L 5 KG 1/15

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Kindergeld-/Erziehungsgeldangelegenheiten
Abteilung
5
1. Instanz
SG Dessau-Roßlau (SAN)
Aktenzeichen
S 16 KG 2/13
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 5 KG 1/15
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 26. Januar 2015 wird aufgehoben und die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind für beide Rechtszüge nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beklagte wendet sich gegen die Verurteilung zur Zahlung von Kindergeld für sich selbst gemäß § 1 Abs. 2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) ab September 2010.

Die Mutter der am ... 1992 geborenen Klägerin verstarb am ... 1999; sie war zu dem Zeitpunkt noch mit dem Vater der Klägerin A. F. verheiratet. Das Amtsgericht M. hatte nach dem Tod der Mutter gemäß § 1647 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) das Ruhen der elterlichen Sorge festgestellt und das Jugendamt des Landkreises M.-Q. zum Vormund bestellt. Ab dem 28. September 1999 übernahmen die Schwester der verstorbenen Mutter und deren Ehemann die Vollzeitpflege der Klägerin gemäß § 33 Achtes Buch Sozialgesetzbuch (Kinder- und Jugendhilfe). Das Kindergeld wurde bis August 2010 an die Pflegeeltern gezahlt.

Die Klägerin bezieht Halbwaisenrente nach dem Sechsten Buch Sozialgesetzbuch (Gesetzliche Rentenversicherung - SGB VI), ab Oktober 2010 i.H.v. 163,57 EUR/Mt. und ab Juli 2011 i.H.v. 164,66 EUR/Mt. Die Klägerin besuchte von 2010 an in Vollzeitunterricht eine Fachoberschule, die sie erfolgreich beendet hat. Die ab 19. August 2013 aufgenommene Ausbildung zur Industriekauffrau soll bis Juni 2016 dauern. Sie erhielt Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) ab August 2009 bis Juli 2013; im Jahr 2011 i.H.v. 425 EUR/Mt. Für den gesamten Bezugszeitraum war Einkommen des Vaters in die Berechnung eingestellt worden, es lag jedoch jeweils unter der Freibetragsgrenze. Seit September 2013 bezieht die Klägerin Berufsausbildungsbeihilfe nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch - Arbeitsförderung (SGB III).

Die Klägerin beantragte am 30. September 2011 bei der Familienkasse N. die Auszahlung von Kindergeld an sich selbst. Sie gab zunächst an, der Name, das Geburtsdatum und die Anschrift des Vaters seien ihr nicht bekannt.

Die Bundesagentur für Arbeit, Familienkasse H., teilte der Beklagten auf Nachfrage den vollständigen Namen des Kindsvaters mit; dieser habe kein Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (EStG) bezogen. Das Jugendamt der Stadtverwaltung B. teilte der Beklagten am 25. September 2012 auf Nachfrage die aktuelle Anschrift des Vaters mit.

Auf die Aufforderung an die Klägerin, Angaben zu den Bemühungen hinsichtlich der Ermittlung des Aufenthalts des Vaters zu machen, antwortete diese, anwaltlich vertreten: Sie habe keinerlei Kenntnisse über den Aufenthaltsort des Vaters, zumal sie ihn nicht einmal persönlich kenne und kein Kontakt bestehe. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) (Urteil vom 8. April 1992,10 RKG 12/91) sei die Nichtkenntnis des Aufenthalts der Eltern nach einem subjektiven Maßstab zu beurteilen. In einem Formularfragebogen gab die Klägerin an, nach der Trennung der Eltern im Jahr 1993 keinen Kontakt mit dem Vater gehabt zu haben. Sie nannte eine ihr zuletzt im Jahr 1999 bekannte Anschrift in H./S., die nicht mit der vom Jugendamt der Stadtverwaltung B. mitgeteilten Anschrift übereinstimmt. Ergänzend legte die Klägerin Schriftverkehr des Landkreises M.-Q. sowie der Stadt H./S. von November 1999 bis Januar 2000 vor. Danach habe der Vater nach dem Tod der Mutter kein Interesse an einer Ausübung der elterlichen Sorge gezeigt. Nach seinem Bekunden habe er die Klägerin zuletzt gesehen, als sie ein Jahr alt gewesen sei. Danach hätten sich die Eheleute getrennt und nichts mehr voneinander gehört. Er habe geäußert, mit der ganzen Sache nichts mehr zu tun haben zu wollen.

