L 12 AS 214/12

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
12
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 10 AS 545/11
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 12 AS 214/12
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 4 AS 199/13 B
Datum
Kategorie
Urteil
Bemerkung
NZB als unzulässig verworfen
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 19.12.2011 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die grundsätzliche Kostenübernahme für die Teilnahme an Demonstrationen.

Der 1950 geborene Kläger bezieht laufend Leistungen nach dem Zweiten Sozialgesetzbuch - Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Mit Bescheid vom 25.10.2010 bewilligte der Beklagte dem Kläger Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 01.11.2010 bis 30.04.2011 in Höhe von monatlich 654,30 Euro.

Am 06.01.2011 beantragte der Kläger die generelle Kostenübernahme für die Teilnahme an Protesten und Demonstrationen, insbesondere für Kundgebungen gegen Krieg und Atomstrom. Der alte und neue Regelsatz sehe hierfür kein Geld vor. Der Kläger bat um Mitteilung, welche Unterlagen und Beweise benötigt würden, um anfallende Kosten bereits im Voraus zu übernehmen. Der Beklagte teilte mit Schreiben vom 07.01.2011 mit, dass für die Teilnahme an Protesten und Demonstrationen in der Tat keine Einzelposition im Eckregelsatz vorgesehen sei. Die Teilnahme an solchen Veranstaltungen stelle eine Schnittmenge aus den Positionen 8 (Freizeit, Kultur, Unterhaltung) sowie 6 (Verkehr ÖPNV/Fahrräder) dar. Die Anerkennung eines Sonderbedarfs scheide aus.

Mit Schreiben vom 20.01.2011 legte der Kläger gegen dieses Schreiben Widerspruch ein. Die Begründung der Ablehnung seines Antrags sei falsch. Laut dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 09.02.2010 sei der Regelsatz willkürlich und daher verfassungswidrig und einen Neuen gebe es nicht. Er sei in seinen Grundrechten aus Art. 5 und 8 GG eingeschränkt.

Mit Änderungsbescheid vom 02.02.2011 bewilligte der Beklagte für den Zeitraum 01.02. bis 30.04.2011 Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 655,30 Euro monatlich. Als Änderung war die Berücksichtigung eines neuen Heizkostenabschlags angegeben.

Mit Widerspruchsbescheid vom 14.02.2011 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Der von dem Kläger geltend gemachte Bedarf sei nicht nach § 21 Abs. 6 SGB II zu gewähren. Der Bedarf, an Demonstrationen teilnehmen zu wollen, sei weder atypisch noch unabweisbar.

Der Kläger hat am 04.03.2011 Klage bei dem Sozialgericht Gelsenkirchen erhoben. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sei dahingehend zu verstehen, dass die gegenwärtigen Regelleistungen nicht ausreichten, um ein vernünftiges bürgerliches Dasein zu führen, insbesondere die Wahrnehmung der Grundrechte sei nicht möglich. Die von dem Beklagten im Schreiben vom 07.01.2011 aufgelisteten Positionen beinhalteten keinen Sonderbedarf für die Wahrnehmung der Grundrechte aus Art. 5 GG. Der Regelsatz sei zu eng bemessen, um die Teilhabe an der Gesellschaft in Form von Grundrechtsausübungen zu ermöglichen. Er könne allenfalls Veranstaltungen in Gelsenkirchen besuchen, für großräumige Kundgebungen in der weiteren Umgebung fehle ihm jedoch das Geld. So habe er am 26.11.2010 eine Veranstaltung in Berlin besuchen wollen, dies aber aus Kostengründen unterlassen. Er sei in seinen Grundrechten aus Art. 2, 5 und 8 GG verletzt.

Der Beklagte hat sich im Wesentlichen auf seine Ausführungen aus dem Widerspruchsbescheid bezogen. Ergänzend hat er vorgetragen, dass sich aus Art. 8 GG kein Anspruch zur Finanzierung der Teilnahme an Versammlungen ergebe.

Mit Änderungsbescheiden vom 26.03.2011 und 18.04.2011 bewilligte der Beklagte dem Kläger Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 01.01.2011 bis 30.04.2011 in Höhe von 659,30 Euro (Januar 2011) und 660,30 Euro (Februar bis April 2011). Der Regelbedarf wurde auf 364,00 Euro monatlich erhöht. Mit Änderungsbescheid vom 19.07.2011 bewilligte der Beklagte dem Kläger Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 01.01.2011 bis 30.04.2011 in Höhe von 668,30 Euro. Als Änderung war die Gewährung eines Mehrbedarfs für die dezentrale Warmwasserversorgung nach § 21 Abs. 7 SGB II angegeben. Der Kläger legte gegen sämtliche Bescheide jeweils Widerspruch ein, im Wesentlichen mit der Begründung, dass der Regelbedarf nicht verfassungsgemäß sei. Mit Widerspruchsbescheiden vom 19.12.2011 verwarf der Beklagte die Widersprüche als unzulässig. Die Bescheide seien gemäß § 96 SGG Gegenstand des Verfahrens S 10 AS 545/11. Gegen diese Widerspruchsbescheide erhob der Kläger vor dem Sozialgericht Gelsenkirchen am 16.01.2012 Klage. Das Verfahren wird unter dem Az. S 33 AS 126/12 geführt.

