S 7 AS 710/13

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Freiburg (BWB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
7
1. Instanz
SG Freiburg (BWB)
Aktenzeichen
S 7 AS 710/13
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Fahrtkosten zu regelmäßigen Arztterminen eines schwerbehinderten Kindes können einen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II darstellen, wenn die Termine in höherer Frequenz stattfinden als bei gleichaltrigen nichtbehinderten Kindern. Denn § 21 Abs. 6 SGB II umfasst sowohl sogenannte atypische Bedarfe, die ihrer Natur nach nur bei wenigen Leistungsbeziehern auftreten, als auch Bedarfe, die nur ihrer Höhe nach erheblich vom Durchschnittsbedarf der Leistungsbezieher nach dem SGB II abweichen.
2. Eine solche erhebliche quantitative Abweichung ist jedenfalls dann gegeben, wenn der Mehrbedarf 25 % oder mehr der im entsprechenden Regelbedarfsanteil nach § 5 Abs. 1 RBEG vorgesehenen Ausgaben ausmacht. Eine absolute Bagatellgrenze kennt § 21 Abs. 6 SGB II nicht.
3. Der Mehrbedarf steht der Person zu, die die Fahrtkosten tatsächlich bestreitet (hier: der alleinerziehenden Mutter), nicht dem Kind, das behandelt wird.
4. Wird ein Mehrbedarf geltend gemacht, der dem Grunde nach auch eine Leistung der Krankenkasse sein könnte, ist diese nach § 75 Abs. 2 SGG notwendig beizuladen.
5. Ein vorrangiges separates Vorgehen gegen die Krankenkasse ist nicht erforderlich, wenn dies offensichtlich aussichtslos wäre.
6. Ein Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II für Ausgaben, die einer medizinischen Notwendigkeit entspringen, ist nicht allein deswegen ausgeschlossen, weil er über den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung hinausgeht.
7. Die Benutzung des eigenen PKW für diese Fahrten ist nicht zu beanstanden, wenn dies entweder medizinisch notwendig ist oder aber geringere Kosten verursacht als die Benutzung des ÖPNV.
8. Die Höhe der zu erstattenden Fahrtkosten mit dem PKW richtet sich nach § 5 Abs. 1 des Bundesreisekostengesetzes (0,20 € pro gefahrenen Kilometer), nicht nach § 6 Abs. 1 Nr. 5 der Arbeitslosengeld II-Verordnung (0,20 € pro Entfernungskilometer).
9. Der Freibetrag für notwendige Anschaffungen nach § 12 Abs. 2 Nr. 4 SGB II ist für die Deckung eines laufenden Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II nicht heranzuziehen, sondern nur für einmalige Ausgaben (so genannte „Bedarfsspitzen“) bestimmt.
1. Der Bescheid vom 5.9.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.1.2013 wird aufgehoben.
2. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin für den Zeitraum vom 1.9.2012 - 28.2.2013 einen Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II von monatlich 6,03 EUR zur Bestreitung der Fahrtkosten zu Arztbesuchen ihres Sohnes I. zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
3. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin dem Grunde nach zu zwei Fünfteln.
4. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt im Rahmen laufender Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II (Arbeitslosengeld II) die Gewährung eines Mehrbedarfs nach § 21 Abs. 6 SGB II für die Bestreitung von Fahrtkosten zu Arztterminen ihres minderjährigen Sohnes.

Die in der A-Straße in F. wohnhafte Klägerin ist in geringem Umfang selbständig tätig und bezieht seit Anfang des Jahres 2012 ergänzend Arbeitslosengeld II vom Beklagten. Sie lebt in Bedarfsgemeinschaft mit ihrem am [ ] 2008 geborenen Sohn I. Bei I. besteht eine angeborene körperliche Behinderung in Form des Noonan-Syndroms. Dies geht in I.s Fall einher mit einer hypertrophen Kardiomyopathie, einer beidseitigen Nierenfehlbildung in Form einer Hydronephrose, einer Haltungsschwäche, Koordinationsschwierigkeiten, einer Hör- und Sehminderung und einer erhöhten Infektanfälligkeit. I. ist als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung von 50 anerkannt.