Die Familienkasse N. lehnte mit Bescheid vom 17. Oktober 2012 den Antrag auf Kindergeldzahlung ab. Da der Aufenthalt des Vaters bekannt sei, lägen die Anspruchsvoraussetzungen nicht vor. Den nicht weiter begründeten Widerspruch wies die Familienkasse N. mit gleich lautendem Widerspruchsbescheid vom 4. März 2013 zurück.

Gegen den ihr am 7. März 2013 zugegangenen Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 8. April 2013, einem Montag, Klage beim Sozialgericht Dessau-Roßlau erhoben. Sie hat zunächst ihr bisheriges Vorbringen hinsichtlich der notwendigen subjektiven Kenntnis des Aufenthalts des Vaters vertieft. Unabhängig davon, ob dessen Anschrift zwischenzeitlich ermittelt wurde, hätte sie nach § 74 EStG einen Anspruch auf Auszahlung des Kindergelds an sich selbst. Die Voraussetzungen seien erfüllt, da der Vater ihr gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkomme.

Die Beklagte hat ausgeführt, der Aufenthalt des Vaters wäre ermittelbar und dieser hätte grundsätzlich Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG. Der Antrag der Klägerin auf Kindergeld nach § 1 Abs. 2 BKGG sei als Antrag im berechtigten Interesse gemäß § 67 Satz 2 EStG zu werten und die Zahlung des Kindergeldes an die Klägerin könne im Rahmen einer Abzweigung erfolgen. Auf dem Urteil des BSG vom 8. April 1992 (a.a.O.) basiere die Durchführungsanweisung der Familienkasse. Es müsse erkennbar sein, dass das Kind es nicht grob fahrlässig oder vorsätzlich unterlassen habe, Hinweisen über den Aufenthalt der Eltern nachzugehen. Eine persönliche Kontaktaufnahme zum Vater sei dabei nicht erforderlich.

Das Sozialgericht hat die Beklagte mit Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 26. Januar 2015 unter Aufhebung ihrer Bescheide verpflichtet, der Klägerin ab September 2010 Kindergeld i.H.v. 184,00 EUR/Mt. zu gewähren. Es liege eine Nichtkenntnis der Klägerin vom Aufenthalt ihres Vaters gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG vor. Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut sei auf die Nichtkenntnis des Kindes abzustellen; die Vorschrift sei erkennbar subjektiv ausgerichtet. Es lasse sich aus der Vorschrift auch kein Verschuldensgrad entnehmen, bei dessen Vorliegen eine positive Kenntnis unterstellt werden könnte (BSG, Urteil vom 8. April 1992, a.a.O.). Es komme daher nicht darauf an, dass die Beklagte die aktuelle Anschrift des Vaters in der Verwaltungsakte hinterlegt habe. Die von der Klägerin vorgelegten Unterlagen aus 1999 bis 2000 wiesen nicht die aktuelle Anschrift des Vaters aus. Aufgrund der familiären Verhältnisse sei nachvollziehbar, dass kein Interesse der Klägerin an der Kenntnis des Aufenthalts des Vaters bestehe. Eine Obliegenheit der Klägerin zu weiteren Ermittlungen entsprechend der Durchführungsanweisungen der Beklagten ergebe sich nicht aus dem Gesetz. Sinn und Zweck des "Kindergelds für sich selbst" sei es, zur Vermeidung von Härtefällen alleinstehende Kinder mit einem eigenen Anspruch auszustatten. Eine Gefahr von Doppelleistungen bestehe hier nicht, da der Elternteil keinerlei Kontakt zum Kind pflege. Die Klägerin könne auch nicht zumutbar auf eine Abzweigung nach § 74 EStG verwiesen werden. Dieses Verfahren würde eine nicht gewollte Verknüpfung zwischen Eltern und Kind herstellen, denn der Elternteil als grundsätzlich Berechtigter müsste angehört und dessen Identifikationsnummer mitgeteilt werden. Hätte der Gesetzgeber die Fälle eines objektiv ermittelbaren Aufenthalts der Eltern dem EStG unterwerfen wollen, hätte er dies in § 1 Abs. 2 BKGG eindeutig regeln müssen. Die weiteren Voraussetzungen für die Kindergeldgewährung lägen vor. Die Klägerin habe das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet und befinde sich seit Vollendung des 18. Lebensjahres in ununterbrochener Schul- und Berufsausbildung. Die bis 31. Dezember 2011 nach § 2 Abs. 2 Satz 2 BKGG geltende Jahreseinkommensgrenze von 8.004 EUR habe die Klägerin mit dem BAföG und der Halbwaisenrente nicht erreicht. Der Anspruch bestehe bereits ab September 2010; bis August 2010 sei das Kindergeld an die berechtigte Pflegemutter gezahlt worden. Die Höhe des Kindergelds ergebe sich aus § 6 Abs. 2 BKGG.

