S 8 SO 143/17

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
SG Augsburg (FSB)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
8
1. Instanz
SG Augsburg (FSB)
Aktenzeichen
S 8 SO 143/17
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 8 SO 43/18
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Auch bei Personen im Eingangs- bzw. Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen kann eine volle Erwerbsminderung auf Dauer unterstellt werden.
I. Der Bescheid des Beklagten vom 28. Juli 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. September 2017 wird aufgehoben und der Beklagte wird dem Grunde nach verpflichtet, der Klägerin von August 2017 bis Juli 2018 Grundsicherung bei Erwerbsminderung zu bewilligen.
II. Es wird eine vorläufige monatliche Zahlung des Beklagten an die Klägerin in Höhe von 500 EUR von August 2017 bis Juli 2018 angeordnet.
III. Der Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten; im Übrigen erfolgt keine Kostenerstattung.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für die Monate August 2017 bis Juli 2018.

Die 1997 geborene Klägerin hat einen Grad der Behinderung von 100 mit den Merkzeichen "G", "B", "H" und "aG" und war zunächst in Pflegestufe II und ist inzwischen in Pflegegrad 4 eingestuft. Sie lebt in einem Haus mit ihren Eltern und bezog vom Beklagten ab August 2015 Grundsicherung bei Erwerbsminderung von zuletzt 796,71 EUR pro Monat. Seit 1. September 2017 besucht die Klägerin den Eingangs- bzw. Berufsbildungsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM).

Nach Anhörung der Klägerin stellte der Beklagte mit Bescheid vom 28. Juli 2017 die Grundsicherung ab August 2017 ein. Es stehe nicht fest, dass die Klägerin dauerhaft voll erwerbsgemindert sei. Dies sei bisher nicht durch den Rentenversicherungsträger festgestellt worden. Andere Kriterien für eine derartige Annahme würden nicht mehr anerkannt. Daher bestehe kein Anspruch mehr auf diese Leistung.

Der Widerspruch wurde damit begründet, dass eine volle und dauerhafte Erwerbsminderung der Klägerin liege eindeutig vor. Die Prüfung durch den Rentenversicherungsträger müsse schnellstmöglich in die Wege geleitet werden.

Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 22. September 2017 zurückgewiesen. Solange nicht feststehe, dass die Klägerin dauerhaft voll erwerbsgemindert sei, bestehe kein Anspruch auf Grundsicherung bei Erwerbsminderung. Nach den seit Juli 2017 geltenden Verfahrensregelungen unterbleibe ein Ersuchen an den Rentenversicherungsträger. Bereits bislang sei angenommen worden, dass lediglich eine aufwändige Prüfung für in einer WfbM Beschäftigte vermieden werden solle. Aus der Neuregelung ergebe sich nichts anderes. Der Gesetzgeber stelle lediglich klar, dass kein Ersuchen an den Rentenversicherungsträger erfolge, weil die Dauerhaftigkeit der vollen Erwerbsminderung erst nach Beendigung des Berufsbildungsbereichs festgestellt werden könne. Bei der Klägerin sei bislang noch keine gutachterliche Feststellung zur Dauerhaftigkeit einer vollen Erwerbsminderung vorgenommen worden. Damit erfülle sie nicht die Voraussetzungen für die Gewährung von Grundsicherung. Soweit diese bisher gewährt worden sei, sei dies ohne Rechtsgrundlage und damit unrechtmäßig erfolgt. Die Klägerin sei vielmehr als Mitglied einer Bedarfsgemeinschaft aus ihr und ihren Eltern dem grundsätzlich anspruchsberechtigten Personenkreis der Grundsicherung für Arbeitssuchende zuzuordnen. Demzufolge habe sie auch keinen Anspruch auf Hilfe zum Lebensunterhalt gegen den Sozialhilfeträger.