Bereits in einem Leistungsantrag vom 14.3.2012 hatte die Klägerin angegeben, dass der Familie wegen der Behinderung ihres Sohnes Kosten entstehen würden, die aus der Regelleistung nicht bestritten werden könnten, nämlich der Eigenanteil für eine Osteopathie-Behandlung, die Fahrtkosten zu Arztterminen und der Eigenanteil für orthopädische Schuhe. Mit Bescheid vom 11.4.2012 lehnte der Beklagte die Erstattung bzw. Berücksichtigung von Fahrtkosten zu Arztterminen ab. Er kündigte auch eine baldige Entscheidung über die Berücksichtigung der Kosten für die Osteopathie-Behandlungen und die orthopädischen Schuhe an, welche allerdings in der Folgezeit nicht erging.

Am 16.8.2012 wiederholte die Klägerin ihren Antrag auf die Berücksichtigung der drei genannten Positionen. Mit Bescheid vom 5.9.2012 bewilligte der Beklagte die laufenden Leistungen für den Zeitraum vom 1.9.2012 - 28.2.2013 vorläufig weiter. Die Bedarfsberechnung enthielt keine Mehrbedarfe wegen dieser Positionen. Mit separatem Bescheid vom gleichen Tag lehnte der Beklagte erneut ausdrücklich die Berücksichtigung der Fahrtkosten zu Arztterminen ab. Auch in dem endgültigen Leistungsbescheid vom 23.10.2013 für den Zeitraum September 2012 - Februar 2013 wurde keiner der geltend gemachten Mehrbedarfe berücksichtigt.

Gegen den Ablehnungsbescheid vom 5.9.2012 legte die Klägerin am 4.10.2012 Widerspruch ein. Diesen wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17.1.2013 als unbegründet zurück. Fahrtkosten zu Arztterminen würden ggf. durch die Krankenkasse erstattet und seien ansonsten aus dem Regelbedarf zu bestreiten. Es sei auch nicht nachgewiesen, dass die entsprechenden Fahrten zwingend mit dem PKW erfolgen müssten, und dass diese einen erheblichen Mehrbedarf begründeten.

Am 14.2.2013 hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht Freiburg erhoben.

Sie trägt vor, aufgrund der angeborenen Behinderungen bzw. chronischen Erkrankungen ihres Sohnes befinde dieser sich in deutlich höherer Frequenz in ärztlicher Behandlung als ein gesundes Kind gleichen Alters. So seien im Zeitraum September 2012 - Februar 2013 allein 25 Termine z. B. beim Kinderarzt, Augenarzt, Kardiologen und in der Universitätsklinik angefallen. Hinzu kämen erhöhte Kosten für die Fahrten zur Osteopathie-Behandlung (3 Termine im streitgegenständlichen Zeitraum) und zu einem regelmäßigen therapeutischen Sportangebot ("Herzsport für Kinder" beim [Sportverein] e. V.). Da bei I. eine erhöhte Infektanfälligkeit bestehe, könnten die Fahrten nicht mit dem ÖPNV zurückgelegt werden, sondern nur mit dem eigenen PKW. Die Klägerin beziffert - unter Zugrundelegung eines Betrags von 0,30 EUR pro zurückgelegtem Kilometer - den Mehrbedarf auf 16,42 EUR monatlich.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Bescheid vom 5.9.2012 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 17.1.2013 aufzuheben und der Klägerin für den Zeitraum September 2012 - Februar 2013 einen Mehrbedarf von monatlich 16,42 EUR für die Bestreitung der Fahrtkosten zu Arztterminen ihres Sohnes I. zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hält die mit der Klage angefochtenen Bescheide für rechtsfehlerfrei.

Das Gericht hat die Beteiligten im Termin zur mündlichen Verhandlung am 9.10.2015 angehört.

Mit Beschluss vom 15.10.2015 hat das Gericht die T. Krankenkasse, bei der die Klägerin und ihr Sohn gesetzlich krankenversichert sind, zum Verfahren beigeladen.

Die Beigeladene führt aus, dass sie die streitigen Fahrtkosten nach den Vorschriften des SGB V nicht übernehmen könne.