Dagegen hat die Beklagte am 17. Februar 2015 Berufung beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt eingelegt. Auch wenn die Klägerin den Aufenthalt des Vaters nicht kenne, sei sie bei diesem doch als Kind i.S.v. § 63 EStG zu berücksichtigen. "Andere Person" i.S.v. § 1 Abs. 2 Nr. 3 BKGG seien auch leibliche Elternteile, deren Aufenthalt nicht bekannt ist.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Dessau-Roßlau vom 26. Januar 2015 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Landkreis A.-B. hat unter dem 15. Juni 2016 auf Befragen des Senats mitgeteilt: die Klägerin habe bei ihren Anträgen auf Leistungen nach dem BAföG jeweils den Aufenthaltsort ihres Vater nicht nennen können. Die Ermittlung dessen Aufenthalts und Einkommens sei im Wege der Amtshilfe erfolgt.

Die Familienkasse S.-A.-T. hat unter dem 16. Juni 2016 auf Befragen des Senats mitgeteilt: Nach dem Ablehnungsbescheid der Familienkasse N. vom 17. Oktober 2012 sei der Kindergeldantrag der Klägerin als Antrag im berechtigten Interesse gemäß § 67 Satz 2 EStG und als Antrag auf Abzweigung gemäß § 74 Abs. 1 EStG behandelt worden. Der Vater habe nicht mitgewirkt, weshalb am 26. August 2013 diesem gegenüber ein Ablehnungsbescheid ergangen sei. Am gleichen Tag sei der Antrag auf Abzweigung gegenüber der Klägerin abgelehnt und ihrem Prozessbevollmächtigten der an den Vater gerichtete Ablehnungsbescheid als Abdruck übersandt worden. Dagegen habe die Klägerin Einspruch erhoben, der wegen des laufenden Rechtsstreits nicht bearbeitet werde.

Die Gerichtsakte und die Verwaltungsakte der Beklagten haben vorgelegen und sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Sachvortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der Verwaltungsakte ergänzend verwiesen.

Entscheidungsgründe:

I.1.

Die Berufung der Beklagten ist form- und fristgerecht gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erhoben worden. Sie ist auch statthaft gemäß § 144 Abs. 1 Satz 2 SGG, da die Berufung laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft.

2.