Dagegen ist für die Klägerin durch ihre Eltern und Betreuer am 16. Oktober 2017 Klage zum Sozialgericht Augsburg erhoben worden. Die Prozessbevollmächtigten haben später argumentiert, auch nach der neuen Rechtslage sei davon auszugehen, dass bei der Klägerin eine volle und dauerhafte Erwerbsminderung gegeben sei. Zwar sei es nicht zu beanstanden, wenn der Eingangs- und Berufsbildungsbereich noch als ergebnisoffen angesehen werde. Dennoch dürften den Betroffenen nicht die Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung verwehrt werden. Es sei so, dass nur solche behinderten Menschen in den Eingangs- und Berufsbildungsbereich gelangten, bei denen bereits offensichtlich sei, dass eine Übernahme in den ersten Arbeitsmarkt nicht infrage komme. In erster Linie werde daher festgestellt, ob für den betroffenen Menschen eine Unterbringung in der WfbM überhaupt möglich sei. Der Fachausschuss stelle daher in der Mehrzahl der Fälle nicht das Vorliegen von Erwerbsfähigkeit fest. Die Betroffenen seien vor einer endgültigen Aufnahme in die WfbM von einem Anspruch auf Grundsicherung ausgeschlossen. Es wäre dann untersagt, eine Einzelfallentscheidung herbeizuführen, selbst wenn absehbar wäre, dass eine Tätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt offensichtlich nicht infrage kommt. Systematisch wäre dies ebenfalls widersprüchlich, weil für die anderen Fallgruppen ebenfalls vorgesehen sei, dass das Vorliegen einer dauerhaften vollen Erwerbsminderung feststeht. Die sich daraus ergebende Ungleichbehandlung wäre sachlich nicht begründet, weil keine Unterscheidung der Personen im Arbeitsbereich und im Berufsbildungsbereich gerechtfertigt sei. Auch würden Personen, bei denen bereits vor Eintritt in die WfbM eine dauerhafte volle Erwerbsminderung festgestellt wurde, besser behandelt. Die Klägerin sei aber voll und dauerhaft erwerbsgemindert. Das werde sich nach Durchlaufen des Eingangs- und Berufsbildungsbereichs nicht verbessern.

Der Beklagte hat erwidert, nach den früher geltenden bayerischen Sozialhilferichtlinien habe bei Pflegestufe II ohne Einschaltung des Rentenversicherungsträgers eine dauerhafte volle Erwerbsminderung unterstellt werden dürfen. Diese Praxis sei nicht mehr möglich. Nach den Weisungen des zuständigen Bundesministeriums für Arbeit und Soziales führe die Neuregelung zu keinen Abweichungen gegenüber dem bisherigen Rechtsstand, sondern bedeute eine Klarstellung der seit Einführung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung vertretenen Rechtsauffassung. Folge sei deshalb nicht, dass Menschen mit Behinderung im Eingangsverfahren und im Berufsbildungsbereich als leistungsberechtigt nach dem Grundsicherungsrecht gelten würden. Denn durch ein Ersuchen an den Rentenversicherungsträger solle nicht der Entscheidung des Werkstattausschusses vorgegriffen werden. Zudem handle es sich um eine verfahrensrechtliche Regelung, die nicht den leistungsberechtigten Personenkreis bestimme. In der Phase des Eingangs- und Berufsbildungsbereichs stehe zwar fest, dass die Menschen mit Behinderung voll erwerbsgemindert seien, die gesonderte Stellungnahme des Fachausschusses stehe aber noch aus. Die Aufgabe dieser Phase einer WfbM liege ja auch darin, die Möglichkeiten für die Ausübung einer Erwerbstätigkeit zu fördern. Daher sei eine vorzeitige Begutachtung durch den Rentenversicherungsträger nicht angezeigt, sondern die Stellungnahme des Fachausschusses sei ein gegenüber dem Ersuchen vorrangiges Instrument. Systematische Gründe sprächen nicht gegen diese Rechtsauslegung. Aufgrund rentenrechtlicher Regelung gälten alle in einer WfbM tätigen, behinderten Personen als voll erwerbsgemindert und hätten - wenngleich teilweise befristet - Anspruch auf eine volle Erwerbsminderungsrente. Deshalb sei es konsequent, ein Ersuchen an den Rentenversicherungsträger zu vermeiden. Der Eingangs- und Berufsbildungsbereich werde ergebnisoffen durchlaufen. Daran habe der Bundesgesetzgeber festhalten wollen.

Mit Beschluss vom 8. Januar 2018 ist das zuständige Jobcenter beigeladen worden.

