Land
Hessen
Sozialgericht
SG Darmstadt (HES)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
19
1. Instanz
SG Darmstadt (HES)
Aktenzeichen
S 19 AS 892/18 ER
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Die Unbilligkeit der Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente nach § 6 UnbilligkeitsV ist durch eine prognostische Beurteilung zu treffen, die sich an den Kriterien des Satz 2 bemisst.
1. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Bescheide vom 25.09.2018 und 16.10.2018 in Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 08.11.2018 wird angeordnet.
2. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller seine notwendigen, außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Antragsgegner dem Antragsteller auffordern darf, eine geminderte Altersrente bei der Deutschen Rentenversicherung zu beantragen.
Der 1955 geborene Antragsteller wohnt im Zuständigkeitsbereich des Beklagten und bezieht von ihm Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), von Juli bis Dezember 2018 in Höhe von monatlich 726 Euro. Der Antragsteller lebt allein und ist verpflichtet eine Grundmiete in Höhe von 270 Euro sowie Nebenkosten in Höhe von 110 Euro zu zahlen. Als Einkommen berücksichtigt der Antragsgegner 100 Euro monatlich, die der Antragsteller von einer Bekannten erhält. In der Rentenauskunft vom 06.09.2018 teilte die Deutsche Rentenversicherung Bund dem Antragsteller mit, dass ab dem 01.10.2021 ein Anspruch auf Regelaltersrente bestehe. Darüber hinaus könne der Kläger eine Altersrente für langjährig Versicherte ab dem 01.01.2019 mit einem Rentenabschlag von 9,9 Prozent beziehen. Am 24.09.2018 beantragte der Antragsteller eine abschlagsfreie Altersrente für besonders langjährig Versicherte ab dem 01.07.2019.
Mit Bescheid vom 25.09.2018 forderte der Antragsgegner den Antragsteller auf, eine geminderte Altersrente bei der Deutschen Rentenversicherung zu beantragen und die Antragstellung bis spätestens zum 12.10.2018 nachzuweisen. In dem Bescheid teilte der Antragsgegner mit, er habe bei der Ermessensentscheidung die Voraussetzung der Unbilligkeitsverordnung geprüft; eine der genannten Ausnahme der Unbilligkeitsverordnung liege nicht vor. Der Antragsteller sei verpflichtet ab Vollendung des 63. Lebensjahres auch eine geminderte Altersrente in Anspruch zu nehmen.
Der Antragsteller hat am 02.10.2018 einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vor dem Sozialgericht in Darmstadt gestellt.
Am 16.10.2018 hat der Antragsgegner den Antragsteller erneut aufgefordert, eine geminderte Altersrente zu beantragen und die Antragstellung bis zum 02.11.2018 nachzuweisen.
Am 18.10.2018 hat der Antragsteller Widerspruch gegen den Bescheid vom 25.09.2018 und am 22.10.2018 gegen den Bescheid vom 16.10.2018 erhoben.
Mit Widerspruchsbescheiden vom 08.11.2018 hat der die Widersprüche als unbegründet zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt vor, er habe bereits vor Aufforderung durch den Antragsgegner selbst einen Rentenantrag mit Beginn einer abschlagsfreien Regelaltersrente zum 01.07.2019 gestellt. Ihm stehe eine abschlagsfreie Rente gemäß § 3 Unbilligkeitsverordnung in nächster Zukunft zu. Die Bescheide seien ermessensfehlerhaft.
Am 15.11.2018 hat der Antragsteller Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt erhoben (Aktenzeichen S 19 AS 1037/18).
Der Antragsteller beantragt nunmehr,
die aufschiebende Wirkung der Klage vom 15.11.2018 gegen die Bescheide vom 25.09.2018 und 16.10.2018 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 08.11.2018 anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Der Antragsgegner trägt vor, die abschließenden Voraussetzungen der Unbilligkeitsverordnung lägen nicht vor. § 3 Unbilligkeitsverordnung sei nicht einschlägig, da die Abweichung von sechs Monaten keine geringfügige Abweichung von den drei Monaten sei. Zudem seien auch die Voraussetzungen des § 6 Unbilligkeitsverordnung nicht erfüllt. Die abschlagsbehaftete Rente von 971,35 Euro liege erheblich über dem derzeitigen Bedarf in Höhe von 796 Euro. Es verbleibe kein Spielraum, um eine Hilfebedürftigkeit anzunehmen.
