Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
11
1. Instanz
SG Nürnberg (FSB)
Aktenzeichen
S 14 AS 845/18 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 11 AS 912/18 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Einem Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II kann eine Freizügigkeitsberechtigung eines Leistungsberechtigten als Verwandten in aufsteigender Linie, der von seinem volljährigen Kind Unterhalt erhält (§ 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU), entgegen stehen.
Für die Freizügigkeitsberechtigung nach § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU kommt es nicht darauf an, ob ein Unterhaltsanspruch tatsächlich besteht und ob der gewährte Unterhalt den vollständigen Bedarf im Umfange der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II deckt.
Es ist ausreichend, wenn die Unterhaltsleistung nicht völlig unwesentlich ist und aus einem Teil des Erwerbseinkommens des Unterhaltsleistenden stammt, der im Hinblick auf die in § 11b SGB II vorgesehenen Absetzbeträge nicht als Einkommen im Rahmen dessen Bezug von aufstockenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes angerechnet wird.
Für die Freizügigkeitsberechtigung nach § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU kommt es nicht darauf an, ob ein Unterhaltsanspruch tatsächlich besteht und ob der gewährte Unterhalt den vollständigen Bedarf im Umfange der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II deckt.
Es ist ausreichend, wenn die Unterhaltsleistung nicht völlig unwesentlich ist und aus einem Teil des Erwerbseinkommens des Unterhaltsleistenden stammt, der im Hinblick auf die in § 11b SGB II vorgesehenen Absetzbeträge nicht als Einkommen im Rahmen dessen Bezug von aufstockenden Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes angerechnet wird.
I. Ziffern I. und II. des Beschlusses des Sozialgerichts Nürnberg vom 07.09.2018 werden teilweise aufgehoben und der Antragsgegner wird verurteilt, der Antragstellerin ab 01.11.2018 bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache, längstens bis 31.05.2019, vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II in Höhe von monatlich 393,70 EUR zu zahlen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
II. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die Hälfte ihrer außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.
III. Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für das Beschwerdeverfahren bewilligt und Rechtsanwältin T. , A-Stadt, beigeordnet.
Gründe:
I.
Streitig sind im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II -Alg II-) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die 1964 geborene Antragstellerin (ASt) ist bulgarische Staatsangehörige und reiste im September 2016 gemeinsam mit ihrer 1987 geborenen Tochter in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie bewohnen gemeinsam eine von der Tochter angemietete Ein-Zimmer-Wohnung mit 39 qm (Grundmiete 400 EUR, Betriebskosten 35 EUR, Heizkosten 60 EUR und Warmwasserkosten 50 EUR). Die Tochter ist erwerbstätig und bezieht zu ihrem Erwerbseinkommen, das von Dezember 2017 bis Oktober 2018 zwischen monatlich 550,70 EUR und 840,44 EUR netto betrug (zuletzt für Oktober 2018: 755,29 EUR netto), aufstockendes Alg II vom Ag. Zuletzt wurden mit Bescheid vom 28.08.2018 vorläufig 207,19 EUR monatlich für September 2018 bis Februar 2019 unter Berücksichtigung der Hälfte der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung bewilligt. Die ASt übt keine Erwerbstätigkeit aus.