Für die Klägerin wird beantragt:

Der Bescheid des Beklagten vom 28. Juli 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. September 2017 wird aufgehoben und der Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin für den Zeitraum August 2017 bis Juli 2018 Grundsicherung bei Erwerbsminderung zu bewilligen.

Für den Beklagten wird beantragt,

die Klage abzuweisen.

Für den Beigeladenen ist kein Antrag gestellt worden.

Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten sowie die Niederschrift Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht entscheidet trotz Ausbleibens eines Vertreters für das beigeladene Jobcenter in der mündlichen Verhandlung. Es ist auf diese Möglichkeit hingewiesen worden, § 110 Abs. 1, § 126 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), und die Sache war auch ohne Anwesenheit des Beigeladenen entscheidungsreif. Eine Verhinderung ist zudem nicht geltend gemacht und keine Terminsänderung beantragt worden.

Die Klage ist als Verpflichtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) zulässig. Eine reine Anfechtung würde vorliegend nicht genügen, um das klägerische Ziel zu erreichen, über den Juli 2017 hinaus Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung vom Beklagten zu erhalten. Denn die vorausgehende Leistungsbewilligung war nicht zeitlich unbegrenzt, sondern befristet bis einschließlich Juli 2017. Für den nachfolgenden, streitgegenständlichen Zeitraum war damit bisher keine Regelung getroffen worden.

Die Klage hat in der Sache im Sinn der Verurteilung des Beklagten dem Grunde nach Erfolg.

Die Klägerin hat auch ab August 2017 gegen den Beklagten Anspruch auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Der dem entgegenstehende Bescheid des Beklagten vom 28. Juli 2017 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. September 2017 ist daher rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

Die Klägerin hat gemäß § 8 Nr. 2, § 17 Abs. 1, § 19 Abs. 2, §§ 41 ff. des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch - Sozialhilfe - (SGB XII) Anspruch gegen den Beklagten auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Die Klägerin ist voll erwerbsgemindert gemäß § 43 Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch - Gesetzliche Rentenversicherung - (SGB VI), da der bei ihr festgestellte Grad der Behinderung von 100 und der Pflegegrad 4 sowie die Tätigkeit in der WfbM dafür sprechen, dass sie nicht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein kann. Des Weiteren hat die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet des Beklagten, ist älter als 18 Jahre und kann ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht aus eigenem Einkommen und Vermögen decken. Der Beklagte ist außerdem zuständig für die Leistungserbringung nach § 97 Abs. 1, § 98 Abs. 2 SGB XII, Art. 81 ff. des Gesetzes zur Ausführung der Sozialgesetze (AGSG).

Die Klägerin ist zudem als auf Dauer voll erwerbsgemindert anzusehen im Sinn von § 41 Abs. 3 SGB XII. Das folgt zwar noch nicht aus dem Umstand, dass die Klägerin bereits seit September 2015 Grundsicherung bei Erwerbsminderung vom Beklagten erhalten hat. Allerdings ergibt sich dies unter Anwendung von § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII. Die Vorschrift des § 45 SGB XII - in der Fassung des Gesetzes vom 22. Dezember 2016 (BGBl. I, S. 3159), gültig seit 1. Juli 2017 - schränkt mit ihrem Satz 1 zunächst abweichend von § 20 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) die Amtsermittlung des Sozialhilfeträgers dahin ein, dass dieser das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen des § 41 Abs. 3 SGB XII nicht selbst in freier Amtsermittlung prüft, sondern den zuständigen Rentenversicherungsträger um Prüfung zu ersuchen hat. Das gilt aber nur, wenn der Sozialhilfeträger in einem ersten Schritt, quasi einer Vorprüfung, es für wahrscheinlich hält, dass die betreffende Person - neben ihrer Bedürftigkeit - die medizinischen Voraussetzungen erfüllt, also voll und dauerhaft erwerbsgemindert ist. Hält der Sozialhilfeträger dies nicht für wahrscheinlich, findet § 45 SGB XII schon keine Anwendung (vgl. Juris-PK, SGB XII, § 45 Rz. 25 ff.; Hauck/Noftz, SGB XII, § 45 Rz. 8 ff. und 27 ff.). Greift demnach § 45 SGB XII ein, hat der Sozialhilfeträger den Rentenversicherungsträger um die Prüfung der medizinischen Voraussetzungen mit bindender Wirkung zu ersuchen, es sei denn, es greift einer der Fälle des § 45 Satz 3 SGB XII.

