Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
179
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 179 AS 9879/17 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 10 AS 1893/17 B ER
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
§ 6 UnbilligkeitsVO fordert keine Kausalität in dem Sinne, dass allein durch Abschläge auf die Regelaltersrente Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII entsteht. Maßgeblich ist, ob Leistungsberechtigte bei Ausscheiden aus dem SGB II-Bezug nach dem SGB XII anspruchsberechtigt wären. Das Wort „dadurch“ in § 6 Satz 1 UnbilligkeitsVO bezieht sich nicht auf die Hilfebedürftigkeit in Folge der Abschläge auf die Regelaltersrente, sondern auf die Hilfebedürftigkeit nach dem Ausscheiden aus dem SGB II-Bezug.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 14. Juli 2017 gegen die Aufforderung zur Rentenantragstellung vom 13. Juni 2017 wird angeordnet. Der Antragsgegner trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Antragstellerin.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen die Aufforderung, eine vorzeitige Altersrente zu beantragen.
Die 1954 geborene Antragstellerin bezieht Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Antragsgegner. Der vom Antragsgegner berücksichtige – und auch unstreitige – monatliche Bedarf der Antragstellerin nach dem SGB II beträgt derzeit monatlich 974,33 EUR (Bescheid vom 13. Juni 2017).
Laut einer Rentenauskunft der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft Bahn-See vom 16. Januar 2017 besteht für die Antragstellerin die Möglichkeit, ab dem 1. Oktober 2017 eine vorzeitige Altersrente in Anspruch zu nehmen. Die dann verminderte Altersrente würde monatlich 837,97 EUR, die unverminderte Altersrente würde hingegen monatlich 918,43 EUR betragen.
Nach Anhörung der Antragstellerin forderte der Antragsgegner die Antragstellerin mit Bescheid vom 13. Juni 2017 – unter Hinweis auf einen möglichen Rentenbezug ab Oktober 2017 sowie unter Ausübung von Ermessen – auf, eine vorzeitige Altersrente zu beantragen. Zugleich kündigte er an, die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II mit Wirkung zum 1. Oktober 2017 aufzuheben. Hiergegen erhob die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 13. Juli 2017 – beim Antragsgegner am 14. Juli 2017 eingegangen – Widerspruch und vertrat die Auffassung, dass die Aufforderung rechtswidrig sei, da eine vorzeitige Beantragung einer Rente unbillig sei. Über den Widerspruch hat der Antragsgegner bislang nicht entschieden.
Am 28. Juli 2017 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Berlin den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Sie vertritt die Auffassung, dass die Beantragung der vorzeitigen Altersrente nach § 6 der Unbilligkeitsverordnung in der seit 1. Januar 2017 geltenden Fassung (iF. UnbilligkeitsVO) unbillig sei, da der zu erwartende Rentenbetrag den nach dem SGB II maßgeblichen Monatsbedarf nicht erreiche, auch der 70 % -Betrag nach § 6 Satz 2 UnbilligkeitsVO erreiche den Monatsbedarf nach dem SGB II nicht.
Die Antragstellerin beantragt,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 14. Juli 2017 gegen die Aufforderung zur Rentenantragstellung des Antragsgegners vom 13. Juni 2017 anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er ist der Auffassung, dass die Aufforderung rechtmäßig sei, da die Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente nicht unbillig sei. § 6 UnbilligkeitsVO finde keine Anwendung, da die Antragstellerin auch bei Bezug der ungekürzten Altersrente bedürftig sein werde und daher nicht kausal durch die vorzeitige Antragstellung hilfsbedürftig werde. Die Vorschrift greife nicht ein, wenn der Leistungsberechtigte auch bei Inanspruchnahme einer ungekürzten Altersrente im Sinne des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) hilfebedürftig sei, da es insoweit am Schutzbedürfnis fehle. Aus dem Wortlaut des Satz 1 ("dadurch") ergebe sich als Voraussetzung der Unbilligkeit ein Kausalzusammenhang.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, den weiteren Inhalt der Gerichtsakte, sowie die beigezogene Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag der Antragstellerin ist begründet.