Mit Urteil vom 19.12.2011 hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Der Streitgegenstand sei zeitlich auf den Zeitraum 06.01.2011 bis 30.04.2011 und inhaltlich auf den Regelbedarf und den davon nicht abtrennbaren Mehrbedarf begrenzt. Gegenstand des Verfahrens seien die Bescheide vom 07.01.2011 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 02.02.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.02.2011 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 26.03.2011, 18.04.2011, 19.07.2011 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 19.12.2011. Der Kläger habe in diesem Zeitraum keinen Anspruch auf einen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II. Es handele sich nicht um einen atypischen Bedarf, da die Wahrnehmung der Grundrechte jedermann zustehe. Auch komme eine Erhöhung des Regelbedarfs nicht in Betracht, da der neu ermittelte Regelbedarf zur Überzeugung der Kammer verfassungsgemäß sei. Zu den Einzelheiten wird auf die Ausführungen des Sozialgerichts Bezug genommen. Das Sozialgericht hat die Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassen.

Das Urteil ist dem Bevollmächtigten des Klägers am 13.01.2012 zugestellt worden.

Der Kläger hat am 02.02.2012 gegen das Urteil Berufung eingelegt. Er begehre die Kostenübernahme für die Teilnahme an Demonstrationen. Die neu ermittelten Regelbedarfe seien nicht transparent ermittelt worden. Die vom Gesetzgeber vorgenommenen Abschläge bei der Ermittlung des Regelbedarfs betragen 72,81 Euro. Bereits deshalb sei es ihm nicht möglich, Kosten für die Teilnahme an Demonstrationen zu übernehmen. Gegenstand dieses Verfahrens sei allein, ob der Beklagte verpflichtet sei, Kosten für die Teilnahme an Demonstrationen zu tragen. Nicht Gegenstand des Verfahrens sei es jedoch, ob der Regelbedarf an sich verfassungsgemäß sei. Dies sei Gegenstand des Verfahrens S 33 AS 126/12.

Er beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 19.12.2011 abzuändern und den Beklagten unter Abänderung des Bescheides vom 07.01.2011 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 02.02.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.02.2011 in der Fassung der Änderungsbescheide vom 26.03.2011, 18.04.2011, 19.07.2011 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 19.12.2011 zu verpflichten, höhere Leistungen nach dem SGB II für den Zeitraum 01.01.2011 bis 30.04.2011 zu gewähren.

Der Beklagte hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsakten des Beklagten verwiesen. Diese sind Gegen-stand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere ist sie form- und fristgemäß erhoben (§ 151 Abs. SGG). Da das Sozialgericht die Berufung gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen hat, ist das LSG an die Zulassung gebunden (§ 144 Abs. 3 SGG).

Die Berufung ist aber unbegründet.

Der Senat hält die Ausführungen im angefochtenen Urteil für zutreffend. Die einschlägige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts wird berücksichtigt und richtig angewendet. Der Senat hat den Ausführungen des Sozialgerichts nichts hinzuzufügen und nimmt gemäß § 153 Abs. 2 SGG hierauf Bezug. Der Vortrag im Berufungsverfahren gibt zu keiner anderen Beurteilung Anlass. Gegenstand des vorliegenden Verfahrens ist - entgegen der Auffassung des Klägers - der Bescheid vom 07.01.2011 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 14.02.2011, mit dem der Beklagte den zusätzlich zur Regelleistung geltend gemachten "Mehrbedarf" abgelehnt hat. Die von dem Beklagten erlassenen Änderungsbescheide vom 02.02.2011, 26.03.2011, 18.04.2011, 19.07.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19.12.2011 sind ebenfalls Gegenstand des Verfahrens nach §§ 86, 96 SGG geworden. Sie ersetzen den Bescheid vom 07.01.2011. Denn das Vorbringen des Klägers in seinem Schreiben vom 06.01.2011 ist dahin auszulegen, dass er die Notwendigkeit der Gewährung eines Mehrbedarfs wegen der Kosten für die Teilnahme an Demonstrationen und damit eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen von diesem Zeitpunkt an geltend macht. Auf diesen Antrag hin hat der Beklagte in der Sache die ursprüngliche Bewilligungsentscheidung mit Wirkung ab Zeitpunkt der geltend gemachten Änderung überprüft. Der Bescheid des Beklagten vom 07.01.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.02.2011 lässt zwar eine ausdrückliche Bezugnahme auf die mit Bescheid vom 25.10.2010 erfolgte Bewilligung für den Bewilligungsabschnitt vom 01.11.2010 bis 30.04.2011 nicht erkennen. Dies allein lässt aber - aus der insoweit für die Auslegung maßgeblichen Sicht eines verständigen Beteiligten, der in Kenntnis der tatsächlichen Zusammenhänge den wirklichen Willen der Behörde erkennen kann (BSGE 67, 104, 110 = SozR 3-1300 § 32 Nr. 2 S 11) - nicht den Schluss zu, der Beklagte habe abschließend für die Zukunft über den geltend gemachten Mehrbedarf entscheiden wollen. Zu einer solchen Entscheidung mit Bindungswirkung für die Zukunft wäre er wegen der in § 41 Abs. 1 S. 4 SGB II vorgesehenen abschnittsweisen Bewilligung von Leistungen nicht berechtigt gewesen (im Einzelnen BSG Urteil vom 24.2.2011 - B 14 AS 49/10 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen, RdNr 14). In zeitlicher Hinsicht kann sich die Leistungsklage des Klägers damit zulässigerweise nur auf höhere laufende Leistungen für den Bewilligungsabschnitt vom 01.11.2010 bis 30.04.2011 ab der geltend gemachten Änderung der Verhältnisse (hier ab 06.01.2011) richten.