Nachdem ein im Januar 2018 gestellter Antrag der ASt auf Alg II vom Ag mit Bescheid vom 09.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.04.2018 abgelehnt worden war, beantragte sie am 26.06.2018 erneut Alg II. Sie wohne zurzeit mietfrei bei ihrer Tochter. Den Antrag lehnte der Ag mit Bescheid vom 27.06.2018 wiederum ab. Es bestehe kein Anspruch, da sich das Aufenthaltsrecht der ASt alleine zum Zwecke der Arbeitssuche ergebe. Dagegen legte die ASt Widerspruch ein. Ihre Tochter trage alleine die Miete und die Kosten für Lebensmittel sowie notwendige Medikamente. Da die Tochter nur Teilzeit arbeite, könne sie sie nicht stärker unterstützen. Wegen einer Kostenübernahmeerklärung für eine Krankenhausbehandlung habe sie sich sogar für sie verschuldet. Wegen des von der Tochter seit Oktober 2016 gewährten Unterhalts stehe ihr ein Freizügigkeitsrecht zu. Den Widerspruch wies der Ag mit Widerspruchsbescheid vom 12.09.2018 zurück. Zwar könne es sein, dass die Tochter Unterhalt in Naturalien gewähre und die Unterkunftskosten vorstrecke. Würde die ASt Alg II erhalten, entfiele die Unterhaltsgewährung durch die Tochter und damit das Aufenthaltsrecht der ASt nach § 3 Abs 2 Nr 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) wieder. Im Übrigen würden die Unterhaltsleistungen jedenfalls zum Teil aus Mitteln des Ag stammen. Dagegen hat die ASt Klage beim Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben.
Die ASt hat beim SG einstweiligen Rechtsschutz hinsichtlich der Zahlung von Alg II unter Berücksichtigung der hälftigen Unterkunfts- und Heizkosten beantragt. Die Tochter gehe einer Teilzeitbeschäftigung nach und beziehe aufstockend Alg II. Nachdem diese zuletzt einige Vertretungen übernommen habe, sei das Gehalt höher ausgefallen, werde ab September 2018 aber wieder nur bei ca 500 EUR netto liegen. Die gesamten Miet- und Heizkosten bezahle die Tochter, so dass für deren eigenen Lebensunterhalt und für ihren Lebensbedarf nur ein relativ geringer Überschuss zum Leben verbleibe. Sie selbst absolviere derzeit eine Maßnahme im Rahmen eines Integrationsprojekts, erhalte dabei aber keine Leistungen zum Lebensunterhalt. Das Sozialamt habe ihr gesagt, es bestünde dort kein Leistungsanspruch. Der Lebensbedarf von ihr und ihrer Tochter sei mit den vorhandenen Mitteln nicht sichergestellt. Ihr stehe ein Aufenthaltsrecht nach § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU zu, da ihre Tochter die gesamten Unterkunfts- und Heizkosten übernehme und ihr die nötigsten Mittel zur Verfügung stelle. Eine Unterhaltsgewährung in geringem Umfang sei ausreichend. Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) kämen nicht in Betracht. Es werde zudem auf Entscheidungen des LSG Nordrhein-Westfalen (L 7 AS 1512/17) und des SG Augsburg (S 8 AS 1071/17) verwiesen. Das SG hat mit Ziffern I. und II. des Beschlusses vom 07.09.2018 den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt. Mangels Ausreiseabsichten seien Leistungen nach dem SGB XII nicht Verfahrensgegenstand, die zudem ein aliud zum Alg II darstellen würden. Nach abschließender Prüfung fehle es an einem Anordnungsanspruch, da der ASt kein über ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche hinausgehendes Aufenthaltsrecht zustehe. Ein von der Tochter abgeleitetes Freizügigkeitsrecht nach § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU bestehe nicht, da es an einer ausreichenden Unterhaltsgewährung durch die Tochter fehle. Weil die Tochter selbst Alg II in Anspruch nehme, werde der Unterhalt mittelbar durch den Sozialleistungsträger gewährt. Unter Berücksichtigung von Erwägungsgrund 16 der Richtlinie 2004/38/EG, der auf die unangemessene Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen als Grenze des Aufenthaltsrechts hinweise, sei § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU dahingehend zu verstehen, dass zwingend eine Unterhaltsgewährung unmittelbar und ausschließlich durch den leistenden Unionsbürger sichergestellt sein müsse, um ein entsprechendes Freizügigkeitsrecht zu vermitteln. Bei der ASt handele es sich auch nicht um eine Verwandte in absteigender Linie oder um eine besonders abhängige Schutzbedürftige. Eine künftige Übernahme der Existenzsicherung durch den Ag würde zudem zum Verlust des Freizügigkeitsrechts und einem Leistungsausschluss führen. Es hätte bereits im Herkunftsland zumindest ein Abhängigkeitsverhältnis bestehen müssen, was nicht glaubhaft gemacht worden sei.