Gemäß § 86a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Diese entfällt jedoch nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG, soweit ein Bundesgesetz dies vorschreibt. Eine solche Regelung ist in § 39 Nr. 2 SGB II enthalten. Danach haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, mit dem zur Beantragung einer vorrangigen Leistung aufgefordert wird, keine aufschiebende Wirkung. Mit dem Bescheid vom 13. Juni 2017 hat der Antragsgegner die Antragstellerin zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente aufgefordert, so dass der am 14. Juli 2017 beim Antragsgegner (unter Beachtung der Bekanntgabefristen unstreitig fristgerecht) eingegangene Widerspruch keine aufschiebende Wirkung hat. Das Sozialgericht kann in diesem Fall auf Antrag gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG die aufschiebende Wirkung anordnen.
Das Aussetzungsbegehren der Antragstellerin ist begründet. Im Rahmen der Prüfung der Anordnung der aufschiebenden Wirkung kommt es wesentlich auf die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels an. Ist der angefochtene Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig und der Betroffene dadurch in seinen subjektiven Rechten verletzt, wird die aufschiebende Wirkung angeordnet; ist hingegen das Rechtsmittel aussichtslos, wird die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet. Sind die Erfolgsaussichten nicht in dieser Weise abschätzbar, erfolgt eine allgemeine Interessenabwägung, wobei die Aussichten des Hauptsacheverfahrens mitberücksichtigt werden können (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 12f.). Bei offenem Ausgang sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die begehrte Eilentscheidung nicht erginge, der Widerspruch bzw. die Klage aber später Erfolg hätten, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erlassen würde, dem Rechtsmittel aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. Keller, a.a.O., Rn. 12f.).
In Anwendung dieses Maßstabs überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung. Die Anfechtung des Bescheids vom 13. Juni 2013 hat nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand weit überwiegende Erfolgsaussichten.
Der Bescheid des Antragsgegners (zur Verwaltungsaktqualität vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R – zitiert nach juris) ist nach summarischer Prüfung rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin in ihren Rechten.
Rechtsgrundlage für die angefochtene Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente sind § 12a iVm. § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II (in der seit 1. April 2011 geltenden Fassung aufgrund der Neubekanntmachung vom 13. Mai 2011, BGBl. I, S. 850). Nach § 12a Satz 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. § 5 Abs. 3 SGB II ermächtigt den Antragsgegner, Leistungsberechtigte zur Beantragung einer vorzeitigen Rente aufzufordern, und – sofern diese der Aufforderung nicht nachkommen – selbst den Antrag zu stellen.
Nach § 12a SGB II Satz 2 Nr. 1 SGB II sind Leistungsberechtigte nicht verpflichtet, bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen. Diese Vorschrift ist nicht verletzt, da sich nach Auslegung der Aufforderung vom 13. Juni 2017 auch für die Antragstellerin ersichtlich ergibt, dass sie nur zur Beantragung einer Rente für die Zeit nach Vollendung des 63. Lebensjahres aufgefordert worden ist.
Mit dem Bezug der Altersrente könnte die Antragstellerin zwar ab Oktober 2017 ihre Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II beseitigen, da sie aus dem Leistungssystem des SGB II ausscheiden würde, unabhängig davon, dass sie nach § 19 Abs. 1, § 27 Abs. 1 SGB XII ergänzend Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII beanspruchen könnte (hierzu BSG, Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R –, zitiert nach juris).
Die Beantragung einer vorzeitigen Altersrente ist für die Antragstellerin jedoch unbillig. Nach der auf § 13 Abs. 2 SGB II beruhenden UnbilligkeitsVO in der bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Fassung war eine Betrachtung der Höhe des Leistungsanspruchs nach dem SGB II oder SGB XII und der Höhe der vorrangigen Sozialleistung nicht geeignet, eine Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme einer Rente aufgrund außergewöhnlicher Umstände zu begründen, weil § 12a Satz 1 SGB II schon eine Verminderung der Hilfebedürftigkeit für die Verpflichtung zur Inanspruchnahme genügen lässt und das Nachrangprinzip auch im SGB XII gilt (§ 2 SGB XII – dazu BSG, Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R –, Rn. 41 zitiert nach juris).