Das Gericht hat bei der Rentenversicherung eine aktuelle Rentenauskunft angefordert. Aus dieser ergibt sich, dass der Antragsteller ab dem 01.07.2019 eine abschlagsfreie Rente für besonders langjährig Versicherte beziehen kann. Die Wartezeit von 45 Jahren ist erfüllt. Die Altersrente würde 1.079,99 Euro monatlich betragen, wenn der derzeit maßgebende aktuelle Rentenwert zugrunde gelegt werde.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag des Antragstellers ist begründet.
Gemäß § 86a Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Diese entfällt jedoch nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG in durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Ein solcher Fall ist in § 39 Nr. 2 SGB II vorgeschrieben. Danach haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, mit dem zur Beantragung einer vorrangigen Leistung aufgefordert wird, keine aufschiebende Wirkung. Mit Bescheiden vom 25.09.2018 und 16.10.2018 hat der Antragsgegner den Antragsteller zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente aufgefordert; der hiergegen fristgerecht erhobene Widerspruch des Antragstellers hat keine aufschiebende Wirkung. Das Gericht kann in diesem Fall auf Antrag gemäß § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG die aufschiebende Wirkung anordnen.
Der Antrag ist begründet. Die Voraussetzungen für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs liegen vor. Im Rahmen der Prüfung des § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG ordnet das Gericht die aufschiebende Wirkung an, wenn der Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig und der Betroffene dadurch in seinen subjektiven Rechten verletzt ist; demgegenüber wird die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet, wenn die Klage aussichtslos ist (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 12f). Sind die Erfolgsaussichten nicht in dieser Weise abschätzbar, ist eine allgemeine Interessenabwägung vorzunehmen, wobei die Aussichten des Hauptsacheverfahrens mitberücksichtigt werden können. Es gilt der Grundsatz: Je größer die Erfolgsaussichten sind, umso geringer werden die Anforderungen an das Aussetzungsinteresse des Antragstellers sein (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 12f). Bei der Interessenabwägung ist in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGG zudem zu berücksichtigen, dass aufgrund der vom Gesetzgeber in diesen Fällen grundsätzlich angeordneten sofortigen Vollziehung ein Regel-Ausnahmeverhältnis zugunsten des Vollziehungsinteresses gegenüber dem Aufschubinteresse des Antragstellers abzuleiten ist (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 12f). Die aufschiebende Wirkung kann daher in diesen Fällen nur angeordnet werden, wenn ein überwiegendes Interesse des durch den Verwaltungsakt Belasteten feststellbar ist.
Nach der im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung sind die Aufforderungsbescheide bereits offenbar rechtswidrig.
Rechtsgrundlage für die Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente ist § 12a iVm. § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II (in der seit 1. April 2011 geltenden Fassung). Nach § 12a S. 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist, wobei nach § 12a S. 2 Nr. 1 SGB II keine Verpflichtung besteht, bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen. Stellen Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag nicht, können nach § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II die Leistungsträger nach dem SGB II den Antrag stellen.
Der Anwendungsbereich der Vorschriften ist zunächst eröffnet. Denn der Antragsteller ist Leistungsberechtigter im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB II und er könnte mit Vollendung seines 63. Lebensjahres am 22.12.2018, ab dem 01.01.2019 eine vorzeitige Altersrente für langjährig Versicherte gemäß § 236 SGB VI in Anspruch nehmen und hierdurch seine Hilfebedürftigkeit beseitigen. Die Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente gehört grundsätzlich zu den vorrangigen Leistungen – trotz der mit ihr verbundenen dauerhaften Rentenabschläge für jeden Kalendermonat einer vorzeitigen Inanspruchnahme (BSG, Urteil vom 9. August 2018, Az; B 14 AS 1/18 R, juris Rn. 14).
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Aufforderung zur Beantragung vorzeitiger Altersrente bereits wegen des geringen zeitlichen Abstands von sechs Monaten zwischen abschlagsfreier und abschlagsbehafteter Altersrente rechtswidrig ist (vgl. nur BSG, Urteil vom 9. August 2018, Az: B 14 AS 1/18 R, juris Rn. 15ff. zu der Voraussetzung "in nächster Zukunft" aus § 3 Unbilligkeitsverordnung - UnbilligkeitsV bei einem Zeitraum von vier Monaten).
