L 31 AS 618/17 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
31
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 200 AS 2395/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 31 AS 618/17 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Für Flüchtlinge bzw. Asylberechtigte ist allein der Träger zuständig, in dessen Gebiet die leistungsberechtigte Person nach § 12 a Abs 1-3 Aufenthaltsgesetz ihren Wohnsitz zu nehmen hat. Nur dort kann unter Berücksichtigung des insoweit begrenzten Freizügigkeitsrechts die Zuständigkeit eines Jobcenters begründet werden.
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 13. März 2017 insoweit aufgehoben, als den Antragstellern zu 2. – 7. für den Zeitraum vom 13. März 2017 bis 31. August 2017 Leistungen bewilligt wurden. Im Übrigen betreffend den Antragsteller zu 1. wird die Beschwerde zurückgewiesen. Der Antragsgegner trägt die außergerichtlichen Kosten zu 1/7.

Gründe:

Die zulässige Beschwerde (§ 172 Sozialgerichtsgesetz – SGG) des Antragsgegners ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet, im Übrigen in Bezug auf den Antragsteller zu 1. unbegründet. Nur der Vollständigkeit halber und wegen des unter dem 26. Mai 2017 noch erfolgten Vortrags zur Antragstellerin zu 8. (nur vor dem Sozialgericht) ist darauf hinzuweisen, dass insoweit unter dem 2. März 2017 die Antragsrücknahme erfolgte, so dass Leistungen aus prozessualen Gründen nicht bewilligt werden können, auch wenn es an einer Nebenbestimmung zum Aufenthaltstitel betreffend die Wohnsitznahme fehlen sollte.

Der angefochtene Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 13. März 2017, mit dem den Antragstellern zu 1. - 7. Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch/Zweites Buch (SGB II) ab Beschlussdatum bis zum 31. August 2017 vorläufig bewilligt wurden, erweist sich im Hinblick auf die Antragsteller zu 2. - 7. als rechtswidrig, da der Antragsgegner für die Leistungserbringung nicht zuständig ist (§ 36 Abs. 2 SGB II).

Die Antragsteller besitzen die syrische Staatsangehörigkeit, die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft für den Antragsteller zu 1. ist am 15. März 2016, die der Familienangehörigen am 23. September 2016 erfolgt. Im Zusatzblatt zum Aufenthaltstitel befindet sich für die Antragsteller zu 2. – 7. die folgende Nebenbestimmung:

"GEM. § 12 A Abs. 1 AUFENTHG IST DIE WOHNSITZNAHME AUF DAS LAND SCHLESWIG-HOLSTEIN BESCHRÄNKT. DIESE BESCHRÄNKUNG GILT BIS ZUM 11. 12. 2019." Bis zum 31. Januar 2017 hat das für den Aufenthaltsort der Antragsteller zuständige Jobcenter Herzogtum L Leistungen gewährt (Bescheid vom 16. Januar 2017).

Zu diesem Zeitpunkt verlegten die Antragsteller ihren Wohnsitz nach B. Sie tragen vor, sich in Schleswig-Holstein nicht wohlgefühlt zu haben. Außerdem lebten die drei Kinder der verstorbenen Schwester der Antragstellerin zu 2. in B.

Der Antragsgegner ist der Auffassung, dass allein ein Jobcenter in Schleswig-Holstein, hier insbesondere das Jobcenter Herzogtum L für die Antragsteller zuständig sei. Es sei ihnen ohne weiteres zuzumuten, nach Schleswig-Holstein zurückzukehren, um dort Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen.

Der Senat hat am 1. Juni 2017 einen Erörterungstermin durchgeführt. Dabei ergab sich, dass die drei Kinder der verstorbenen Schwester bereits unter behördlicher Vormundschaft stehen. Der Antragsteller zu 1. hat einen Arbeitsvertrag mit einer hier ansässigen Firma vorgelegt, nach dem er ab 1. Juni 2017 für 35 Wochenstunden eine Entlohnung von 1.197,- Euro brutto erhielte.

Mit Anhörungsschreiben vom 8. Juni 2017 hat die Ausländerbehörde des Kreises Herzogtum L angekündigt, die Wohnsitzverpflichtung nicht aufzuheben, da der Lebensunterhalt nicht gesichert sei und eine Vormundschaft der Antragsteller für die drei Kinder in Berlin nicht belegt sei. Auf Nachfrage des Senats hat die Ausländerbehörde mitgeteilt, ihr sei kein Arbeitsvertrag vorgelegt worden. Die Anfrage des Senats vom 15. Juni 2017, ob der Antragsteller zu 1. nunmehr arbeite, wurde nicht beantwortet.

Nach § 36 Abs. 2 SGB II ist für die Leistungen nach dem SGB II der Träger zuständig, in dessen Gebiet die leistungsberechtigte Person nach § 12 a Abs.1 bis 3 des Aufenthaltsgesetzes ihren Wohnsitz zu nehmen hat.