Der Verpflichtung der Antragstellerin zur Rentenantragstellung und Inanspruchnahme der Rente steht jedoch nunmehr die UnbilligkeitsVO in der seit 1. Januar 2017 geltenden Fassung entgegen. Mit der Neufassung der UnbilligkeitsVO und Einfügung des § 6 hat sich die Rechtslage geändert.
§ 6 UnbilligkeitsVO hat folgenden Wortlaut:
"Unbillig ist die Inanspruchnahme, wenn Leistungsberechtigte dadurch hilfebedürftig im Sinne der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch werden würden. Dies ist insbesondere anzunehmen, wenn der Betrag in Höhe von 70 Prozent der bei Erreichen der Altersgrenze (§ 7a des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch) zu erwartenden monatlichen Regelaltersrente niedriger ist als der zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Unbilligkeit maßgebende Bedarf der leistungsberechtigten Person nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch."
Durch die Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente würde die Antragstellerin hilfebedürftig im Sinne des Vierten Kapitels des SGB XII. Bereits der Betrag der voraussichtlichen ungekürzten monatlichen Regelaltersrente der Antragstellerin wäre niedriger als der zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Unbilligkeit maßgebende Bedarf der Antragstellerin. Sie wäre daher bei Bezug einer vorzeitigen und daher gekürzten Altersrente – was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist – nach dem SGB XII hilfebedürftig.
Entgegen der Auffassung des Antragsgegners setzt § 6 UnbilligkeitsVO keine Kausalität zwischen der vorzeitigen Inanspruchnahme und der späteren Hilfebedürftigkeit in dem Sinne voraus, dass allein durch die Abschläge auf die Altersrente bei vorzeitiger Beantragung Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII entsteht. Maßgeblich ist vielmehr, ob Leistungsberechtigte bei Ausscheiden aus dem Leistungsbezug nach dem SGB II überhaupt nach dem SGB XII anspruchsberechtigt wären. Das Wort "dadurch" in § 6 Satz 1 UnbilligkeitsVO bezieht sich nicht auf die Hilfebedürftigkeit in Folge der Abschläge auf die Regelaltersrente, sondern auf die Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII in Folge des Ausscheidens aus dem SGB II-Bezug.
Dies ergibt sich zum einen aus § 6 Satz 2 UnbilligkeitVO, der anderenfalls keinen Anwendungsbereich hätte. Dies ergibt sich zum anderen aus der Entstehungsgeschichte und der Verordnungsbegründung.
Mit der Neufassung der UnbilligkeitsVO reagierte der Verordnungsgeber auf die als streng empfundene Rechtsprechung des BSG im Urteil vom 19. August 2015 und bestimmte für alle Fälle einer Hilfebedürftigkeit nach einem vorzeitigen Leistungssystemwechsel eine Unbilligkeit. Zum einen erfasste er den Fall, dass nur durch die Abschläge bei vorzeitiger Beantragung Hilfebedürftigkeit eintritt, zum anderen berücksichtigte er den Fall, dass unabhängig von der Höhe der Altersrente ein Leistungsanspruch nach dem SGB XII entsteht.
In der Verordnungsbegründung (Entwurfsfassung vom 19. September 2016, vgl. http://www.bmas.de/DE/Service/Gesetze/unbilligkeitsverordnung.html,Seite 3) führt er zum ersten Anwendungsfall aus:
"Die Verpflichtung zur vorzeitigen Inanspruchnahme einer Altersrente hat sich aus zwei Gründen als ungünstig erwiesen. Zum einen kann eine Unbilligkeit darin begründet sein, in der Zeit zwischen der Vollendung des 63. Lebensjahres und der Regelaltersgrenze hilfebedürftig zu sein, deshalb eine vorgezogene Altersrente beantragen zu müssen und in der Folge durch die wegen der vorzeitigen Inanspruchnahme entstehenden Abschläge nach Erreichen der Regelaltersgrenze bis zum Lebensende hilfebedürftig zu bleiben. Zum anderen entsteht dadurch ein erhebliches Maß an unnötiger Bürokratie, weil die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im Nachgang bis zum Lebensende jährlich neu beantragt werden müssen."