Der Vater der Klägerin war nicht gemäß § 75 Abs. 2 SGG notwendig zum Verfahren beigeladen, denn die Entscheidung konnte der Klägerin und ihm gegenüber nicht nur einheitlich ergehen. Der Vater der Klägerin hat selbst keinen Antrag auf Zahlung von Kindergeld an sich gestellt. Ein Fall des Streits über konkurrierende Ansprüche i.S.v. § 3 BKGG liegt daher nicht vor (zu notwendigen Beiladung für diesen Fall: BSG, Urteil vom 11. März 1987,10 RKg 7/86 (13)). Der Senat hat von einer einfachen Beiladung des Vaters gemäß § 75 Abs. 1 SGG nach pflichtgemäßem Ermessen abgesehen. Dies hätte nicht den mutmaßlichen Interessen der Klägerin entsprochen, da sie auf diese Weise ungewollt vom Aufenthalt des Vaters hätte erfahren müssen (Beiladungsbeschluss, ggf. Schriftsatzwechsel). Es ist auch nicht erkennbar, dass der Vater der Klägerin ein Interesse am Ausgang des Verfahrens hat.

II.

Die Berufung der Beklagten ist begründet, da das Sozialgericht Dessau-Roßlau diese zu Unrecht zur Verurteilung von Kindergeld an die Klägerin selbst verurteilt hat. Der angefochtene Bescheid vom 17. Oktober 2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 4. März 2013 verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten und ist daher rechtmäßig.

Kindergeld für sich selbst erhält - bei Vorliegen der Voraussetzungen für die Bewilligung von Kindergeld - gemäß § 1 Satz 2 BKGG, wer

1. in Deutschland einen oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat,

2. Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt und

3. nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist.

1.

Die Klägerin hat ihren Wohnsitz in Deutschland.

2.a.

Die Klägerin kannte den Aufenthalt ihres Vaters - zumindest bis zum Zugang der Kopie des Ablehnungsbescheids der Familienkasse S.-A.-T. an den Vater vom 26. August 2013 bei ihrem Prozessbevollmächtigten am 27. August 2013 - nicht.

Nach ihren glaubhaften Angaben hatte sie seit dem ersten Lebensjahr keinen Kontakt mehr zu dem Vater. Zwar hatte sie bei der Antragstellung zu Unrecht angegeben, außer seinem Aufenthalt auch seinen Namen und das Geburtsjahr nicht zu kennen. Der Name ergibt sich jedoch schon aus der von ihr selbst vorgelegten Geburtsurkunde. Das Geburtsdatum des Vaters konnte sie in dem am 8. Oktober 2012 vorgelegten Formularfragebogen genau angeben.

Der Senat hat jedoch nach der Befragung in der mündlichen Verhandlung keinen Zweifel daran, dass die Klägerin zum Zeitpunkt der Antragstellung den aktuellen Aufenthalt des Vaters nicht kannte. Es ist plausibel, dass sie als letzte bekannte Anschrift eine Adresse genannt hat, die ihr im Jahr 1999 anlässlich der Befragung des Vaters zur Übernahme der elterlichen Sorge bekannt geworden ist. Sie selbst hat im Verwaltungsverfahren diese Vorgänge vorgelegt, die ihr nach ihren Angaben Eintritt der Volljährigkeit vom Jugendamt überreicht worden sind.

Spätestens seit dem 27. August 2013 hat die Klägerin Kenntnis vom Aufenthalt des Vaters. Es kann offen bleiben, ob sie von ihrem Prozessbevollmächtigten den gesamten Schriftverkehr mit der Familienkasse S.-A.-T. bekommen hat. Denn jedenfalls ist ihr die Kenntnis ihres Prozessbevollmächtigten als eigene Kenntnis zurechenbar. Wer einen anderen als sog. Wissensvertreter mit der Erledigung bestimmter Angelegenheiten betraut, muss sich das von diesem im Rahmen des Auftragsverhältnisses erlangte Wissen zurechnen lassen (Bundesgerichtshof (BGH), Urteil vom 16. Mai 1989, VI ZR 251/88 (12)).