Die Vorschrift, die zum 6. August 2016 in Kraft getreten ist, lässt sich sinnvoll nur im Zusammenhang mit dem ebenfalls am 6. August 2016 in Kraft getretenen § 12 a Aufenthaltsgesetz verstehen und auslegen. Nach § 12 a Abs. 1 Satz 1 Aufenthaltsgesetz ist ein Asylberechtigter, Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter verpflichtet, für den Zeitraum von 3 Jahren ab Anerkennung oder Erteilung der Aufenthaltserlaubnis in dem Land seinen gewöhnlichen Aufenthalt zu nehmen, in das er zur Durchführung des Asylverfahrens zugewiesen worden ist.

Diese Voraussetzungen liegen für die Antragsteller zu 2. – 7. offensichtlich vor, so dass ihr Aufenthaltstitel mit einer entsprechenden Nebenbestimmung versehen wurde. Diese Nebenbestimmung erlaubt den Antragstellern zu ihren Gunsten eine freie Wohnsitzwahl im gesamten Land Schleswig-Holstein. Die den potentiellen Antragsteller im Vergleich dazu wesentlich stärker belastende Verpflichtung, seinen Wohnsitz an einem bestimmten Ort zu nehmen (§ 12 a Abs. 2 Aufenthaltsgesetz), darf erst ergehen, wenn dies zur Versorgung mit angemessenem Wohnraum erforderlich ist und der Förderung seiner nachhaltigen Integration nicht entgegensteht. Eine solche Wohnsitzauflage bezogen auf einen bestimmten Wohnsitz in Schleswig-Holstein ist nicht ergangen. Dies ist den Antragstellern allein günstig.

Damit erstreckt sich das Gebiet, in dem die leistungsberechtigten Antragsteller zu 2. – 7. ihren Aufenthalt zu nehmen haben, auf das Gebiet des gesamten Landes Schleswig-Holstein. Nur dort kann unter Berücksichtigung ihres insoweit begrenzten Freizügigkeitsrechts die Zuständigkeit eines Jobcenters begründet werden. Es ist insoweit weder dargetan noch ersichtlich, dass ein beliebiges Jobcenter in Schleswig-Holstein seiner bestehenden Verpflichtung, den Lebensunterhalt der Antragsteller zu 2. – 7. zu sichern, nicht nachkommen würde.

Danach kommt für die Antragsteller zu 2.- 7. unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt die Zuständigkeit eines Berliner Jobcenters in Betracht.

Der Auffassung des Sozialgerichts, dass diese integrations- und sozialpolitisch einzig sinnvolle Auslegung im Gesetzeswortlaut keinen ausreichenden Niederschlag gefunden hat, ist ausdrücklich entgegen zu treten. Sie führt lediglich dazu, die sinnvolle Regelung des § 12 a Aufenthaltsgesetz, die die Lasten des Flüchtlingsstroms gleichmäßig auf die Bundesländer verteilen will, sozialrechtlich auszuhöhlen und in ihr Gegenteil zu verkehren, ohne dass hierfür ein auch nur einigermaßen plausibler Grund angeführt werden könnte. Die Auslegung des Sozialgerichts bedingt, dass die Adressaten einer Wohnsitzauflage de facto ohne Konsequenzen gegen diese verstoßen und ihren Wohnsitz unter Aufrechterhaltung des Sozialleistungsanspruchs frei wählen können. Dass diese Konsequenz keineswegs gewollt ist, zeigt der Wortlaut der hier einschlägigen Vorschriften deutlich. Denn es hätte einer Norm wie § 36 Abs. 2 SGB II überhaupt nicht bedurft, wenn der Gesetzgeber hätte regeln wollen, dass die Leistungsberechtigten entgegen ihrer Wohnsitzauflage an jedem beliebigen Ort in der Bundesrepublik Leistungen in Anspruch nehmen können. Denn dieser Grundsatz stand und steht in § 36 Abs. 1 Satz 1 SGB II und sollte für den hier betroffenen Personenkreis gerade nicht gelten.

Soweit das Sozialgericht darauf hinweist, dass eine Diskrepanz zwischen der ein ganzes Bundesland betreffenden Wohnsitzauflage und dem örtlichen Zuständigkeitsbereich eines Jobcenters existiert, ist dies zwar an sich richtig, belegt aber nicht die von ihm vertretene Rechtsauffassung. In diesem Zusammenhang verkennt das Sozialgericht, dass es dem Gesetzgeber mit einer großzügigen, nur ein Bundesland und nicht nur einen bestimmten Wohnort betreffenden Auflage um die Erhaltung eines Restes an Freizügigkeit gegangen sein dürfte.