Zum hier maßgeblichen Anwendungsfall führt der Verordnungsgeber aus (ebenso Seite 3):
"Unnötige Bürokratie ergibt sich aber auch dann, wenn die Altersrente bereits ohne Abschläge nicht zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit ausreicht. In diesem Fall erfolgt durch die Inanspruchnahme lediglich ein (früherer) Wechsel der Leistungsträger, ohne dass die Hilfebedürftigkeit überwunden wird. Die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende müssen zur Antragstellung auffordern, die tatsächliche Antragstellung überwachen und ggf. selbst einen Antrag stellen.
Die Arbeitsgruppe "Flexible Übergänge vom Erwerbsleben in den Ruhestand" der Fraktionen von CDU/CSU und SPD im Deutschen Bundestag hat deshalb im Rahmen ihres Abschlussberichtes vorgeschlagen, die Pflicht zur Inanspruchnahme vorzeitiger Altersrenten durch Einführung eines zusätzlichen Unbilligkeitsgrundes in der Unbilligkeitsverordnung zu entschärfen. Mit dieser Änderungsverordnung wird der Vorschlag umgesetzt."
Der Verordnungsgeber wollte mit der Neufassung offensichtlich einen bloßen Wechsel der Sicherungssysteme bei weiterbestehender Hilfebedürftigkeit vermeiden. Ob damit tatsächlich unnötige Verwaltungsarbeit vermieden werden kann, kann dahinstehen.
Damit verbleiben die Leistungsberechtigten nach dem SGB II, deren Regelaltersrente nicht zur Beseitigung der Hilfebedürftigkeit ausreicht, bis zum Erreichen der Regelrentenalters (bei fortbestehender Hilfsbedürftigkeit) im Leistungsbezug nach dem SGB II. Ein bloßer Wechsel der Existenzsicherungssysteme soll nach § 6 UnbilligikeitsVO vermieden werden.
Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 Abs. 1 SGG und berücksichtigt das Unterliegen des Antragsgegners.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin wendet sich gegen die Aufforderung, eine vorzeitige Altersrente zu beantragen.
Die 1954 geborene Antragstellerin bezieht Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom Antragsgegner. Der vom Antragsgegner berücksichtige – und auch unstreitige – monatliche Bedarf der Antragstellerin nach dem SGB II beträgt derzeit monatlich 974,33 EUR (Bescheid vom 13. Juni 2017).
Laut einer Rentenauskunft der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft Bahn-See vom 16. Januar 2017 besteht für die Antragstellerin die Möglichkeit, ab dem 1. Oktober 2017 eine vorzeitige Altersrente in Anspruch zu nehmen. Die dann verminderte Altersrente würde monatlich 837,97 EUR, die unverminderte Altersrente würde hingegen monatlich 918,43 EUR betragen.
Nach Anhörung der Antragstellerin forderte der Antragsgegner die Antragstellerin mit Bescheid vom 13. Juni 2017 – unter Hinweis auf einen möglichen Rentenbezug ab Oktober 2017 sowie unter Ausübung von Ermessen – auf, eine vorzeitige Altersrente zu beantragen. Zugleich kündigte er an, die Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II mit Wirkung zum 1. Oktober 2017 aufzuheben. Hiergegen erhob die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 13. Juli 2017 – beim Antragsgegner am 14. Juli 2017 eingegangen – Widerspruch und vertrat die Auffassung, dass die Aufforderung rechtswidrig sei, da eine vorzeitige Beantragung einer Rente unbillig sei. Über den Widerspruch hat der Antragsgegner bislang nicht entschieden.
Am 28. Juli 2017 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Berlin den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Sie vertritt die Auffassung, dass die Beantragung der vorzeitigen Altersrente nach § 6 der Unbilligkeitsverordnung in der seit 1. Januar 2017 geltenden Fassung (iF. UnbilligkeitsVO) unbillig sei, da der zu erwartende Rentenbetrag den nach dem SGB II maßgeblichen Monatsbedarf nicht erreiche, auch der 70 % -Betrag nach § 6 Satz 2 UnbilligkeitsVO erreiche den Monatsbedarf nach dem SGB II nicht.