Für die Zeit davor reicht entgegen der Auffassung der Beklagten in den angefochtenen Bescheiden insoweit nicht aus, dass der Aufenthalt des Vaters der Behörde bekannt ist. Zu Recht hat das Sozialgericht darauf abgestellt, dass insoweit ein subjektiver Maßstab anzulegen ist und auf die Nichtkenntnis dass das Kindergeld beanspruchenden Geldkindes abzustellen ist (BSG, Urteil vom 8. April 1992, a.a.O., (17)).

b.

Die Klägerin ist jedoch so zu behandeln, als hätte sie - auch vor dem 27. August 2013 - positive Kenntnis über den Aufenthalt des Vaters gehabt.

Zwar enthält das BKGG keine Regelung, wenn ein antragstellendes Kind schuldhaft Hinweisen über den Aufenthalt der Eltern nicht nachgeht. Zu prüfen ist dann aber, ob eine missbräuchliche Nichtkenntnis der Kenntnis i.S.v. § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG gleichzustellen ist (BSG, a.a.O. (18) offen gelassen, aber unter ausdrücklichem Hinweis auf die zivilrechtliche Rechtsprechung im Rahmen von § 852 BGB in der bis zum 31. Dezember 2001 geltenden Fassung).

Insoweit ist nach Rechtsprechung des BGH zum Beginn der Verjährung deliktischer Ansprüche abzugrenzen eine grob fahrlässig verschuldete Unkenntnis der vom Gesetz geforderten positiven Kenntnis gegenüber einem missbräuchlichen "sich verschließen" vor der Kenntnis (BGH, Urteil vom 5. Februar 1985, VI ZR 61/83 (16), Urteil vom 16. Mai 1989, a.a.O. (15)). Dabei ist auch bezüglich der Nichtkenntnis abzustellen auf den sog. Wissensvertreter, also den mit der Bearbeitung des Antragsverfahrens beauftragten Prozessbevollmächtigten der Klägerin (BGH, Urteil vom 16. Mai 1989, a.a.O. (13)).

Nach § 852 Abs. 1 BGB a.F. hängt der Beginn der Verjährung von deliktischen Ansprüchen davon ab, dass der Verletzte - oder der Wissensvertreter - Schaden und Schädiger positiv kennen. Die Vorschrift wird auch dann angewendet, wenn der Verletzte die Kenntnis zwar tatsächlich nicht besitzt, sie sich aber in zumutbarer Weise ohne nennenswerte Mühe beschaffen könnte. Denn der Verletzte soll es nicht in der Hand haben, die Verjährungsfrist einseitig dadurch zu verlängern, dass er die Augen vor einer sich aufdrängenden Kenntnis verschließt (Rechtsgedanke des § 162 BGB). Allerdings genügt eine grob fahrlässig verschuldete Unkenntnis der positiven Kenntnis nicht. Ein solcher Fall liegt nur vor, wenn der Geschädigte eine sich ihm ohne weiteres anbietende, gleichsam auf der Hand liegende Erkenntnismöglichkeit nicht wahrnimmt. Nur dann liegt ein Fall von missbräuchlichem sich verschließen vor der Kenntnis vor, der mit einer positiven Kenntnis gleich zu setzen ist.

Kriterien für eine missbräuchliche Unkenntnis sind nach der Rechtsprechung des BGH: das Verschließen der Augen vor einer sich aufdrängenden Kenntnis, oder die unterbliebene Wahrnehmung von sich anbietenden und auf der Hand liegenden Erkenntnismöglichkeiten, deren Erlangung weder besondere Kosten noch nennenswerte Mühe verursacht. Dies ist der Fall, wenn etwa eine einfache Nachfrage genügen würde zur positiven Kenntniserlangung. Dies gilt aber dann nicht mehr, wenn lange und Zeit raubende Telefonate oder umfangreicher Schriftwechsel erforderlich würden (BGH, Urteil vom 8. April 1992, a.a.O. (16)). Ebenfalls keine missbräuchliche Unkenntnis liegt vor, wenn der Geschädigte die aus seiner Sicht in Betracht kommenden Auskunftsstellen erfolglos um Mitteilung gebeten und erst durch eine verspätet gewährte Akteneinsicht Kenntnis erlangt hat (BGH, Urteil vom 8. April 1992, a.a.O. (17)).