Dabei ist auch bei dem hier im Raum stehenden § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII in seiner ersten Alternative, also bezüglich Personen im Eingangs- oder Berufsbildungsbereich einer WfbM, nicht nur ein Ersuchen an den Rentenversicherungsträger entbehrlich, sondern ebenso wie bei den anderen Fallgruppen des § 45 Satz 3 SGB XII von einer vollen Erwerbsminderung auf Dauer auszugehen.

Die vom Beklagten angewandte Rechtsauslegung, die nicht von einer vollen Erwerbsminderung auf Dauer ausgeht, ist zwar zuzugeben, dass sie mit dem Wortlaut der neuen Nummer 3 des § 45 Satz 3 SGB XII in Einklang zu bringen ist. Ebenso steht ihr die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/9984) nicht zwingend entgegen. Dort ist die Rede davon, dass die Dauerhaftigkeit einer Erwerbsminderung erst nach Beendigung des Berufsbildungsbereichs festgestellt werden könne und deswegen kein Ersuchen auf gutachterliche Feststellung der Dauerhaftigkeit einer vollen Erwerbsminderung erfolge. Allerdings ergibt sich nach Ansicht des Gerichts aus der Gesetzesbegründung nicht der vom Beklagten bzw. dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales gezogene Schluss, dass in dieser Phase des Aufenthalts in einer WfbM gerade bzw. noch nicht von der Dauerhaftigkeit der vollen Erwerbsminderung auszugehen sei. Alleine deutlich zu sehen ist, dass der Gesetzgeber die Amtsermittlungspflicht des Sozialhilfeträgers dahin einschränken wollte, dass dieser sich nicht an den Rentenversicherungsträger zu wenden hat. Mit anderen Worten können also aus der Begründung der Neuregelung und aus ihrem Wortlaut keine zwingenden Schlüsse für die eine oder andere Ansicht gezogen werden. Beides wäre damit vereinbar.

Betrachtet man weiter den Kontext der Vorschrift, spricht dieser nach Meinung des Gerichts dafür, dass das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen des § 41 Abs. 3 SGB XII unterstellt wird. Bei anderen Fallgruppen des § 45 Satz 3 SGB XII einschließlich der zweiten Alternative der Nummer 3 ist nämlich klar, dass von einer vollen Erwerbsminderung auf Dauer auszugehen ist, ohne dass eine gutachterliche Feststellung erfolgt. In dieser Systematik würde die vom Beklagten vertretene Auslegung des § 45 Satz 3 Nr. 3 Alternative 1 SGB XII einen Fremdkörper darstellen, der so ohne Weiteres nicht erkennbar ist. Es hätte folglich für den Gesetzgeber zumindest naheliegen können, den Unterschied in der Konsequenz deutlicher herauszustellen oder separat zu regeln. Dass dies nicht geschehen ist, deutet das Gericht als Beleg dafür, dass eben keine andere Konsequenz hinsichtlich der Frage der Dauerhaftigkeit gezogen werden soll, sondern diese unterstellt wird. Andernorts wird aus § 45 Satz 3 SGB XII der Schluss gezogen, dass damit für jede Phase des Besuchs der WfbM die Voraussetzungen des § 41 Abs. 3 SGB XII gelockert werden sollten (Hauck/Noftz, SGB XII, § 45 Rz. 36). Auch dies korrespondiert mit der vom Gericht angenommenen Rechtsauslegung.