Die Aufforderung zur Beantragung vorzeitiger, abschlagsbehafteter Altersrente ist jedenfalls bereits unbillig im Sinne des § 6 UnbilligkeitsV. Die auf die Verordnungsermächtigung des § 13 Abs. 2 SGB II gestützte Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente (UnbilligkeitsV vom 14.4.2008, BGBl I 734, idF. der Änderung vom 4.10.2016, BGBl. I 2210) regelt abschließend die Ausnahmetatbestände, bei deren Vorliegen Leistungsberechtigte zur Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente nicht verpflichtet sind (vgl. dazu BSG, Urteil vom 19. August 2015, Az: B 14 AS 1/15 R, juris Rn. 23 f.; BSG, Urteil vom 09. August 2018, Az: B 14 AS 1/18 R, juris Rn. 17).
Nach § 6 S. 1 UnbilligkeitsV ist die Inanspruchnahme unbillig, wenn Leistungsberechtigte dadurch hilfebedürftig im Sinne der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch werden würden. Dies ist gemäß Satz 2 insbesondere anzunehmen, wenn der Betrag in Höhe von 70 Prozent der bei Erreichen der Altersgrenze (§ 7a des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch) zu erwartenden monatlichen Regelaltersrente niedriger ist als der zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Unbilligkeit maßgebende Bedarf der leistungsberechtigten Person nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch.
Die Voraussetzungen von § 6 S. 2 UnbilligkeitsV liegen hier vor. Der Antragsteller würde zwar nicht bei Rentenbezug ab dem 01.01.2019 hilfebedürftig im Sinne des § 9 SGB II (Satz 1 stellt hingegen auf die Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII ab), da sein Rentenanspruch in Höhe von 973,07 Euro (1.079,99 Euro abzgl. 9,9 Prozent Abschlag) seinen aktuellen Bedarf in Höhe von 796 Euro übersteigen würde. Bereits der Wortlaut der Norm ("werden würde") bringt aber zum Ausdruck, dass es darauf nicht ankommt. Die Verwendung des Futur im Konjunktiv zeigt an, dass es nicht auf die aktuelle Situation, sondern auf eine in der Zukunft liegende hypothetische Situation – mithin auf eine Prognose – ankommt. Dies wird durch Satz 2 bestätigt, der für die Prognose einen Weg über eine pauschalierte Betrachtung (vgl. Begründung zum Verordnungsentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, abgerufen am 13.11.2018 unter: https://www.bmas.de/DE/Service/Gesetze/unbilligkeitsverordnung.html) aufzeigt. Nach Satz 2 ist insbesondere von einer Unbilligkeit auszugehen, wenn der Betrag in Höhe von 70 Prozent der bei Erreichen der Altersgrenze zu erwartenden monatlichen Regelbedarfsrente niedriger ist als der zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Unbilligkeit maßgebende Bedarf nach dem SGB II.