Die Beigeladene beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der die Bedarfsgemeinschaft der Klägerin betreffenden Verwaltungsakte des Beklagten (Stand 26.2.2016), die das Gericht zum Verfahren beigezogen hat, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Das Gericht kann nach § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne Durchführung einer (weiteren) mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Beteiligten sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.

Die Klage ist zulässig. Sie ist insbesondere form- und fristgerecht erhoben und als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage statthaft nach § 54 Abs. 4 SGG.

Sie ist auch teilweise begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch gegen den Beklagten auf Gewährung des mit der Klage geltend gemachten Mehrbedarf. Die mit der Klage angefochtenen anderslautenden Bescheide des Beklagten sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin daher in ihren Rechten. Lediglich die Höhe des mit der Klage geltend gemachten Anspruchs ist nicht berechtigt; das Gericht hält den Anspruch lediglich in geringerer Höhe für gegeben.

Streitgegenstand ist lediglich der Mehrbedarf wegen der Fahrtkosten zu Arztterminen. Nicht Streitgegenstand sind dagegen die gegenüber dem Beklagten im Jahr 2012 ebenfalls geltend gemachten weiteren Mehrbedarfe (Eigenanteil Osteopathie-Behandlung, Eigenanteil orthopädische Schuhe). Ebenfalls nicht Streitgegenstand sind die gesamten laufenden Leistungen der Klägerin im Zeitraum September 2012 - Februar 2013, denn der Widerspruchsbescheid vom 17.1.2013 bezieht sich nur auf den separaten Ablehnungsbescheid vom 5.9.2012 und nicht auf den laufenden Leistungsbescheid vom gleichen Tag.

Der geltend gemachte Anspruch ist auch ein Anspruch der Klägerin selbst und nicht etwa ihres Sohnes. Dieser bezog im streitgegenständlichen Zeitraum kein Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld, weil er aufgrund seines sonstigen Einkommens (Kindergeld und Unterhaltszahlungen des Vaters) nicht hilfebedürftig war. Auch entstanden die Fahrtkosten der Klägerin selbst, da die Fahrten mit dem PKW der Klägerin durchgeführt wurden und die Klägerin ihren Sohn angesichts seines kindlichen Alters selbstverständlich zu diesen Terminen begleiten musste. Davon scheint im Übrigen auch der Beklagte auszugehen, denn Adressat des Bescheids vom 5.9.2012 und des Widerspruchsbescheids vom 17.1.2013 ist jeweils die Klägerin selbst, nicht der Sohn der Klägerin (oder die Klägerin lediglich in ihrer Eigenschaft als dessen gesetzliche Vertreterin).

Der Anspruch folgt aus § 21 Abs. 6 SGB II in der ab dem 1.4.2011 geltenden Fassung. Nach § 21 Abs. 6 SGB II erhalten Leistungsberechtigte einen Mehrbedarf, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger besonderer Bedarf besteht (Satz 1). Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt werden kann und seiner Höhe nach erheblich von einem durchschnittlichen Bedarf abweicht (Satz 2).

Diese Voraussetzungen sind für die Fahrkosten zu den Arztterminen des Sohnes der Klägerin dem Grunde nach erfüllt. Es handelt sich um einen besonderen Bedarf (siehe dazu unten 1.), um einen laufenden, nicht nur einmaligen Bedarf (siehe dazu unten 2.), und um einen unabweisbaren Bedarf (siehe dazu unten 3.).

1. Die geltend gemachten Fahrkosten können ungeachtet des Umstandes, dass im Regelbedarf ein Anteil für Mobilität/Fahrkosten enthalten ist (vgl. § 5 Abs. 1 des Gesetzes zur Ermittlung des Regelbedarfs nach § 28 SGB XII - RBEG), einen besonderen Bedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II darstellen. Denn § 21 Abs. 6 SGB II umfasst sowohl sogenannte atypische Bedarfe, die ihrer Natur nach nur bei wenigen Leistungsbeziehern auftreten, als auch Bedarfe, die nur ihrer Höhe nach erheblich vom Durchschnittsbedarf der Leistungsbezieher nach dem SGB II abweichen (BSG, Urteil vom 18. November 2014 – B 4 AS 4/14 R - juris; Behrend in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 21 Rn. 79). Letzterer Fall liegt hier vor. Die hier streitigen Kosten entspringen zwar nicht ihrer Natur nach, wohl aber ihrer Höhe nach einer atypischen Bedarfslage. Arztbesuche sind bei praktisch allen Kindern in I.s Alter hin und wieder notwendig sind; die Frequenz der Arztbesuche (durchschnittlich 4 -5 Termine monatlich) geht bei I. aber wesentlich über das hinaus, was bei gesunden Kindern gleichen Alters üblich ist.

