach Ziffer 8.1 des Heimvertrages haften Bewohner und Heimträger einander für Sachschäden im Rahmen dieses Heimvertrages bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit unbeschränkt; lediglich bei einfacher Fahrlässigkeit haftet keiner der beiden Seiten für Sachschäden. Für Personenschäden – dies bestimmt Ziffer 8.2 des Heimvertrages – gelten die gesetzlichen Bestimmungen. Nach § 4 Abschnitt II Ziffer 1 AHB bleiben von der Privathaftpflichtversicherung lediglich Versicherungsansprüche aller Personen, die den Schaden vorsätzlich herbeigeführt haben, ausgeschlossen. Aus der Zusammenschau der Bestimmungen des Heimvertrages und der Haftpflichtversicherungsbedingungen ergibt sich somit, dass grob fahrlässig von der Klägerin verursachte Sachschäden gegenüber dem Heimträger zur ersetzen sind und von der Haftpflichtversicherung übernommen werden. Soweit vom Heimbewohner einfach (leicht) fahrlässig Sachschäden verursacht werden, ist er hierfür gegenüber dem Heimträger nicht schadensersatzpflichtig. Dagegen sind sowohl Sachschäden, die der Heimbewohner dritten Personen gegenüber verschuldet, darüber hinaus auch alle Personenschäden vom Heimbewohner zu ersetzen. Soweit diese grob fahrlässig oder auch nur einfach fahrlässig verursacht sind, tritt für solche Schäden die Privathaftpflichtversicherung ein. Dies hat auch der Heimträger in seiner Auskunft vom 22.12.2011 im Wesentlichen bestätigt. Die hiervon abweichende Auffassung des Beklagten findet im Heimvertrag und in den Haftpflichtversicherungsbedingungen keine Grundlage. Auch die Ansicht des Beklagten, angesichts der Pflegebedürftigkeit der Klägerin sei das Auftreten von Schäden, die sie gegenüber Dritten verursache, selten, ist rein spekulativ und entbehrt jeder tatsächlichen Grundlage. Wie der Beklagte zu seiner Meinung kommt, aufgrund der chronischen Schwäche der Klägerin könne nicht davon ausgegangen werden, dass Personen oder Sachen Dritter von ihr geschädigt oder beschädigt werden könnten, bleibt sein Geheimnis. Die Kammer teilt diese Auffassung nicht.

Schließlich stehen die Bedenken des Beklagten, dass bei Leistungsberechtigten ohne Einkommen eine einkommensmindernde Berücksichtigung von Beiträgen zur Haftpflichtversicherung ausgeschlossen ist, einer Anwendung des § 82 Abs. 2 Nr. 3 SGB XII bei Leistungsberechtigten mit Einkommen – wie der Klägerin – nicht entgegen. Selbst wenn es so wäre, wie der Beklagte vermutet, dass dadurch Personen mit eigenem Einkommen haftungsrechtlich besser gestellt würden als Personen ohne Einkommen, hindert dies die Anwendung der einschlägigen Bestimmung des § 82 Abs. 2 Nr. 3 SGB XII nicht, da der Gesetzgeber dies so gewollt hat. Die Nichtanwendbarkeit dieser Vorschrift auf Personen ohne Einkommen kann nicht dazu führen, sie auch auf Personen mit Einkommen nicht anzuwenden. Im Übrigen wäre denkbar, dass Personen ohne eigenes Einkommen Beiträge für eine private Haftpflichtversicherung als weitergehenden, vom Regelsatz nicht gedeckten Sozialhilfebedarf gem. § 27a Abs. 4 Satz 1 SGB XII beanspruchen könnten. Hierüber hat die Kammer jedoch im vorliegenden Fall nicht zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Kammer hat die im Hinblick auf den Streitwert an sich nicht statthafte Berufung zugelassen, weil sie der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung beimisst (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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