Hiernach ist gem. § 6 S. 2 UnbilligkeitsV folgender Vergleich anzustellen: Der Antragsteller hätte voraussichtlich 1.079,99 Euro Regelaltersrente zu erwarten; 70 Prozent hiervon sind 755,99 Euro. Dieser Betrag ist aber geringer als der derzeitige Bedarf von 796 Euro. Damit ist die vorzeitige Inanspruchnahme unbillig. Dieses Ergebnis entspricht auch dem Willen des Verordnungsgebers und des Zwecks, der die als Folge der vorzeitigen Rente zu erwartende Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII vermeiden soll. Selbst wenn auch die Rente weiter angepasst wird, ist zu berücksichtigen, dass der Bedarf des Antragstellers zur Sicherung seines Existenzminimums im Laufe seines unter Zugrundelegung des Durchschnitts zu erwartenden Rentenbezuges von 20 Jahren (vgl. BSG, Urteil vom 09. August 2018, Az: B 14 AS 1/18 R, juris Rn. 20 unter Bezug auf Statistik, in: Rentenversicherung in Zeitreihen 2017, DRV-Schriften Band 22, S. 157), noch weiter steigen wird (alleine ab dem 01.01.2019 weitere 8 Euro Regelbedarf, vgl. Verordnung zur Bestimmung des für die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 28a des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch maßgeblichen Prozentsatzes sowie zur Ergänzung der Anlage zu § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch für das Jahr 2019 vom 19. Oktober 2018, BGBl. I, S. 1766). Darüber hinaus ist auch eine weitere Erhöhung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung nicht ausgeschlossen. Im Übrigen muss berücksichtigt werden, dass der Rentenanspruch von 973,07 Euro noch um Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu kürzen ist und insofern auch ein geringerer Betrag zur Verfügung steht (laut Rentenauskunft bei gesetzlicher Versicherung ohne Zusatzbeitrag: 106,38 Euro). Das Abstellen auf 70 Prozent der Regelaltersrente entspricht dem Willen des Verordnungsgebers, eine pauschalierte Regelung zu treffen (vgl. Begründung zum Verordnungsentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, abgerufen am 13.11.2018 unter: https://www.bmas.de/DE/Service/Gesetze/ unbilligkeitsverordnung.html). Das Ergebnis entspricht auch dem Ziel des Verordnungsgebers, die Pflicht zur Inanspruchnahme vorzeitiger Altersrenten zu entschärfen (vgl. ebenda, S. 3).
Ob der Aufforderungsbescheid ermessensfehlerfrei ist (insbesondere auch unter Berücksichtigung des eher atypischen Umstands, dass der Antragsteller hier freiwillig Beiträge entrichtet haben dürfte, um zeitnah eine abschlagsfreie Rente zu erhalten und diese auch beantragt hat), ist nicht mehr entscheidend.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache.
2. Der Antragsgegner hat dem Antragsteller seine notwendigen, außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe:
I.
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Antragsgegner dem Antragsteller auffordern darf, eine geminderte Altersrente bei der Deutschen Rentenversicherung zu beantragen.
Der 1955 geborene Antragsteller wohnt im Zuständigkeitsbereich des Beklagten und bezieht von ihm Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II), von Juli bis Dezember 2018 in Höhe von monatlich 726 Euro. Der Antragsteller lebt allein und ist verpflichtet eine Grundmiete in Höhe von 270 Euro sowie Nebenkosten in Höhe von 110 Euro zu zahlen. Als Einkommen berücksichtigt der Antragsgegner 100 Euro monatlich, die der Antragsteller von einer Bekannten erhält. In der Rentenauskunft vom 06.09.2018 teilte die Deutsche Rentenversicherung Bund dem Antragsteller mit, dass ab dem 01.10.2021 ein Anspruch auf Regelaltersrente bestehe. Darüber hinaus könne der Kläger eine Altersrente für langjährig Versicherte ab dem 01.01.2019 mit einem Rentenabschlag von 9,9 Prozent beziehen. Am 24.09.2018 beantragte der Antragsteller eine abschlagsfreie Altersrente für besonders langjährig Versicherte ab dem 01.07.2019.
Mit Bescheid vom 25.09.2018 forderte der Antragsgegner den Antragsteller auf, eine geminderte Altersrente bei der Deutschen Rentenversicherung zu beantragen und die Antragstellung bis spätestens zum 12.10.2018 nachzuweisen. In dem Bescheid teilte der Antragsgegner mit, er habe bei der Ermessensentscheidung die Voraussetzung der Unbilligkeitsverordnung geprüft; eine der genannten Ausnahme der Unbilligkeitsverordnung liege nicht vor. Der Antragsteller sei verpflichtet ab Vollendung des 63. Lebensjahres auch eine geminderte Altersrente in Anspruch zu nehmen.
Der Antragsteller hat am 02.10.2018 einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz vor dem Sozialgericht in Darmstadt gestellt.
Am 16.10.2018 hat der Antragsgegner den Antragsteller erneut aufgefordert, eine geminderte Altersrente zu beantragen und die Antragstellung bis zum 02.11.2018 nachzuweisen.
Am 18.10.2018 hat der Antragsteller Widerspruch gegen den Bescheid vom 25.09.2018 und am 22.10.2018 gegen den Bescheid vom 16.10.2018 erhoben.