2. Laut der Aufstellung im Schriftsatz des klägerischen Bevollmächtigten vom 12.12.2013 absolvierte I. im Zeitraum September 2012 - Februar 2013 insgesamt 25 Arztbesuche bei Dr. Z-, Dr. R., Dr. We., Dr. F., Dr. Wi. und Dr. Sch. sowie in der Universitätskinderklinik, zu denen die Klägerin ihn begleitete. Sämtliche dieser Termine - alle im Stadtgebiet F. - wurden mit dem eigenen PKW der Klägerin wahrgenommen. Dabei wurden insgesamt 131 km zurückgelegt; bei den Besuchen der Uniklinik entstanden ferner insgesamt 10,00 EUR Parkgebühren.

Bei den so entstandenen Fahrtkosten handelt es sich damit um einen laufenden, nicht nur einmaligen Bedarf im Sinne des § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II, denn die Frequenz der Behandlungstermine schwankte zwar etwas (zwischen 3 und 7 pro Monat), ihr wiederkehrendes Muster ist allerdings klar erkennbar und erklärt sich hinreichend durch die im kinderärztlichen Attest von Dr. Z. vom 10.9.2012 (Bl. 152 der Verwaltungsakte) bestätigte Chronizität von I.s Erkrankungen. Diese geht darüber hinaus auch aus dem Bericht der Nachsorgeklinik T. vom 29.7.2013 über den dortigen Reha-Aufenthalt der Klägerin und ihres Sohnes im Mai/Juni 2013 (Bl. 73ff. der Gerichtsakte) hervor.

3. Der Bedarf ist nach Überzeugung des Gerichts auch unabweisbar. Insbesondere kann die Klägerin nicht auf Einsparmöglichkeiten (siehe dazu unten a)), auf die Deckung der Kosten aus eigenen Mitteln (siehe dazu unten b)) oder auf die Deckung durch Dritte (siehe dazu unten c)) verwiesen werden. Der Bedarf ist auch seiner Höhe nach unabweisbar (siehe dazu unten d)).

a) Einsparmöglichkeiten im Sinne des § 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II sind nicht ersichtlich.

Darauf, dass die einzelnen Behandlungstermine nicht medizinisch notwendig gewesen sein könnten, liegen keinerlei Hinweise vor.

Ob - wie vorgetragen - die Benutzung des eigenen PKW gegenüber der Benutzung des ÖPNV notwendig und damit im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II unabweisbar war, kann dahingestellt bleiben. Die für den Sohn der Klägerin vorgetragene erhöhte Infektanfälligkeit wird zwar im Bericht der Klinik T. vom 29.7.2013 bestätigt (S. 2 des Berichts: "Erhebliche Infektanfälligkeit"). Über die spezifische Notwendigkeit der PKW-Benutzung liegt dagegen keine ausdrückliche ärztliche Bescheinigung vor. Dies ist aber hier unschädlich, da die Benutzung des eigenen PKW keine höheren Kosten verursachte, als durch die Benutzung des ÖPNV entstanden wären.

Bei der Berechnung der geltend gemachten Fahrtkosten wurden von der Klägerin 0,30 EUR pro gefahrenem Kilometer geltend gemacht. Dies entbehrt nach Auffassung des Gerichts einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage. Der nach Auffassung des Gerichts korrekte Berechnungsmaßstab ist vielmehr § 5 Abs. 1 des Bundesreisekostengesetzes (0,20 EUR pro gefahrenen Kilometer), wie dies auch das Bundesozialgericht bei der Berechnung von Mehrbedarfen zur Wahrnehmung des Umgangsrechts mit nicht im eigenen Haushalt lebenden Kindern zugrunde legt (BSG, Urteil vom 04. Juni 2014 – B 14 AS 30/13 R – juris). Die Regelung des § 6 Abs. 1 Nr. 5 der Arbeitslosengeld II-Verordnung zur Absetzung von Fahrtkosten zum Arbeitsplatz (0,20 EUR pro Entfernungskilometer) ist nach Auffassung der Kammer dagegen nicht auf den vorliegenden Fall übertragbar, da es bei § 21 Abs. 6 SGB II - anders als bei den Freibeträgen bei der Anrechnung von Erwerbseinkommen - nicht um die Setzung von Anreizen zur Aufnahme und Ausübung einer Erwerbstätigkeit geht, sondern um direkte (und vollständige) Bedarfsdeckung.