Im Ergebnis steht dem Kläger kein weiterer Anspruch auf Kosten für die Teilnahme an Demonstrationen zu. Das SGB II sieht keine entsprechende Anspruchsgrundlage vor, insbesondere besteht kein Anspruch bestehen, abstrakt feststellen zu lassen, dass eine Kostenübernahme für Demonstrationen zu erfolgen habe. Konkrete Veranstaltungen, an denen der Kläger teilnehmen möchte, hat er nicht benannt. Ein Anspruch ergibt sich nicht aus § 21 Abs. 6 SGB II, da es sich nicht um einen dauerhaften atypischen und unabweisbaren Bedarf handelt. Unabweisbar ist ein Bedarf nur, wenn er nicht unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist (§ 21 Abs. 6 S. 2 SGB II). Dem Kläger ist es zuzumuten, dass er Einsparungen vornimmt, um seinen persönlichen Bedarf, die Teilnahme an Demonstrationen, zu decken. Aus den Grundrechten (hier Art. 5 und 8 GG) ergibt sich ebenfalls kein Anspruch auf einen bestimmten Geldbetrag. Der Kläger ist in der Ausübung seiner Grundrechte durch den Bezug von Leistungen nach dem SGB II nicht gehindert. Auch ein Nichtleistungsempfänger, der gerade wegen seines Einkommens keinen Anspruch auf SGB II-Leistungen hat, wird sich überlegen, ob er Kosten aufwendet, um an Demonstrationen teilzunehmen. Es handelt es sich bei den von dem Kläger geltend gemachten Kosten für die Teilnahme an Demonstrationen vielmehr um einen Bedarf, der bereits im Regelbedarf nach § 20 SGB II enthalten ist. § 20 Abs. 1 S. 1 SGB II definiert eine Reihe von grundlegenden Bedarfsgegenständen, die zur Sicherung des Lebensunterhalts notwendig sind. Hierzu zählen insbesondere Ernährung, Kleidung, Körperpflege, Hausrat, Haushaltsenergie ohne die auf Heizung und Erzeugung von Warmwasser entfallenden Anteile sowie die persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens. Die Bedürfnisse des täglichen Lebens werden in Abs. 1 S. 2 näher konkretisiert. Hierzu gehört in vertretbarem Umfang die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft. Abs. 1 garantiert damit neben dem physischen Existenzminimum mit den persönlichen Bedürfnissen des täglichen Lebens das sog "soziokulturelle Existenzminimum". So hat das BVerfG in seiner Entscheidung vom 09.02.2010 den Anspruch auf Gewährleistung eines menschwürdigen Existenzminimums dahingehend definiert, dass neben der physischen Existenzgrundlage, wie Nahrung, Kleidung, Hausrat, Unterkunft, Heizung, Hygiene und Gesundheit, auch die Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben sicherzustellen ist, da der Mensch als Person notwendig in sozialen Bezügen existiert (BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, BVerfGE 125, 175 - 260 = SozR 4-4200 § 20 Nr 12 -, RdNr. 135). Dass der Gesetzgeber mit der Neuregelung der Regelbedarfe die Anforderungen des BVerfGs umgesetzt hat und ein Verfassungsverstoß nicht besteht, ist ständige Rechtsprechung des Senats und steht in Einklang mit der Rechtsprechung des BSG (vgl. Urteile vom 12.07.2012, B 14 AS 153/11 R und B 14 AS 189/11 R und Terminsbericht vom 28.03.2013, B 4 AS 12/12 R für Paarhaushalte). Auf die Begründungen der BSG-Urteile wird insoweit Bezug genommen.

Der Beklagte hat schließlich zu Recht in den Widerspruchsbescheiden vom 19.12.2011 die Widersprüche gegen die Änderungsbescheide als unzulässig verworfen, da sie bereits Gegenstand dieses Klageverfahrens und nicht des Verfahrens S 33 AS 126/12 geworden sind. Der Kläger hat daher auch keinen Anspruch auf den in dem Verfahren S 33 AS 126/12 geltend gemachten Betrag von monatlich 470,00 Euro.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 oder 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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