Mit Widerspruchsbescheiden vom 08.11.2018 hat der die Widersprüche als unbegründet zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt vor, er habe bereits vor Aufforderung durch den Antragsgegner selbst einen Rentenantrag mit Beginn einer abschlagsfreien Regelaltersrente zum 01.07.2019 gestellt. Ihm stehe eine abschlagsfreie Rente gemäß § 3 Unbilligkeitsverordnung in nächster Zukunft zu. Die Bescheide seien ermessensfehlerhaft.
Am 15.11.2018 hat der Antragsteller Klage vor dem Sozialgericht Darmstadt erhoben (Aktenzeichen S 19 AS 1037/18).
Der Antragsteller beantragt nunmehr,
die aufschiebende Wirkung der Klage vom 15.11.2018 gegen die Bescheide vom 25.09.2018 und 16.10.2018 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 08.11.2018 anzuordnen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Der Antragsgegner trägt vor, die abschließenden Voraussetzungen der Unbilligkeitsverordnung lägen nicht vor. § 3 Unbilligkeitsverordnung sei nicht einschlägig, da die Abweichung von sechs Monaten keine geringfügige Abweichung von den drei Monaten sei. Zudem seien auch die Voraussetzungen des § 6 Unbilligkeitsverordnung nicht erfüllt. Die abschlagsbehaftete Rente von 971,35 Euro liege erheblich über dem derzeitigen Bedarf in Höhe von 796 Euro. Es verbleibe kein Spielraum, um eine Hilfebedürftigkeit anzunehmen.
Das Gericht hat bei der Rentenversicherung eine aktuelle Rentenauskunft angefordert. Aus dieser ergibt sich, dass der Antragsteller ab dem 01.07.2019 eine abschlagsfreie Rente für besonders langjährig Versicherte beziehen kann. Die Wartezeit von 45 Jahren ist erfüllt. Die Altersrente würde 1.079,99 Euro monatlich betragen, wenn der derzeit maßgebende aktuelle Rentenwert zugrunde gelegt werde.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakte Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag des Antragstellers ist begründet.
Gemäß § 86a Abs. 1 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Diese entfällt jedoch nach § 86a Abs. 2 Nr. 4 SGG in durch Bundesgesetz vorgeschriebenen Fällen. Ein solcher Fall ist in § 39 Nr. 2 SGB II vorgeschrieben. Danach haben Widerspruch und Anfechtungsklage gegen einen Verwaltungsakt, mit dem zur Beantragung einer vorrangigen Leistung aufgefordert wird, keine aufschiebende Wirkung. Mit Bescheiden vom 25.09.2018 und 16.10.2018 hat der Antragsgegner den Antragsteller zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente aufgefordert; der hiergegen fristgerecht erhobene Widerspruch des Antragstellers hat keine aufschiebende Wirkung. Das Gericht kann in diesem Fall auf Antrag gemäß § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG die aufschiebende Wirkung anordnen.
Der Antrag ist begründet. Die Voraussetzungen für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs liegen vor. Im Rahmen der Prüfung des § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 SGG ordnet das Gericht die aufschiebende Wirkung an, wenn der Verwaltungsakt offenbar rechtswidrig und der Betroffene dadurch in seinen subjektiven Rechten verletzt ist; demgegenüber wird die aufschiebende Wirkung nicht angeordnet, wenn die Klage aussichtslos ist (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 12f). Sind die Erfolgsaussichten nicht in dieser Weise abschätzbar, ist eine allgemeine Interessenabwägung vorzunehmen, wobei die Aussichten des Hauptsacheverfahrens mitberücksichtigt werden können. Es gilt der Grundsatz: Je größer die Erfolgsaussichten sind, umso geringer werden die Anforderungen an das Aussetzungsinteresse des Antragstellers sein (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 12f). Bei der Interessenabwägung ist in den Fällen des § 86a Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGG zudem zu berücksichtigen, dass aufgrund der vom Gesetzgeber in diesen Fällen grundsätzlich angeordneten sofortigen Vollziehung ein Regel-Ausnahmeverhältnis zugunsten des Vollziehungsinteresses gegenüber dem Aufschubinteresse des Antragstellers abzuleiten ist (Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 86b Rn. 12f). Die aufschiebende Wirkung kann daher in diesen Fällen nur angeordnet werden, wenn ein überwiegendes Interesse des durch den Verwaltungsakt Belasteten feststellbar ist.