Daraus ergibt sich bei 25 Terminen und 131 km im streitgegenständlichen Zeitraum zzgl. insg. 10,00 EUR Parkgebühren bei Terminen in der Universitätsklinik ein Gesamtbetrag von 36,20 EUR. Dies entspricht einem durchschnittlichen monatlichen Betrag von 6,03 EUR bzw. von durchschnittlich 1,45 EUR pro Termin.

Ein Einzelfahrschein der Preisstufe 1 der F.-Verkehrsbetriebe (Stadtgebiet F.) für Erwachsene kostete im Jahr 2012/2013 dagegen 2,30 EUR; bei Verwendung der "2x4 Fahrten-Karte" pro Fahrt immer noch 1,90 EUR. Kinder unter 6 Jahren waren frei. Damit wären der Klägerin bei der Benutzung des ÖPNV pro Termin Fahrtkosten von 3,80 EUR bis 4,60 EUR entstanden, d. h. im streitgegenständlichen Zeitraum insgesamt zwischen 98,80 EUR und 119,60 EUR. Bei Erwerb einer Monatskarte (günstigste Variante für Erwachsene im Jahr 2012: 48,60 EUR/Monat) wären sogar noch wesentlich höhere Kosten entstanden.

Die Klägerin hat durch die Benutzung des PKW daher bereits das in diesem Fall günstigste geeignete Transportmittel gewählt, und ein Verweis auf die Nutzung des ÖPNV zur Kostensenkung ginge ins Leere.

Die Klägerin konnte insbesondere auch nicht darauf verwiesen werden, die entsprechenden Entfernungen gemeinsam mit ihrem im streitgegenständlichen Zeitraum gerade vier Jahre alten Sohn regelmäßig fußläufig zu bewältigen; dies schon gar nicht im Fall einer akuten Erkrankung des Kindes. Denn die Entfernungen waren sämtlich nicht unerheblich (vom Wohnort A-str. in F. zu Dr. Z. ca. 1,5 km; zu Dr. R. ca. 4,5 km; zu Dr. We. ca. 2,6 km; zu Dr. F. ca. 5 km; zu Dr. Wi. ca. 3,6 km; zu Dr. Sch. ca. 1 km; sowie zur Universitätskinderklinik ca. 1,5 km - alle Entfernungen entnommen aus dem Routenplaner für Fußgänger unter https://www.google.de/maps)

b) Die Klägerin kann auch nicht darauf verwiesen werden, eigenes Einkommen und/oder Vermögen für die Bedarfsdeckung heranzuziehen.

Insbesondere kann ihr nicht nahegelegt werden, den Bedarf aus dem Regelbedarf zu decken und sich dafür an anderer Stellen, d. h. in den anderen Abteilungen des § 5 Abs. 1 RBEG, einzuschränken. Dies widerspricht dem Grundsatz der Pauschalierung des Regelbedarfs und kann auch angesichts der ohnehin knapp berechneten Regelbedarfshöhe nicht verlangt werden. Nur ganz geringfügig erhöhte Bedarfe können unter die relative Bagatellgrenze des § 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II fallen (siehe dazu unten d)); ein pauschaler Verweis, das eigene Ausgabeverhalten dauerhaft den zwingenden besonderen Bedürfnissen anzupassen, ist aber nicht zulässig (so auch Behrend in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 21 Rn. 86f).

