S 205 AS 6486/16 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
205
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 205 AS 6486/16 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
1. § 24 Abs 1 S 1 SGB II ist im Falle von Stromschulden nicht anwendbar, da Verbindlichkeiten beim Stromlieferanten keinen ungedeckten, im Regelbedarf enthaltenen Bedarf darstellen.
2. § 22 Abs 8 S 2 SGB II ist bei Stromschulden nicht anwendbar, da durch Stromschulden keine Wohnungslosigkeit droht.
3. Eine analoge Anwendung des § 22 Abs 8 S 2 SGB II auf Fälle von Stromschulden scheitert sowohl am Fehlen einer planwidrigen Regelungslücke als auch an einem vergleichbaren Sachverhalt.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird zurückgewiesen. Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.

Gründe:

Der am 4. Mai 2016 beim angerufenen Gericht eingegangene Antrag der Antragsteller vom 3. Mai 2016,

den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragstellern unverzüglich ein Darlehen in Höhe von 1.011,26 EUR zur Tilgung der bei V. bestehenden Stromschulden zu gewähren,

hat keinen Erfolg.

Eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis (Regelungsanordnung) ist zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint (§ 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG)). Das ist dann der Fall, wenn dem Antragsteller ohne eine solche Anordnung schwere oder unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung eine Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (vgl. BVerfGE 79, 69 ff.). Eine solche Regelungsanordnung setzt voraus, dass der Antragsteller einen Anordnungsgrund, das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit, und einen Anordnungsanspruch, das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den sich ihr Begehren stützt, glaubhaft gemacht hat (§ 86 b Abs. 2 Satz 2 und 4 SGG in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 Abs. 1 Zivilprozessordnung (ZPO)). Bei der erforderlichen Überprüfung der Sach- und Rechtslage ist im Bereich der Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) die Erfolgsaussicht der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen (vgl. BVerfG, B. v. 12.05.2005 - 1 BvR 569/05). Ist dem Gericht allerdings im Eilverfahren trotz Amtsermittlungsgrundsatz eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage nicht möglich, so muss anhand der Folgenabwägung entschieden werden. Hierbei sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers einzubeziehen.

Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist unbegründet.

Rechtsgrundlage für die begehrte Bewilligung eines Darlehens ist § 22 Abs 8 S 1 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).

Hiernach können Schulden übernommen werden, sofern Arbeitslosengeld II für den Bedarf für Unterkunft und Heizung erbracht wird, soweit dies zur Sicherung der Unterkunft oder zur Behebung einer vergleichbaren Notlage gerechtfertigt ist.

Entgegen einer verbreiteten Auffassung ist § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB II weder generell noch im Falle von Nachforderungen aufgrund erfolgter Abrechnung von Vorauszahlungen für Strom anwendbar. Schulden sind Zahlungsverbindlichkeiten des Leistungsberechtigten, die in der Vergangenheit begründet wurden, auf die entweder aktuell oder künftig Zahlungen zu leisten sind und auf die bislang nicht oder nur teilweise die geschuldeten Zahlungen geleistet wurden (Berendes, info also 2008, 151). Es würde sich nur dann nicht um Schulden handeln, wenn es sich um laufende Leistungen für einen noch nicht gedeckten Bedarf handeln würde (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, B. v. 08.10.2012 - L 12 AS 1442/12 B ER, Rn. 19, juris; vgl. BSG, Urt. v. 22.03.2010 - B 4 AS 62/09 R, Rn. 17). Überdies ist § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB II schon nicht auf Stromschulden anzuwenden, denn die Vorschrift erfasst einen vom Regelbedarf umfassen Bedarf. Der Bedarf, der im Regelbedarf enthalten ist, ist allein Haushaltsenergie (§ 20 Abs. 1 Satz 1 SGB II). Dieser Bedarf ist bereits gedeckt; der reine Geldbedarf für Stromschulden ist kein ungedeckter, im Regelbedarf enthaltener Bedarf (vgl. bereits instruktiv SG Berlin, B. v. 08.10.2009 - S 121 AS 32195/09 ER, juris). Der Bedarf einer Befreiung von einer Verbindlichkeit ist grundsätzlich kein sozialhilferechtlicher Bedarf, sofern eine Norm dies nicht – wie etwa § 22 SGB II oder § 74 Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) – ausdrücklich bestimmt (vgl BSG, 29.09.2009 – B 8 SO 23/08 R –, SozR 4-3500 § 74 Nr 1 Rn 14f). Diese Rechtsauffassung wird insbesondere auch durch die von § 24 Abs. 1 Satz 1 SGB II normierte Rechtsfolge gestützt. Hiernach besteht für den Grundsicherungsträger Ermessen hinsichtlich der Art der Leistung, mithin ob er eine Geld- oder eine Sachleistung erbringt (Bender, in: Gagel, SGB II/III, § 24 SGB II Rn. 25, Stand März 2016). Es erschließt sich nicht, wie der Grundsicherungsträger den – ohnehin bereits gedeckten – Bedarf an Strom durch Sachleistungen gewähren sollte.