Nach der im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz gebotenen summarischen Prüfung sind die Aufforderungsbescheide bereits offenbar rechtswidrig.
Rechtsgrundlage für die Aufforderung zur Beantragung einer vorzeitigen Altersrente ist § 12a iVm. § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II (in der seit 1. April 2011 geltenden Fassung). Nach § 12a S. 1 SGB II sind Leistungsberechtigte verpflichtet, Sozialleistungen anderer Träger in Anspruch zu nehmen und die dafür erforderlichen Anträge zu stellen, sofern dies zur Vermeidung, Beseitigung, Verkürzung oder Verminderung der Hilfebedürftigkeit erforderlich ist, wobei nach § 12a S. 2 Nr. 1 SGB II keine Verpflichtung besteht, bis zur Vollendung des 63. Lebensjahres eine Rente wegen Alters vorzeitig in Anspruch zu nehmen. Stellen Leistungsberechtigte trotz Aufforderung einen erforderlichen Antrag nicht, können nach § 5 Abs. 3 S. 1 SGB II die Leistungsträger nach dem SGB II den Antrag stellen.
Der Anwendungsbereich der Vorschriften ist zunächst eröffnet. Denn der Antragsteller ist Leistungsberechtigter im Sinne des § 7 Abs. 1 SGB II und er könnte mit Vollendung seines 63. Lebensjahres am 22.12.2018, ab dem 01.01.2019 eine vorzeitige Altersrente für langjährig Versicherte gemäß § 236 SGB VI in Anspruch nehmen und hierdurch seine Hilfebedürftigkeit beseitigen. Die Inanspruchnahme einer vorzeitigen Altersrente gehört grundsätzlich zu den vorrangigen Leistungen – trotz der mit ihr verbundenen dauerhaften Rentenabschläge für jeden Kalendermonat einer vorzeitigen Inanspruchnahme (BSG, Urteil vom 9. August 2018, Az; B 14 AS 1/18 R, juris Rn. 14).
Es kann dahingestellt bleiben, ob die Aufforderung zur Beantragung vorzeitiger Altersrente bereits wegen des geringen zeitlichen Abstands von sechs Monaten zwischen abschlagsfreier und abschlagsbehafteter Altersrente rechtswidrig ist (vgl. nur BSG, Urteil vom 9. August 2018, Az: B 14 AS 1/18 R, juris Rn. 15ff. zu der Voraussetzung "in nächster Zukunft" aus § 3 Unbilligkeitsverordnung - UnbilligkeitsV bei einem Zeitraum von vier Monaten).
Die Aufforderung zur Beantragung vorzeitiger, abschlagsbehafteter Altersrente ist jedenfalls bereits unbillig im Sinne des § 6 UnbilligkeitsV. Die auf die Verordnungsermächtigung des § 13 Abs. 2 SGB II gestützte Verordnung zur Vermeidung unbilliger Härten durch Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente (UnbilligkeitsV vom 14.4.2008, BGBl I 734, idF. der Änderung vom 4.10.2016, BGBl. I 2210) regelt abschließend die Ausnahmetatbestände, bei deren Vorliegen Leistungsberechtigte zur Inanspruchnahme einer vorgezogenen Altersrente nicht verpflichtet sind (vgl. dazu BSG, Urteil vom 19. August 2015, Az: B 14 AS 1/15 R, juris Rn. 23 f.; BSG, Urteil vom 09. August 2018, Az: B 14 AS 1/18 R, juris Rn. 17).
Nach § 6 S. 1 UnbilligkeitsV ist die Inanspruchnahme unbillig, wenn Leistungsberechtigte dadurch hilfebedürftig im Sinne der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch werden würden. Dies ist gemäß Satz 2 insbesondere anzunehmen, wenn der Betrag in Höhe von 70 Prozent der bei Erreichen der Altersgrenze (§ 7a des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch) zu erwartenden monatlichen Regelaltersrente niedriger ist als der zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Unbilligkeit maßgebende Bedarf der leistungsberechtigten Person nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch.