Die Klägerin verfügte im Jahr 2012 über ein angespartes Vermögen von rund 3.200,00 EUR (Sparbuch bei der I-Bank Nr. [ ], Bl. 38 der Verwaltungsakte des Beklagten). Dieses nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 (Grundfreibetrag) und § 12 Abs. 2 Nr. 4 SGB II (Freibetrag für notwendige Anschaffungen) geschützte Vermögen ist aber nicht für den hier streitigen Zweck einzusetzen. Dies widerspräche dem Sinn und Zweck dieser Freibeträge; insbesondere der Freibetrag nach § 12 Abs. 2 Nr. 4 SGB II ist für einmalige Ausgaben (so genannte "Bedarfsspitzen") vorgesehen und nicht für laufende Ausgaben (BSG, Urteil vom 18. November 2014 – B 4 AS 4/14 R – juris; Behrend in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 21 Rn. 89f.).

Auch die in der Berechnung des laufenden Arbeitslosengeldes II der Klägerin enthaltenen Freibeträge bei der Anrechnung des Einkommens aus ihrer selbständigen Tätigkeit nach §§ 11, 30 SGB II können nicht zur Bedarfsdeckung herangezogen werden; dies widerspräche auch dem Zweck dieser Freibeträge (Behrend in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 21 Rn. 91).

Ferner musste die Klägerin auch nicht den in ihrem laufenden Arbeitslosengeld II enthaltenen Mehrbedarf für Alleinerziehende von 134,64 EUR/Monat (2012) bzw. 137,52 EUR/Monat (2013) für die Deckung dies hier streitigen Bedarfs einsetzen. Denn Sinn und Zweck dieses Mehrbedarfszuschlags ist ein Ausgleich der durch den Ausfall des anderen Elternteils reduzierten Mobilität und den sich daraus ergebenden Mehrkosten, sowie für erhöhte Informations- und Kontaktbedürfnisse des alleinerziehenden Elternteils mit weiteren Betreuungs- und Bezugspersonen (BSG, Urteil vom 03. März 2009 – B 4 AS 50/07 R – juris). Der hier geltend gemachte Bedarf steht mit diesen Zwecken nicht im Zusammenhang. Die Fahrtkosten zu den Arztterminen wären ebenso entstanden, wenn die Erziehung und Betreuung von I. durch seine beiden Elternteile gemeinsam erfolgen würde. Denn die Arztbesuche wären gleichwohl notwendig gewesen, ebenso die Begleitung dorthin durch mindestens ein Elternteil. Daher ist für diesen Zweck nicht auf den Mehrbedarf für Alleinerziehende zurückzugreifen.

c) Der Bedarf ist auch deswegen unabweisbar, weil er nicht durch Zuwendungen Dritter gedeckt werden konnte. Insbesondere kommt die Inanspruchnahme der Krankenkasse nicht in Betracht.

Unter Zuwendungen Dritter fallen zwar auch sonstige Sozialleistungen außerhalb des SGB II (Behrend in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 4. Aufl. 2015, § 21 Rn. 91). Nach Auffassung des Gerichts ist daher, wenn für die Deckung eines Bedarfs eine andere Sozialleistung in Frage kommt als die im SGB II genannten, zunächst zu klären, ob dies möglich ist. Solange der Leistungsberechtigte nicht die ihm zumutbaren Versuche unternommen hat, den Bedarf auf diesem Wege zu decken, kann der Bedarf nicht als unabweisbar im Sinne des § 21 Abs. 6 Satz 2 SGB II angesehen werden (so auch SG Karlsruhe, Urteil vom 11. Juni 2014 – S 15 AS 2553/13 – juris zu Fahrkosten zu ärztlich verordneten Physiotherapie- und Rehasport-Terminen eines Erwachsenen).

Hier kommt - zumindest theoretisch - die Übernahme der angefallenen Kosten durch die Krankenkasse in Betracht, da diese unter den Voraussetzungen des § 60 SGB V durchaus Fahrtkosten zu Krankenbehandlungen übernehmen kann.

Bei Klageerhebung hatte die Klägerin noch keinen Versuch unternommen, die angefallenen Kosten von ihrer Krankenkasse, bei der auch ihr Sohn familienversichert ist, erstattet zu erhalten. Das Gericht hat daher die Krankenkasse der Klägerin nach § 75 Abs. 2 SGG zum Verfahren beigeladen.