Für diese ist außerdem anzuführen, dass die - nicht zuletzt von der Klägerseite kritisierte - Situation des Anspruchsstellers auf Grundsicherung bei Erwerbsminderung bei der vom Beklagten angenommenen Rechtsansicht kaum vom Gesetzgeber gewollt sein kann. Der betreffende Mensch wäre in der Konsequenz in den allermeisten Fällen von Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung ausgeschlossen, ohne dass feststeht, ob er die medizinischen Voraussetzungen nicht doch erfüllt. Denn einerseits wird dies nicht unterstellt, wie bei anderen Fallgruppen des § 45 Satz 3 SGB XII und andererseits ist es dem Sozialhilfeträger untersagt, diesbezüglich Ermittlungen anzustellen. Das würde bedeuten, dass die nachfragende Person zunächst das gesamte Verwaltungsverfahren einschließlich Widerspruchsverfahren durchlaufen müsste und erst im gerichtlichen Verfahren die Möglichkeit einer Prüfung der medizinischen Voraussetzungen des § 41 Abs. 3 SGB XII bekäme, indem dann beispielsweise eine Begutachtung vom Gericht in Auftrag gegeben wird. Dem Gericht ist bezüglich anderer existenzsichernder Sozialsysteme keine derartige Regelungskonstruktion bekannt und das Gericht hat auch Zweifel, ob dies mit der aus Art. 20 des Grundgesetzes (GG) folgenden Rechtsbindung der Verwaltung vereinbar ist. Denn - wovon auch der Beklagte ausgeht - bei § 45 SGB XII handelt es sich dem Wesen nach um eine verfahrensrechtliche Bestimmung, nicht aber primär um eine Modifikation des von § 41 Abs. 3 SGB XII als leistungsberechtigt normierten Personenkreises. Ebenso wie die Norm diesen Kreis einerseits nicht erweitern soll, darf sie ihn andererseits daher nicht (faktisch) einschränken. Letzteres ist aber die unausweichliche Folge der Ansicht des Beklagten. Einem im Eingangs- oder Berufsbildungsbereich einer WfbM Tätigem wäre es verwehrt, dass die Verwaltung prüft, ob die Voraussetzungen für einen sozialhilferechtlichen Anspruch gegeben sind. Das bedeutet, die Verwaltung müsste gegebenenfalls auch berechtigte Ansprüche ablehnen. Nach dem Dafürhalten des Gerichts wäre dies ein rechtsstaatlich bedenkliches Ergebnis. Gewichtige Gründe für ein derartiges Szenario sieht das Gericht nicht. Für die entsprechende Ansicht lässt sich vornehmlich anführen, dass Sozialhilfeträger und Rentenversicherungsträger von (zeit- und kostenaufwändigen) Ermittlungen entlastet würden. Hinzu käme wohl noch eine schnellere Entscheidung des Sozialhilfeträgers. Beide Effekte ließen sich aber genauso erreichen, wenn man - wie hier vertreten - davon ausgeht, dass die Dauerhaftigkeit der vollen Erwerbsminderung ohne weitere Ermittlungen als gegeben erachtet wird. Im Unterschied zur Ansicht des Beklagten hätte dies aber keine Verkürzung von Ansprüchen auf existenzsichernde Leistungen zur Folge. Das Gericht will ferner dem Bundesgesetzgeber nicht die Absicht unterstellen, sozusagen über die Hintertür der Neugestaltung des Verfahrens in § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII Einsparungen zu erzielen, indem im Verwaltungsverfahren objektiv unberechtigte Anspruchsablehnungen provoziert werden. Um außerdem noch das Argument der Ergebnisoffenheit des Eingangs- und Berufsbildungsbereichs einer WfbM aufzugreifen: Dies - und damit ebenso die Entscheidung über den Wechsel in den Arbeitsbereich - würde gleichermaßen nicht infrage gestellt, wenn bei Eintritt in die WfbM zunächst oder weiter vom Vorliegen einer dauerhaften und vollen Erwerbsminderung auszugehen ist, zumal genauso gut die Konstellation denkbar ist, dass bei einem voll erwerbsgeminderten Menschen schon zuvor die Dauerhaftigkeit der vollen Erwerbsminderung festgestellt wurde. Dann könnte allein wegen des Besuchs des Eingangs- und Berufsbildungsbereichs einer WfbM kaum in Abrede gestellt werden, dass die medizinischen Voraussetzungen für den Bezug von Grundsicherung bei Erwerbsminderung nach wie vor gegeben sind. Für das Gericht ist kein guter Grund ersichtlich, weshalb dies zwingend bei Personen, die zuvor noch nicht begutachtet wurden, anders gehandhabt werden muss.