Die Voraussetzungen von § 6 S. 2 UnbilligkeitsV liegen hier vor. Der Antragsteller würde zwar nicht bei Rentenbezug ab dem 01.01.2019 hilfebedürftig im Sinne des § 9 SGB II (Satz 1 stellt hingegen auf die Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII ab), da sein Rentenanspruch in Höhe von 973,07 Euro (1.079,99 Euro abzgl. 9,9 Prozent Abschlag) seinen aktuellen Bedarf in Höhe von 796 Euro übersteigen würde. Bereits der Wortlaut der Norm ("werden würde") bringt aber zum Ausdruck, dass es darauf nicht ankommt. Die Verwendung des Futur im Konjunktiv zeigt an, dass es nicht auf die aktuelle Situation, sondern auf eine in der Zukunft liegende hypothetische Situation – mithin auf eine Prognose – ankommt. Dies wird durch Satz 2 bestätigt, der für die Prognose einen Weg über eine pauschalierte Betrachtung (vgl. Begründung zum Verordnungsentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, abgerufen am 13.11.2018 unter: https://www.bmas.de/DE/Service/Gesetze/unbilligkeitsverordnung.html) aufzeigt. Nach Satz 2 ist insbesondere von einer Unbilligkeit auszugehen, wenn der Betrag in Höhe von 70 Prozent der bei Erreichen der Altersgrenze zu erwartenden monatlichen Regelbedarfsrente niedriger ist als der zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Unbilligkeit maßgebende Bedarf nach dem SGB II.
Hiernach ist gem. § 6 S. 2 UnbilligkeitsV folgender Vergleich anzustellen: Der Antragsteller hätte voraussichtlich 1.079,99 Euro Regelaltersrente zu erwarten; 70 Prozent hiervon sind 755,99 Euro. Dieser Betrag ist aber geringer als der derzeitige Bedarf von 796 Euro. Damit ist die vorzeitige Inanspruchnahme unbillig. Dieses Ergebnis entspricht auch dem Willen des Verordnungsgebers und des Zwecks, der die als Folge der vorzeitigen Rente zu erwartende Hilfebedürftigkeit nach dem SGB XII vermeiden soll. Selbst wenn auch die Rente weiter angepasst wird, ist zu berücksichtigen, dass der Bedarf des Antragstellers zur Sicherung seines Existenzminimums im Laufe seines unter Zugrundelegung des Durchschnitts zu erwartenden Rentenbezuges von 20 Jahren (vgl. BSG, Urteil vom 09. August 2018, Az: B 14 AS 1/18 R, juris Rn. 20 unter Bezug auf Statistik, in: Rentenversicherung in Zeitreihen 2017, DRV-Schriften Band 22, S. 157), noch weiter steigen wird (alleine ab dem 01.01.2019 weitere 8 Euro Regelbedarf, vgl. Verordnung zur Bestimmung des für die Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 28a des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch maßgeblichen Prozentsatzes sowie zur Ergänzung der Anlage zu § 28 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch für das Jahr 2019 vom 19. Oktober 2018, BGBl. I, S. 1766). Darüber hinaus ist auch eine weitere Erhöhung der Bedarfe für Unterkunft und Heizung nicht ausgeschlossen. Im Übrigen muss berücksichtigt werden, dass der Rentenanspruch von 973,07 Euro noch um Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung zu kürzen ist und insofern auch ein geringerer Betrag zur Verfügung steht (laut Rentenauskunft bei gesetzlicher Versicherung ohne Zusatzbeitrag: 106,38 Euro). Das Abstellen auf 70 Prozent der Regelaltersrente entspricht dem Willen des Verordnungsgebers, eine pauschalierte Regelung zu treffen (vgl. Begründung zum Verordnungsentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, abgerufen am 13.11.2018 unter: https://www.bmas.de/DE/Service/Gesetze/ unbilligkeitsverordnung.html). Das Ergebnis entspricht auch dem Ziel des Verordnungsgebers, die Pflicht zur Inanspruchnahme vorzeitiger Altersrenten zu entschärfen (vgl. ebenda, S. 3).
Ob der Aufforderungsbescheid ermessensfehlerfrei ist (insbesondere auch unter Berücksichtigung des eher atypischen Umstands, dass der Antragsteller hier freiwillig Beiträge entrichtet haben dürfte, um zeitnah eine abschlagsfreie Rente zu erhalten und diese auch beantragt hat), ist nicht mehr entscheidend.
Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung von § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache.
Rechtskraft
Aus
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