Die Klägerin kann allerdings im vorliegenden Fall im Ergebnis nicht darauf verwiesen werden, vorrangig - ggf. durch alle denkbaren Instanzen - die Krankenkasse in Anspruch zu nehmen. Denn wenn die Inanspruchnahme des alternativ in Betracht kommenden Leistungsträgers von vorneherein offensichtlich aussichtslos erscheint, kann darauf verzichtet werden (SG Karlsruhe, Urteil vom 11. Juni 2014 – S 15 AS 2553/13 – juris). So liegt es hier.

Die Beigeladene hat mit Schriftsatz vom 7.11.2015 ausgeführt, dass die Übernahme der hier geltend gemachten Fahrtkosten nicht nach § 60 Abs. 2 SGB V in Frage kommt, da sie unter keine der dort genannten Fallgruppen zu subsumieren sind (Fahrten zu stationären Behandlungen oder Fahrten zur Vermeidung derselben; Rettungsfahrten; besondere medizinische Betreuung während der Fahrt). Diese Auffassung wird vom Gericht geteilt. Das Gericht macht sich die dahingehenden Ausführungen der Beigeladenen im Schriftsatz vom 7.11.2015 in soweit zu eigen.

Das Gericht teilt ferner auch die ebenfalls im Schriftsatz vom 7.11.2015 mitgeteilte Auffassung der Beigeladenen, dass die Übernahme der streitigen Kosten auch nicht nach § 60 Abs. 1 SGB V in Verbindung mit den Ausnahmeregelungen in den Krankentransport-Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) der Krankenkassen nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12 SGB V in Frage kommt. Denn diese sehen in § 7 Abs. 2 zusätzlich zu den bereits oben genannten Fällen nur die Fahrtkostenübernahme zu ambulanten Operationen bzw. deren Vor- und Nachbehandlungen sowie in § 8 Abs. 1 im Einzelfall bei ambulanten Behandlungen nach vorgegebenem Therapieschema und einer hohen Behandlungsfrequenz vor; und auch dies nur bei zwingender medizinischer Notwendigkeit der entsprechenden Beförderungsart. Die hier betroffenen Termine dienten aber nicht ambulanten Operationen bzw. deren Vor- oder Nachbehandlung. Der Sohn der Klägerin wurde auch nicht nach einem festgelegten Therapieschema behandelt.

Zuletzt ist der Beigeladenen auch - wie im Schriftsatz vom 7.11.2015 weiter ausgeführt - darin zuzustimmen, dass eine Kostenübernahme wegen eingeschränkter Mobilität des Patienten nach § 8 Abs. 3 der Krankentransport-Richtlinien - dokumentiert durch die Merkzeichen aG, H oder Bl im Schwerbehindertenausweise oder die Zuerkennung der Pflegestufe 2 oder 3 - im vorliegenden Fall nicht in Betracht kommt. Denn die Mobilität des Sohnes der Klägerin ist nicht entsprechend eingeschränkt.

Die Klägerin kann also nicht darauf verwiesen werden, vor der Inanspruchnahme des Beklagten gegen die Beigeladene vorzugehen. Denn hierzu fehlt es angesichts der soeben dargelegten, nach Auffassung des Gerichts eindeutigen Rechtslage offenkundig an der entsprechenden Erfolgsaussicht.

Aus den gleichen Gründen kommt auch die Verurteilung der Beigeladenen nach § 75 Abs. 5 SGG nicht in Betracht.

Die Bedarfsdeckung im Wege des § 21 Abs. 6 SGB II ist auch nicht grundsätzlich ausgeschlossen, weil der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung unter bestimmten Umständen die Kostenübernahme für eine Fahrt zu einer ambulanten ärztlichen Behandlung vorsieht. Zwar ist in der sozialgerichtlichen Rechtsprechung verschiedentlich vertreten worden, dass derartige Kosten nur entweder eine Krankenkassenleistung sein könnten oder aber dem Regelbedarf des Arbeitslosengeldes II zuzuordnen seien. Diese Entscheidungen (BSG, Urteil vom 26. Mai 2011 – B 14 AS 146/10 R - juris; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 29. November 2011 – L 7 AS 1442/10 – juris; Sächsisches LSG, Beschluss vom 25. September 2013 – L 7 AS 83/12 NZB – juris) beziehen sich aber auf Ansprüche vor Inkrafttreten des § 21 Abs. 6 SGB II und sind daher auf den hier zu entscheidenden Fall nicht zu übertragen. Es gilt vielmehr, in Übereinstimmung mit den im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 9.2.2010 (1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09 - juris) dargelegten Grundsätzen zur Bestimmung des Existenzminimums, dass bei einer atypischen Bedarfslage eine (auch gewollte) Lücke im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung durchaus durch Leistungen nach § 21 Abs. 6 SGB II auszugleichen sein kann (so auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.3.2015 - L 6 AS 1926/14 - juris zu Fahrtkosten zu einer täglichen ambulanten Substitutionstherapie mit Methadon; BSG, Urteil vom 12. Dezember 2013 – B 4 AS 6/13 R – juris zu den Kosten einer medizinisch notwendigen kieferorthopädischen Behandlung).