Der Senat ist davon überzeugt, dass die Klägerin - ab Antragstellung - sowie ihr Prozessbevollmächtigter als Wissensvertreter - ab der Übernahme des Mandats im Mai 2012 - sich durch eine einfache Nachfrage Kenntnis vom Aufenthalt des Vaters hätten verschaffen können. Dies hätte beim für die letzte bekannte Anschrift zuständigen Einwohnermeldeamt, bei dem für die Klägerin bis zur Volljährigkeit zuständigen Jugendamt (etwa unter dem damals vergebenen Aktenzeichen) oder bei dem Amt für Ausbildungsförderung, das im Rahmen der BAföG-Bewilligungen seit 2009 jeweils das Einkommen des Vaters tatsächlich ermittelt hat, erfolgen können. Die Klägerin wusste von der Einkommensanrechnung; ihr musste klar gewesen sein, dass die Behörde Kontakt mit dem Vater aufgenommen hatte.

Ab Erteilung des Bescheids vom 17. Oktober 2012, wonach der Aufenthalt des Vaters bekannt sei, wäre auch eine Nachfrage bei der Beklagten möglich gewesen. Die Klägerin hat indes schon während des Antragsverfahrens durch ihren Wissensvertreter auf die subjektive Unkenntnis verwiesen und keinerlei Versuch unternommen, den Aufenthalt des Vaters in Erfahrung zu bringen. Dieser hätte ohne weiteres - durch Nachfrage bei den Behörden oder durch Akteneinsicht - den aktuellen Aufenthalt des Vaters erfahren können. Es liegt hier nicht der Fall vor, dass eine zur Auskunft berufene Stelle diese auf eine Nachfrage verweigert hätte (so der Fall von: Sozialgericht Landshut, Beschluss vom 17. April 2012, S 10 KG 1/12 B ER).

Soweit das Sozialgericht ausgeführt hat, wegen der familiären Verhältnisse sei nachvollziehbar, dass kein Interesse der Klägerin an dem Aufenthaltsort des Vaters bestehe, folgt der Senat dieser Überlegung in Bezug auf § 1 Abs. 2 Nr. 2 BKGG nicht. Insoweit ist nicht das Interesse am unbekannten Aufenthalt des Vaters von Bedeutung, sondern die Verpflichtung des rechtskonformen Verhaltens. Hängt ein Anspruch von der Nichtkenntnis einer Tatsache ab, und verschließt sich der Antragsteller rechtsmissbräuchlich vor der Kenntnis, kann ihm dies nicht zu dem geltend gemachten Anspruch verhelfen.

Dabei ist auch die Wertung des Gesetzes zu berücksichtigen, wonach die Zahlung von Kindergeld an sich selbst eine eng umgrenzte Ausnahmeregelung darstellt. Denn grundsätzlich ist der Kindergeldanspruch eine den Personen zustehende Leistung, die mit dem Unterhalt von Kindern belastet sind. Nur in eng begrenzten Ausnahmefällen soll der Anspruch auf Kindergeldzahlung an sich selbst in Betracht kommen. Nach den Gesetzesmaterialien hatte die hier streitige Vorschrift die Fälle im Blick, in denen nach dem Tod oder der Verschollenheit der Eltern niemand die Elternstelle im Sinne des Kindergeldrechts eingenommen hat. Soweit in diesem Fall ein Kind für seine Geschwister eine quasi-elterliche Funktionen wahrgenommen hatte, konnte nach der alten Rechtslage Kindergeld zwar für die Geschwister, nicht aber für das quasi-elterliche Kind gewährt werden (BT-Drucks 10/3369, S. 11; BSG, a.a.O. (14); Hessisches LSG, Urteil vom 25. Juni 2014, L 6 KG 3/11(21)).