Die Antragstellerin beantragt,
die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 14. Juli 2017 gegen die Aufforderung zur Rentenantragstellung des Antragsgegners vom 13. Juni 2017 anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Er ist der Auffassung, dass die Aufforderung rechtmäßig sei, da die Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente nicht unbillig sei. § 6 UnbilligkeitsVO finde keine Anwendung, da die Antragstellerin auch bei Bezug der ungekürzten Altersrente bedürftig sein werde und daher nicht kausal durch die vorzeitige Antragstellung hilfsbedürftig werde. Die Vorschrift greife nicht ein, wenn der Leistungsberechtigte auch bei Inanspruchnahme einer ungekürzten Altersrente im Sinne des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) hilfebedürftig sei, da es insoweit am Schutzbedürfnis fehle. Aus dem Wortlaut des Satz 1 ("dadurch") ergebe sich als Voraussetzung der Unbilligkeit ein Kausalzusammenhang.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze, den weiteren Inhalt der Gerichtsakte, sowie die beigezogene Verwaltungsakte des Antragsgegners Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag der Antragstellerin ist begründet.
Gemäß § 86a Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) haben Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung. Diese entfällt jedoch nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG, soweit ein Bundesgesetz dies vorschreibt. Eine solche Regelung ist in § 39 Nr. 2 SGB II enthalten. Danach haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, mit dem zur Beantragung einer vorrangigen Leistung aufgefordert wird, keine aufschiebende Wirkung. Mit dem Bescheid vom 13. Juni 2017 hat der Antragsgegner die Antragstellerin zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente aufgefordert, so dass der am 14. Juli 2017 beim Antragsgegner (unter Beachtung der Bekanntgabefristen unstreitig fristgerecht) eingegangene Widerspruch keine aufschiebende Wirkung hat. Das Sozialgericht kann in diesem Fall auf Antrag gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG die aufschiebende Wirkung anordnen.
Das Aussetzungsbegehren der Antragstellerin ist begründet. Im Rahmen der Prüfung der Anordnung der aufschiebenden Wirkung kommt es wesentlich auf die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels an. Ist der angefochtene Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig und der Betroffene dadurch in seinen subjektiven Rechten verletzt, wird die aufschiebende Wirkung angeordnet; ist hingegen das Rechtsmittel aussichtslos, wird die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet. Sind die Erfolgsaussichten nicht in dieser Weise abschätzbar, erfolgt eine allgemeine Interessenabwägung, wobei die Aussichten des Hauptsacheverfahrens mitberücksichtigt werden können (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 12f.). Bei offenem Ausgang sind die Folgen, die eintreten würden, wenn die begehrte Eilentscheidung nicht erginge, der Widerspruch bzw. die Klage aber später Erfolg hätten, gegenüber den Nachteilen abzuwägen, die entstünden, wenn die begehrte Eilentscheidung erlassen würde, dem Rechtsmittel aber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. Keller, a.a.O., Rn. 12f.).
In Anwendung dieses Maßstabs überwiegt das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung. Die Anfechtung des Bescheids vom 13. Juni 2013 hat nach dem gegenwärtigen Sach- und Streitstand weit überwiegende Erfolgsaussichten.
Der Bescheid des Antragsgegners (zur Verwaltungsaktqualität vgl. Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R – zitiert nach juris) ist nach summarischer Prüfung rechtswidrig und verletzt die Antragstellerin in ihren Rechten.
Rechtsgrundlage für die angefochtene Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente sind § 12a iVm. § 5 Abs. 3 Satz 1 SGB II (in der seit 1. April 2011 geltenden Fassung aufgrund der Neubekanntmachung vom 13. Mai 2011, BGBl. I, S. 850). Nach § 12a Satz 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist. § 5 Abs. 3 SGB II ermächtigt den Antragsgegner, Leistungsberechtigte zur Beantragung einer vorzeitigen Rente aufzufordern, und – sofern diese der Aufforderung nicht nachkommen – selbst den Antrag zu stellen.