d) Der Bedarf ist auch seiner Höhe nach unabweisbar. Im Regelbedarf sind zwar Ausgaben für die alltägliche Mobilität am Wohnort bzw. Ort des gewöhnlichen Aufenthalts enthalten (§ 5 Abs. 1 RBEG). Dieser Anteil macht 6,3 % des Regelbedarfs aus, im Jahr 2012 (Regelbedarf für Alleinstehende: 374,00 EUR/Monat) also 23,55 EUR/Monat und im Jahr 2013 24,05 EUR/Monat. Davon musste die Klägerin im hier streitigen Fall jeweils 6,03 EUR/Monat allein für den besonderen Bedarf der Fahrten mit ihrem Sohn zum Arzt aufwenden. Dies entspricht 25 % ihres insgesamt für Mobilität vorgesehenen Budgets. Dies stellt nach Auffassung des Gerichts - trotz des absolut gesehen eher geringen streitigen Betrages - eine erhebliche Abweichung vom durchschnittlichen Bedarf dar, denn dieser ist relativ zu bestimmen. Eine absolute Bagatellgrenze kennt § 21 Abs. 6 SGB II ebenfalls nicht.

In diesem Umfang ist die Klage also begründet. Die Differenz zwischen dem geltend gemachten Betrag und dem zugesprochenen Betrag erklärt sich zum einen aus der unterschiedlichen Kilometerpauschale (0,20 EUR statt 0,30 EUR) und zum anderen daraus, dass die Fahrtkosten zum wöchentlichen Sportangebot "Herzsport für Kinder", die in der Aufstellung im klägerischen Schriftsatz vom 12.12.2013 mit enthalten waren (insgesamt 32 km), nicht im Rahmen des § 21 Abs. 6 SGB II berücksichtigt werden können. Die in diesem Zusammenhang entstehenden Kosten stellen keinen im Sinne des § 21 Abs. 6 SGB II besonderen, von der Norm abweichenden Bedarf dar. Denn auch wenn dieses Sportangebot sich besonders an behinderte und/oder chronisch erkrankte Kinder richtet, handelt es sich dabei nicht um eine medizinisch notwendige Behandlung oder Therapie, sondern lediglich um ein - wenn auch gesundheitlich sicherlich besonders sinnvolles - freiwilliges Freizeitangebot. Aber auch gesunde Kinder im Alter von I. nehmen häufig an regelmäßigen Sportangeboten von örtlichen Sportvereinen teil und werden dorthin in der Regel - ggf. mit der Folge entsprechender Fahrtkosten - von ihren Eltern oder anderen Betreuungspersonen begleitet. Diese Kosten sind also aus dem Regelbedarf zu bestreiten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis des Rechtsstreits in der Hauptsache.

Die Berufung war nach § 144 Abs. 2 Nr. 1 SGG wegen grundsätzlicher Bedeutung zuzulassen, obwohl der Wert des Beschwerdegegenstandes 750,00 EUR nicht erreicht (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG). Die Frage, unter welchen Voraussetzungen Fahrtkosten zu ärztlichen Behandlungen - insbesondere unter Abgrenzung zu den Vorschriften über die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem SGB V - unter § 21 Abs. 6 SGB II fallen können, wird in den Instanzgerichten derzeit uneinheitlich beurteilt; höchstrichterliche Rechtsprechung liegt dazu noch nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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