Damit ist gleich das nächste Problemfeld bei der vom Beklagten vertretenen Ansicht erreicht, nämlich die Frage der Ungleichbehandlung, insbesondere eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 3 GG. Aus den oben skizzierten Konstellationen lässt sich ersehen, dass es verschiedentlich zu unterschiedlichen Behandlungen von Anspruchsstellern kommen würde. Ebenso würden Personen, die sich im Eingangs- oder Berufsbildungsbereich einer WfbM befinden, anders behandelt als Personen im Sinn von § 219 Abs. 2 Satz 2 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX), die also von vorneherein nicht in eine WfbM aufgenommen werden. Das ließe sich angesichts des genannten Personenkreises vielleicht noch rechtfertigen mit der Überlegung, dass bei diesen Menschen die Dauerhaftigkeit einer vollen Erwerbsminderung deutlicher auf der Hand liegen dürfte. Dieser Argumentation mangelt es aber spätestens dann an Überzeugungskraft, wenn man bedenkt, dass die Dauerhaftigkeit der vollen Erwerbsminderung ohne weitere Prüfung gegeben sein soll, sobald der behinderte Mensch in den Arbeitsbereich der WfbM wechselt. Die Regelungen dazu besagen aber zu wenig für die Frage nach dem Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen des § 41 Abs. 3 SGB XII. Vielmehr sind die entsprechenden Vorschriften im SGB IX ausgerichtet auf die Teilhabe behinderter Menschen am Arbeitsleben. Damit haben sie zwar einen Bezug zu den rentenrechtlichen Bestimmungen über die Erwerbsminderungsrenten, weil beide Regelungskomplexe auf die Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt abstellen. Jedoch ist daraus noch nicht zwingend der Schluss auf eine fehlende Dauerhaftigkeit dieser Fähigkeiten während der Dauer des Besuchs des Eingangs- und Berufsbildungsbereichs begründbar. Nur ein zwingender Grund ist aber ausreichend, um als Unterscheidungskriterium für eine andere Behandlung behinderter Menschen genügen zu können (vgl. BVerfG, Beschluss vom 25. März 2015, 1 BvR 2803/11). Auch wenn weiter berücksichtigt wird, dass dem Gesetzgeber bei massenhaft anfallenden Verwaltungsvorgängen im Interesse der Praktikabilität eine Typisierungsbefugnis zusteht, die Verallgemeinerungen und Pauschalierungen erlaubt (vgl. BVerfG, Urteil vom 19. Dezember 2017, 1 BvL 3/14, 1 BvL 4/14), erscheint es dem Gericht dennoch zweifelhaft, dass dem Wechsel in den Arbeitsbereich eine derartige Aussagekraft in Bezug auf ein Merkmal wie der Erwerbsfähigkeit zukommen soll. Dieses Merkmal stellt letztlich ein personenbezogenes Unterscheidungskriterium dar, weil es naturgemäß mit dem Vorliegen einer Behinderung - welche nach § 2 Abs. 1 SGB IX nicht dauerhaft sein muss - einhergeht, was auch aus § 219 SGB IX folgt (" ... Einrichtung zur Teilhabe behinderter Menschen ..."). Zwar könnte demgegenüber eingewandt werden, dass das Merkmal "Erwerbsfähigkeit" als tragende Weichenstellung für die Zuweisung zu einem der sozialen Sicherungssysteme SGB II oder SGB XII dient. Allerdings ist dann weiter zu sehen, dass sich nach beiden Systemen grundsätzlich eine Absicherung nach denselben Prinzipien und auf gleichem Niveau ergibt - betrachtet man das Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld und die Hilfe zum Lebensunterhalt. Der Gesetzgeber hat aber mit der Einführung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im Jahr 2003, fortgeführt ab 2005 im 4. Kapitel des SGB XII, Verbesserungen bzw. Privilegierungen für diesen Personenkreis festgelegt. Dazu zählt unter anderem, was auch bei der Klägerin zum Tragen kommen könnte, das Einkommen und Vermögen der mit einem Anspruchssteller in Haushaltsgemeinschaft lebenden Eltern nicht bedarfsmindernd berücksichtigt werden. Diese gesetzlich angestrebte Verbesserung für behinderte Menschen würde demjenigen verwehrt, der sich in eine WfbM begibt, ohne dass die Frage der Dauerhaftigkeit seiner vollen Erwerbsminderung geklärt ist. Gerade die darauf basierende Annahme, dass der Betreffende seine Existenzsicherung eben auf Dauer nicht selbst bewerkstelligen kann, war aber der Beweggrund für die Einführung der Grundsicherung für erwerbsgeminderte Personen. Das Gericht kann sich nicht vorstellen, dass über den neuen § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB XII der Gesetzgeber gerade diesen entscheidenden Umstand zukünftig für die Betreffenden unaufklärbar(er) machen wollte. Wie der Blick auf andere Regelungsbereiche zeigt, hätte aber die weniger einschneidende Möglichkeit bestanden, eine entsprechende gesetzliche Vermutung zu statuieren, die widerleglich ist. Davon hat der Gesetzgeber hier jedoch keinen Gebrauch gemacht. In den Augen des Gerichts ein Zeichen dafür, dass er nicht das vom Beklagten angenommene Ergebnis bezweckt hat. Selbst wenn man annähme, es handle sich bei der Neuregelung nur um eine Klarstellung, ergäbe sich nichts anderes. In diesem Fall wäre es ebenfalls zumindest ungewöhnlich, im Mantel einer Verfahrensvorschrift eine einschränkende Regelung des leistungsberechtigten Personenkreises zu verbergen. Bei der Begründung der Klarstellung hätte es sich folglich aufdrängen müssen, die gewollte Konsequenz noch einmal zu verdeutlichen - Anlass für eine Klarstellung sah man ja wohl. Das ist aber aus der Gesetzesbegründung nicht herauszulesen. Sollte hier lediglich ein ungeschicktes gesetzgeberisches Tätigwerden eine Unschärfe hervorgerufen haben, kann dies jedenfalls nicht gleichsam durch ministerielles Nachschieben von Gründen geheilt werden. Äußerungen des federführend zuständigen Bundesministeriums zum Inhalt von Regelungen können allenfalls eine Auslegungshilfe darstellen, ihnen kommt aber keine Bindungswirkung und kein Vorrang im Rahmen der üblichen gerichtlichen Auslegungsmethodik zu. Für das Gericht liegt daher aus den oben genannten Gründen die These der Klarstellung ebenso fern wie die Annahme eines neuerdings eingeschränkten leistungsberechtigten Personenkreises.