Der Senat vermag auch nicht zu erkennen und es ist auch nicht vorgetragen worden, dass die Kenntniserlangung des aktuellen Aufenthalts des Vaters die Klägerin grundrechtswidrig in ihrem allgemeinen Persönlichkeitsrecht gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) verletzte. Denn der Klägerin war ihre Abstammung bekannt. Etwas anderes mag gelten, wenn die Kenntniserlangung vom Aufenthalt des Elternteils dazu führen würde, dass das Kind erstmals die Identität der leiblichen Mutter erfahren müsste (so: Landessozialgericht für das Land Niedersachsen, Urteil vom 20. Februar 2001, L 8/3 KG 5/00).

Zur Aufforderung an den Vater, einen Kindergeldantrag zu stellen und die Zahlung an sie weiterzuleiten, ist auch keine persönliche Kontaktaufnahme erforderlich gewesen. Da der Vater Kindergeldberechtigter nach dem EStG ist, konnte die Klägerin gemäß § 67 Abs. 2 EStG anstelle des Vaters einen Kindergeldantrag stellen. Nach § 74 Abs. 1 EStG ist antragsgemäß eine Abzweigung des Kindergeldes vorzunehmen, wenn der Vater ihr gegenüber seiner gesetzlichen Unterhaltspflicht nicht nachkommt. Die Antragstellung für den Vater und der gleichzeitige Antrag auf Abzweigung an die Klägerin sind auch seitens der Familienkasse S.-A. bereits verwaltungsmäßig erfasst. Die sich aus der fehlenden Mitwirkung des Vaters im dortigen Verfahren ergebenden Folgen für den abzuzweigenden Kindergeldanspruch der Klägerin sind in jenem Verfahren zu klären. Sie rechtfertigen es aber nicht, nur wegen der dort aufgetretenen Komplikationen der Klägerin im Rahmen von § 1 Abs. 2 BKGG einen eigenen Kindergeldanspruch zu bewilligen.

3.

Der Senat kann deshalb offen lassen, ob ein Leistungsausschluss vorliegt, weil die Klägerin bei dem Vater als einer "anderen Person" als Kind zu berücksichtigen ist. Insoweit ist abzustellen auf die materielle Rechtslage. Es ist also zu prüfen, ob die Klägerin bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist. Nicht entscheidend ist hingegen, ob sie tatsächlich auch berücksichtigt wird (Seewald/Felix, Kindergeldrecht, Kommentar, BKGG § 1, Rn. 127; Hambüchen, BEEG, EStG, BKGG Kommentar, BKGG § 1 Rn. 51). Als andere Person kommt jeder nach § 62 EStG oder § 1 Abs. 1 und 3 BKGG Berechtigte in Betracht.

Aus gesetzessystematischen Gründen dürfte damit aber nicht die Person des Vaters erfasst sein, von der die Klägerin zum Vorliegen des Anspruchs auf eigenes Kindergeld den Aufenthalt ja nicht kennen darf. Gemeint sein dürften nur andere mögliche Leistungsberechtigte wie Stiefeltern, Großeltern oder Pflegeeltern (vgl. Durchführungsanweisung 101.74 zum BKGG der Familienkasse Direktion, Stand Dezember 2011). Würde aber als "andere Person" auch der Vater unbekannten Aufenthalts gelten, könnte ein eigener Kindergeldanspruch nur dann entstehen, wenn dieser sich nicht in der Bundesrepublik Deutschland aufhielte. Dies lässt sich - bei unbekanntem Aufenthalt - tatsächlich kaum aufklären.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war nicht zuzulassen, denn das Urteil beruht auf der Rechtsprechung des BSG (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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