§ 22 Abs 8 S 1 SGB II ist auf Stromschulden anwendbar.

Die Übernahme von Stromschulden bei drohender oder bestehender Stromsperre kann nach wohl allgemeiner Auffassung bereits auf Grundlage der verwaltungsrechtlichen Rechtsprechung zum früheren gleichlautenden § 15a Abs. 1 Satz 1 Bundessozialhilfegesetz (BSHG) als ein Fall einer mit der Sicherung der Unterkunft "vergleichbaren Notlage" angesehen werden (vgl. Hessisches LSG, Urt. v. 17.05.2012 – L 9 AS 69/09, Rn. 39, juris; OVG Münster, FEVS 51, 89; W. Schellhorn/H. Schellhorn, BSHG, 16. Aufl., § 15a Rn. 8; Ladner, LKV 1991, 141; Hammel, info also 2011, 251, 254; Berendes, info also 2008, 151).

§ 22 Abs. 8 Satz 2 SGB II ist im vorliegenden Fall im Hinblick auf die Übernahme von Stromschulden nicht relevant. Es handelt sich bei einer fehlenden Versorgung mit Strom nicht um eine drohende Wohnungslosigkeit (LSG Berlin-Brandenburg, B. v. 8. 8.2011 – L 5 AS 1097/11 B ER, L 5 AS 1105/11 B PKH, Rn. 4; SG Nürnberg, B. v. 20.06.2012 - S 6 AS 547/12 ER, Rn. 33f., juris). Drohende Wohnungslosigkeit, die in der Regel einen Anspruch auf Übernahme von Schulden auslösen kann, bedeutet den drohenden Verlust der bewohnten, kostenangemessenen Wohnung bei fehlender Möglichkeit ebenfalls angemessenen Ersatzwohnraum zu erhalten (BSG, Urt. v. 17.06.2010 - B 14 AS 58/09 R; LSG Berlin-Brandenburg, B. v. 18.01.2010 – L 29 AS 2052/09 B ER; LSG Berlin-Brandenburg, B. v. 01.03.2010 - L 10 AS 291/10 B ER). Davon kann bei Stromschulden nicht die Rede sein, da weder der Bestand des aktuellen Mietverhältnisses berührt wird, noch Stromschulden dazu führen könnten, dass der Leistungsberechtigte eine kostenangemessene Wohnung nicht auffinden kann (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, B. v. 8. 8.2011 – L 5 AS 1097/11 B ER, L 5 AS 1105/11 B PKH, Rn. 4; LSG Berlin-Brandenburg, B. v. 14.03.2012 - L 29 AS 28/12 B ER; SG Nürnberg, B. v. 20.06.2012 - S 6 AS 547/12 ER; Weinreich, Sozialrecht aktuell 2013, 49,50 ).

Entgegen einer weit verbreiteten Auffassung (zB LSG Berlin-Brandenburg, B. v. 14.09.2012 - L 18 AS 2308/12 B ER; LSG Sachsen-Anhalt, B. v. 13.03.2012 - L 2 AS 477/11 B ER, juris). ist § 22 Abs. 8 Satz 2 SGB II nicht analog auf den Fall einer drohenden Sperrung des Stroms anzuwenden (vgl. bereits SG Berlin, B. v. 18.01.2006 – S 49 SO 6304/05, Rn. 7, juris; OVG Berlin, B. v. 18.03.2003 – 6 S 21.03, Rn. 12ff., juris). Eine analoge Anwendung des § 22 Abs. 8 Satz 2 SGB II auf Fälle der drohenden Stromsperre scheitert sowohl an dem Fehlen einer planwidrigen Regelungslücke als auch an einem vergleichbaren Sachverhalt. Eine planwidrige Regelungslücke liegt ersichtlich nicht vor. Der Gesetzgeber hat den Fall des drohenden Verlustes des Stroms gesehen, wie sich bereits an Satz 1 der Norm ablesen lässt. In dieser Vorschrift ist der Fall der vergleichbaren Notlage geregelt. Es lässt sich nicht ernstlich annehmen, dass der Gesetzgeber in vollkommener Unkenntnis der wohl allgemeinen Auffassung zu § 15a Abs. 1 Satz 1 BSHG davon ausging, dass § 22 Abs. 8 Satz 1 SGB II lediglich den Fall des drohenden Heizungsverlustes als vergleichbare Notlage erfassen sollte. Im Gegenteil, die Gesetzesbegründung geht allgemein davon aus, dass § 22 Abs. 8 SGB II die Übernahme von "Energieschulden" regele (BT-Drs. 16/688, S. 14). Es ist kein Anhaltspunkt dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber damit nur Heizschulden gemeint haben könnte. Da der Gesetzgeber danach den Fall der Stromsperre im Blick hatte, kann eine planwidrige Regelungslücke in Bezug auf Satz 2 der Vorschrift, die lediglich den Fall der drohenden Wohnungslosigkeit erfasst, nicht festgestellt werden. Überdies fehlt es auch an einer vergleichbaren Interessenlage. Das intendierte Ermessen bei drohender Wohnungslosigkeit beruht auf der Überlegung, dass Obdachlosigkeit mit erheblichen negativen sozialen Folgen und meist auch mit hohen finanziellen Aufwendungen für die Unterbringung der wohnungslos geworden Personen verbunden ist (BT-Drs 13/2440, S 19; vgl. Schulte, NVwZ 1997, 956, 959). Es gibt keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass drohende Stromsperren ebensolche sozialen und finanziellen Folgen wie Fälle der Obdachlosigkeit auslösen könnten. Es ist nicht ansatzweise erkennbar, dass die unterlassene Übernahme von Stromschulden dazu führen könnte, dass Betroffene unter Aufbringung hoher finanzieller Mittel anderweitig untergebracht werden müsste.