Zuletzt ist noch darauf zu verweisen, dass die Auslegung des § 45 Satz 3 Nr. 3 SGB IX dergestalt, dass für Personen im Eingangs- und Berufsbildungsbereich einer WfbM nicht vom Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen des § 41 Abs. 3 SGB XII auszugehen und zugleich dem Sozialhilfeträger entsprechende Ermittlungen untersagt werden, zu einem Konflikt mit Art. 104a Abs. 1 GG führt. Danach tragen Bund und Länder gesondert die Ausgaben, die sich aus der Wahrnehmung ihrer Aufgaben ergeben, soweit das Grundgesetz nichts anderes bestimmt. Wie aus den obigen Ausführungen leicht ersehen werden kann, würde die vom Beklagten vertretene Auffassung jedoch faktisch dazu führen, dass nachfragende Personen mehr oder weniger gezwungen wären, Ansprüche auf Grundsicherung bei Erwerbsminderung gerichtlich geltend zu machen. Wegen der durch § 45 SGB XII nicht eingeschränkten Ermittlungspflicht der Sozialgerichte nach § 103 SGG hätte dies wiederrum zur Folge, dass bei den Ländern als Träger der ermittelnden Sozial- und Landessozialgerichte (§§ 2, 7 und 28 SGG) regelmäßig die Kosten für die erstmalige Ermittlung der medizinischen Voraussetzungen des § 41 Abs. 3 SGG anfallen würden. Den Gerichten wäre nämlich die Möglichkeit verwehrt, gemäß § 131 Abs. 5 SGG vorzugehen und den Sozialhilfeträger zu - erstmaligen - Ermittlungen zu verpflichten, weil § 45 SGB XII dessen Amtsermittlungspflicht ja gerade einschränkt bzw. insofern gänzlich ausschließt, so dass auf dieser Ebene kein Ermittlungsdefizit vorläge. Obschon die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung in Bundesauftragsverwaltung ausgeführt wird (Art. 104a Abs. 2 und 3 GG i.V.m. § 46a Abs. 1 SGB XII, Art. 81 Abs. 2 AGSG), würden mithin im Ergebnis die Länder mit per se vom Bund zu tragenden Ausgaben belastet.