Auch die systematische Analyse des § 36 Abs. 2 SGB II durch das Sozialgericht leidet an demselben Mangel, wenn es behauptet, die positive Zuständigkeitsregelung des § 36 Abs. 2 Satz 1SGB II ginge ins Leere, wenn nicht eine – wesentlich rigidere - Wohnsitzauflage nach § 12 a Abs. 2 und 3 Aufenthaltsgesetz vorliege. Es verkennt schlicht und einfach, dass den Leistungsberechtigten mit einer nur das Bundesland betreffenden Wohnsitzauflage ein größerer Freizügigkeitsspielraum, auch vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, an dem sich eine belastende Wohnsitzauflage auch messen lassen muss, verbleibt. Daraus zu folgern, dass die daran anknüpfende Zuständigkeitsbestimmung der Jobcenter ins Leere ginge, ist für den Senat kaum nachvollziehbar. In diesem Zusammenhang ist es nur klarstellend und keineswegs ein Widerspruch im Regelungsgehalt, wenn klargestellt wird, dass für den Fall, dass dem Ausländer die Auflage erteilt wird, sich an einem bestimmten Ort gerade nicht aufzuhalten, an diesem Ort auch keine Zuständigkeit des Jobcenters begründet werden kann (§ 36 Abs. 2 Satz 2SGB II). Vielmehr belegt auch diese Norm den eindeutigen Zusammenhang zwischen Wohnsitzauflage und zuständigem Jobcenter. Etwas anders gilt hier nur für den Antragsteller zu 1, gegenüber dem keine Wohnsitzauflage erlassen wurde. Der Senat kann hier dahinstehen lassen, warum eine solche nicht ergangen ist, ob die Ausländerbehörde in Schleswig-Holstein § 12 a Aufenthaltsgesetz wegen der früheren Anerkennung als Flüchtling nicht für anwendbar hielt, oder dies schlicht "vergessen" wurde. Da der Antragsteller zu 1. seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Berlin hat, ist der in Anspruch genommene Antragsgegner insoweit auch zuständig. Die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 SGB II liegen im Übrigen vor. Dies hat der Antragsgegner im Schriftsatz vom 6. Juni 2017 auch eingeräumt.

Durch die Vorlage des Arbeitsvertrags im Erörterungstermin ist entgegen der Annahme des Senats im Richterbrief vom 2. Juni 2017 auch keine Änderung dergestalt eingetreten, dass die Wohnsitzauflagen der Familienangehörigen des Antragstellers zu 1. nach § 12 a Abs. 1 Satz 2, Abs. 5 Satz 1 Nr. 1 a Aufenthaltsgesetz entfallen müssten und der Antragsgegner damit ab 1. Juni 2017 zuständig würde. Denn der Arbeitsvertrag ist der zuständigen Ausländerbehörde nicht vorgelegt worden, die Anfrage des Senats nach tatsächlicher Aufnahme der Tätigkeit blieb unbeantwortet. Es kann daher nicht angenommen werde, dass tatsächlich ein Arbeitsvertrag geschlossen wurde.

Ergänzend ist auszuführen, dass auch der Aufenthalt der drei Kinder der verstorbenen Schwester der Antragstellerin zu 2. kein Aufenthaltsrecht in B vermittelt. Denn die Kinder stehen unter Amtsvormundschaft, eine Betreuung durch die Antragstellerin zu 2. ist nicht erforderlich. Dabei kann dahingestellt bleiben, ob eine etwaige Betreuung dann nicht auch in Schleswig-Holstein zu erfolgen hätte.

Nach nochmaliger Prüfung ist der Senat im Hinblick auf die Kosten der Unterkunft (§ 22 SGB II) für den Antragsteller zu 1. entgegen der Hinweise im Richterbrief vom 2. Juni 2017 zu der Auffassung gelangt, dass dieser aus prozessualen Gründen nicht Streitgegenstand ist. Denn zu den Kosten der Unterkunft liegt weder eine behördliche noch eine erstinstanzliche Entscheidung vor. Der Antragsgegner wird daher im Zuge der Bewilligung von Regelleistungen für den Antragsteller zu 1. zu prüfen haben, welche Kosten der Unterkunft zu übernehmen sind.

Nichts anderes ergäbe sich im Ergebnis, wenn der Senat eine Folgenabwägung anstellte. Denn den Antragstellern ist es ohne weiteres zumutbar nach S-H zurückzukehren, um dort Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Zwar hat gerade die Antragstellerin zu 2. im Erörterungstermin ihre Auffassung dargetan, dass die Lebensverhältnisse im Herzogtum L nicht akzeptabel seien, weil es sich um ein ländliches Gebiet ohne ausreichende medizinische Versorgung handele. Der Senat vermag dieser Einschätzung aber nicht zu folgen. Allein der Wunsch der Antragsteller, bevorzugt in einer Großstadt wohnen zu wollen, muss hinter die anerkennenswerten öffentlich-rechtlichen Belange nach gerechter Verteilung der Flüchtlinge auf das gesamte Bundesgebiet zurücktreten.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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