Ein Anspruch auf Übernahme der Stromschulden lässt sich aus § 22 Abs. 8 Satz 1 SGB II nicht herleiten. Hiernach steht die Übernahme der Schulden im Ermessen des Antragsgegners ("können Schulden übernommen werden"). Eine Ermessensreduzierung auf Null lässt sich auch nicht allein aus dem Umstand ableiten, dass es sich bei den Antragstellern auch um minderjährige Kinder handelt. Eine existenzielle Gefährdung folgt aus dem Ausfall der Stromzufuhr nicht (OVG Berlin, B. v. 18.03.2003 – 6 S 21.03, Rn. 20, juris). Überdies dürfte es rechtlich äußerst fragwürdig sein, eine Ermessensreduzierung auf Null aufgrund von Umständen anzunehmen, die bereits auf Tatbestandsebene zu überprüfen sind, wenn sich nach zutreffender Auffassung bereits grundsätzlich Ermessenserwägungen nicht auf Tatbestandsvoraussetzungen beziehen dürfen (vgl. BVerwG, Buchholz 239.2 § 28 SVG Nr 4; Rieker, jurisPR-SozR 3/2012 Anm. 2; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl., § 40 Rn. 62). Da allerdings die mangelnde Versorgung eines Haushalts mit elektrischer Energie nur als ein vorübergehender Zustand akzeptiert werden darf (OVG Berlin, B. v. 3.03.1997 - S 380.96), ist gerade bei Berücksichtigung eines schulpflichtigen Kindes nur für einen vergleichsweise kurzen Zeitraum eine Unterbrechung der Stromzufuhr zu rechtfertigen. Die Frage, ab welcher Dauer eine Ermessensreduzierung auf Null eintritt, braucht hier nicht entschieden zu werden (vgl. hierzu OVG Berlin, B. v. 18.03.2003 – 6 S 21.03, Rn. 21, juris).

In Ermangelung einer Ermessensreduzierung auf Null kann eine einstweilige Anordnung gerichtet auf Gewährung eines Darlehens nicht erlassen werden (vgl. nur Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl., § 86b Rn. 30a, mwN).

Ob eine Verpflichtung zur Neubescheidung im Rahmen einer einstweiligen Anordnung statthaft ist (vgl hierzu LSG Berlin-Brandenburg, 20.07.2015 – L 10 AS 193/15 B ER), kann dahingestellt bleiben, denn die tatbestandlichen Voraussetzungen von § 22 Abs 8 S 1 SGB II sind nicht gegeben. Die Schuldenübernahme ist nicht "gerechtfertigt". Den Antragstellern ist bereits im Jahr 2010 ein Darlehen für Stromschulden bewilligt worden. Eine wiederholte Übernahme von Schulden ohne besonderen Rechtfertigungsgrund ist nicht gerechtfertigt (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, 12.09.2012 – L 14 AS 2105/12 B ER – juris Rn 6). Einen solchen besonderen Rechtfertigungsgrund haben die Antragsteller nicht dargelegt, geschweige denn glaubhaft gemacht.

Die Kostentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung der §§ 183 Satz 1, 193 Abs. 1 Satz 1 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache.

Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe war nach § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO abzulehnen, da die Rechtsverfolgung aus den dargestellten Gründen keine Aussicht auf Erfolg hat.
Rechtskraft
Aus
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