Nach § 12a SGB II Satz 2 Nr. 1 SGB II sind Leistungsberechtigte nicht verpflichtet, bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen. Diese Vorschrift ist nicht verletzt, da sich nach Auslegung der Aufforderung vom 13. Juni 2017 auch für die Antragstellerin ersichtlich ergibt, dass sie nur zur Beantragung einer Rente für die Zeit nach Vollendung des 63. Lebensjahres aufgefordert worden ist.
Mit dem Bezug der Altersrente könnte die Antragstellerin zwar ab Oktober 2017 ihre Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II beseitigen, da sie aus dem Leistungssystem des SGB II ausscheiden würde, unabhängig davon, dass sie nach § 19 Abs. 1, § 27 Abs. 1 SGB XII ergänzend Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII beanspruchen könnte (hierzu BSG, Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R –, zitiert nach juris).
Die Beantragung einer vorzeitigen Altersrente ist für die Antragstellerin jedoch unbillig. Nach der auf § 13 Abs. 2 SGB II beruhenden UnbilligkeitsVO in der bis zum 31. Dezember 2016 geltenden Fassung war eine Betrachtung der Höhe des Leistungsanspruchs nach dem SGB II oder SGB XII und der Höhe der vorrangigen Sozialleistung nicht geeignet, eine Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme einer Rente aufgrund außergewöhnlicher Umstände zu begründen, weil § 12a Satz 1 SGB II schon eine Verminderung der Hilfebedürftigkeit für die Verpflichtung zur Inanspruchnahme genügen lässt und das Nachrangprinzip auch im SGB XII gilt (§ 2 SGB XII – dazu BSG, Urteil vom 19. August 2015 – B 14 AS 1/15 R –, Rn. 41 zitiert nach juris).
Der Verpflichtung der Antragstellerin zur Rentenantragstellung und Inanspruchnahme der Rente steht jedoch nunmehr die UnbilligkeitsVO in der seit 1. Januar 2017 geltenden Fassung entgegen. Mit der Neufassung der UnbilligkeitsVO und Einfügung des § 6 hat sich die Rechtslage geändert.
§ 6 UnbilligkeitsVO hat folgenden Wortlaut:
"Unbillig ist die Inanspruchnahme, wenn Leistungsberechtigte dadurch hilfebedürftig im Sinne der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch werden würden. Dies ist insbesondere anzunehmen, wenn der Betrag in Höhe von 70 Prozent der bei Erreichen der Altersgrenze (§ 7a des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch) zu erwartenden monatlichen Regelaltersrente niedriger ist als der zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Unbilligkeit maßgebende Bedarf der leistungsberechtigten Person nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch."
Durch die Inanspruchnahme der vorzeitigen Altersrente würde die Antragstellerin hilfebedürftig im Sinne des Vierten Kapitels des SGB XII. Bereits der Betrag der voraussichtlichen ungekürzten monatlichen Regelaltersrente der Antragstellerin wäre niedriger als der zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Unbilligkeit maßgebende Bedarf der Antragstellerin. Sie wäre daher bei Bezug einer vorzeitigen und daher gekürzten Altersrente – was zwischen den Beteiligten auch unstreitig ist – nach dem SGB XII hilfebedürftig.
Entgegen der Auffassung des Antragsgegners setzt § 6 UnbilligkeitsVO keine Kausalität zwischen der vorzeitigen Inanspruchnahme und der späteren Hilfebedürftigkeit in dem Sinne voraus, dass allein durch die Abschläge auf die Altersrente bei vorzeitiger Beantragung Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII entsteht. Maßgeblich ist vielmehr, ob Leistungsberechtigte bei Ausscheiden aus dem Leistungsbezug nach dem SGB II überhaupt nach dem SGB XII anspruchsberechtigt wären. Das Wort "dadurch" in § 6 Satz 1 UnbilligkeitsVO bezieht sich nicht auf die Hilfebedürftigkeit in Folge der Abschläge auf die Regelaltersrente, sondern auf die Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII in Folge des Ausscheidens aus dem SGB II-Bezug.