In der Gesamtschau der Argumente ergibt sich für das Gericht, dass sich allein mit Blick auf die dargelegten verfassungsrechtlich problematischen Folgen ein Verständnis von § 45 Satz 3 Nr. 3 Alternative 1 SGB XII dahin, dass die medizinischen Voraussetzungen des § 41 Abs. 3 SGB XII nicht gegeben sind, verbietet. Als Konsequenz leitet das Gericht ab, dass die Regelung nur so unproblematisch anzuwenden ist, dass das Vorliegen der medizinischen Voraussetzungen ohne weitere Ermittlungen des Sozialhilfeträgers anzunehmen ist, wenn er das Vorliegen für wahrscheinlich hält. Hält er es für unwahrscheinlich, greift § 45 SGB XII ohnehin nicht (vgl. Hauck/Noftz a.a.O.) und es sind die gebotenen Ermittlungen gemäß § 20 SGB X ohne Einschränkung durchzuführen.

Für den vorliegenden Fall bedeutet das, dass bei der Klägerin nicht nur eine volle, sondern auch eine dauerhafte Erwerbsminderung (weiterhin) anzunehmen ist. Denn seitens des Beklagten wurde in der mündlichen Verhandlung bejaht, dass er es für wahrscheinlich hält, dass die Voraussetzungen des § 41 Abs. 3 SGB XII erfüllt werden.

Deswegen ist der Klage stattzugeben.

Da der konkrete Bedarf bisher nicht ermittelt wurde und der Streit der Beteiligten sich ausschließlich um die grundsätzliche Leistungsberechtigung der Klägerin dreht, beschränkt sich das Gericht analog § 130 Abs. 1 Satz 1 SGG (zu dieser Möglichkeit: BSG, Urteil vom 9. Dezember 2016, B 8 SO 15/15 R) auf eine Verpflichtung des Beklagten zur Leistungsgewährung dem Grunde nach. Dies entlastet zudem ein etwaiges weiteres gerichtliches Verfahren von der Befassung mit der konkreten Anspruchshöhe. Zugleich ist bei Bejahung der Leistungsberechtigung der Klägerin mit hoher Wahrscheinlichkeit für den streitigen Zeitraum davon auszugehen, dass die Klägerin hilfebedürftig ist.

Wegen der existenziellen Bedeutung der Leistungen für die Klägerin und im Hinblick darauf, dass eine abschließende Klärung wahrscheinlich längere Zeit in Anspruch nehmen wird, ordnet das Gericht gemäß § 130 Abs. 1 Satz 2 SGG vorläufige laufende Leistungen des Beklagten an die Klägerin in Höhe von 500 EUR pro Monat von August 2017 bis Juli 2018 an. Die zeitliche Begrenzung folgt dabei dem Streitgegenstand in der Hauptsache. Bei der Bemessung der Höhe orientiert sich das Gericht an dem zuletzt vom Beklagten bewilligten Leistungsbetrag von 796,71 EUR. In dieser Höhe wird mit Wahrscheinlichkeit weiterhin ein offener Bedarf der Klägerin bestehen. Das Gericht nimmt wegen der Vorläufigkeit der Regelung jedoch einen Abschlag vor, angelehnt an die im einstweiligen Rechtsschutz bei existenzsichernden Leistungen nach dem SGB II zulässigen Spanne eines Abschlags von bis zu 30% (vgl. BayLSG, Beschlüsse vom 6. Februar 2017, L 16 AS 56/17 B ER, und vom 8. April 2016, L 11 AS 138/16 B ER). Zudem wird berücksichtigt, dass die Klägerin mit ihrer Mutter einen Mietvertrag abgeschlossen hat und insofern nicht anzunehmen ist, dass ihr bei ausbleibenden oder zu geringen Mietzahlungen Obdachlosigkeit droht. Angesichts dieser Umstände hält das Gericht einen laufenden Betrag von 500 EUR für angemessen.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG. Seitens des Beigeladenen ist kein Antrag gestellt und aber auch nicht (hilfsweise) dessen Verurteilung beantragt worden oder eine solche erfolgt. Daher besteht kein Grund, dass er an der Kostenerstattung teilnimmt.
Rechtskraft
Aus
Saved