Dies ergibt sich zum einen aus § 6 Satz 2 UnbilligkeitVO, der anderenfalls keinen Anwendungsbereich hätte. Dies ergibt sich zum anderen aus der Entstehungsgeschichte und der Verordnungsbegründung.
Mit der Neufassung der UnbilligkeitsVO reagierte der Verordnungsgeber auf die als streng empfundene Rechtsprechung des BSG im Urteil vom 19. August 2015 und bestimmte für alle Fälle einer Hilfebedürftigkeit nach einem vorzeitigen Leistungssystemwechsel eine Unbilligkeit. Zum einen erfasste er den Fall, dass nur durch die Abschläge bei vorzeitiger Beantragung Hilfebedürftigkeit eintritt, zum anderen berücksichtigte er den Fall, dass unabhängig von der Höhe der Altersrente ein Leistungsanspruch nach dem SGB XII entsteht.
In der Verordnungsbegründung (Entwurfsfassung vom 19. September 2016, vgl. http://www.bmas.de/DE/Service/Gesetze/unbilligkeitsverordnung.html,Seite 3) führt er zum ersten Anwendungsfall aus:
"Die Verpflichtung zur vorzeitigen Inanspruchnahme einer Altersrente hat sich aus zwei Gründen als ungünstig erwiesen. Zum einen kann eine Unbilligkeit darin begründet sein, in der Zeit zwischen der Vollendung des 63. Lebensjahres und der Regelaltersgrenze hilfebedürftig zu sein, deshalb eine vorgezogene Altersrente beantragen zu müssen und in der Folge durch die wegen der vorzeitigen Inanspruchnahme entstehenden Abschläge nach Erreichen der Regelaltersgrenze bis zum Lebensende hilfebedürftig zu bleiben. Zum anderen entsteht dadurch ein erhebliches Maß an unnötiger Bürokratie, weil die Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im Nachgang bis zum Lebensende jährlich neu beantragt werden müssen."
Zum hier maßgeblichen Anwendungsfall führt der Verordnungsgeber aus (ebenso Seite 3):
"Unnötige Bürokratie ergibt sich aber auch dann, wenn die Altersrente bereits ohne Abschläge nicht zur Überwindung der Hilfebedürftigkeit ausreicht. In diesem Fall erfolgt durch die Inanspruchnahme lediglich ein (früherer) Wechsel der Leistungsträger, ohne dass die Hilfebedürftigkeit überwunden wird. Die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende müssen zur Antragstellung auffordern, die tatsächliche Antragstellung überwachen und ggf. selbst einen Antrag stellen.
Die Arbeitsgruppe "Flexible Übergänge vom Erwerbsleben in den Ruhestand" der Fraktionen von CDU/CSU und SPD im Deutschen Bundestag hat deshalb im Rahmen ihres Abschlussberichtes vorgeschlagen, die Pflicht zur Inanspruchnahme vorzeitiger Altersrenten durch Einführung eines zusätzlichen Unbilligkeitsgrundes in der Unbilligkeitsverordnung zu entschärfen. Mit dieser Änderungsverordnung wird der Vorschlag umgesetzt."
Der Verordnungsgeber wollte mit der Neufassung offensichtlich einen bloßen Wechsel der Sicherungssysteme bei weiterbestehender Hilfebedürftigkeit vermeiden. Ob damit tatsächlich unnötige Verwaltungsarbeit vermieden werden kann, kann dahinstehen.
Damit verbleiben die Leistungsberechtigten nach dem SGB II, deren Regelaltersrente nicht zur Beseitigung der Hilfebedürftigkeit ausreicht, bis zum Erreichen der Regelrentenalters (bei fortbestehender Hilfsbedürftigkeit) im Leistungsbezug nach dem SGB II. Ein bloßer Wechsel der Existenzsicherungssysteme soll nach § 6 UnbilligikeitsVO vermieden werden.
Die Kostenentscheidung ergeht entsprechend § 193 Abs. 1 SGG und berücksichtigt das Unterliegen des Antragsgegners.
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