Dagegen hat die ASt Beschwerde zum Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt. Hilfsweise ist zudem beantragt worden, den Ag zur vorläufigen Zahlung von Alg II unter Berücksichtigung eines Unterhalts iHv 200 EUR zu verpflichten. Die Unterhaltsgewährung der Tochter sei ausreichend. Sie leiste aus ihrem Arbeitseinkommen den gesamten unerlässlichen Unterhaltsbedarf einschließlich der gesamten Unterkunfts- und Heizkosten. Nur eine völlig unwesentliche Unterhaltsgewährung sei anders zu bewerten. Die Freibeträge in Bezug auf das Arbeitseinkommen der Tochter ermöglichten den Einsatz für den Lebensunterhalt. Hilfsweise werde darauf hingewiesen, dass die Tochter im Fall einer Leistungsgewährung durch den Ag weiterhin bereit sei, 200 EUR monatlich an Unterhaltsleistungen zu erbringen. Insbesondere hätte sie bereits in Bulgarien von ihrer Tochter unterstützt werden müssen, nachdem sie aufgrund einer Scheidung vor 18 Jahren keinen Unterhalt von ihrem geschiedenen Ehemann erhalten habe und seit 2013 auch kein Arbeitseinkommen mehr erzielen können. Damit habe sie in Bulgarien keinen Krankenversicherungsschutz mehr gehabt. Der Fall sei mit Entscheidungen des SG Augsburg (S 8 AS 1071/17) und des LSG Berlin-Brandenburg (L 23 SO 30/17 B ER) vergleichbar.
Die ASt hat eine eidesstattliche Erklärung ihrer Tochter vorgelegt, wonach sie die ASt schon in Bulgarien aus ihrem Einkommen als Krankenpflegehelferin mit unterhalten habe. In Deutschland decke sie ebenfalls den Bedarf der ASt in Bezug auf Unterkunfts- und Heizkosten sowie den Lebensunterhalt. Sofern der Ag nicht die volle Höhe des Bedarfs und die hälftigen Unterkunfts- und Heizkosten übernehme, sei sie weiterhin bereit, aus ihrem Einkommen und den Freibeträgen einen Unterhaltsbeitrag von bis zu 200 EUR monatlich zu leisten.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die vom Ag vorgelegten Verwaltungsakten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) und teilweise begründet.
Gegenstand des Rechtsstreites ist die (vorläufige) Zahlung von Alg II, die der Ag mit Bescheid vom 27.06.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.09.2018 abgelehnt hat. Das Begehren der ASt kann im Rahmen einer Hauptsache grundsätzlich mit der von ihr bereits erhobenen kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage geltend gemacht werden, so dass vorliegend § 86b Abs 2 Satz 2 SGG die maßgebliche Rechtsgrundlage für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes darstellt.
Hiernach ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn der Antragsteller ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG, Beschluss vom 25.10.1998 - 2 BvR 745/88 - BVerfGE 79, 69 (74); Beschluss vom 19.10.1977 - 2 BvR 42/76 - BVerfGE 46, 166 (179); Beschluss vom 22.11.2002 - 2 BvR 745/88 - NJW 2003, 1236). Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den die ASt ihr Begehren stützt - voraus. Die Angaben hierzu hat die ASt glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 2 und 4 SGG iVm § 920 Abs 2, § 294 Zivilprozessordnung -ZPO-; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl, § 86b Rn 41).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage in dem vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 - Breith 2005, 803) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind hierbei die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.
Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen und deshalb eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in den Grundrechten, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, droht, ist eine Versagung der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nur dann möglich, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist (vgl BVerfG, Beschluss vom 14.09.2016 - 1 BvR 1335/13). Für eine Entscheidung aufgrund einer sorgfältigen und hinreichend substantiierten Folgenabwägung ist nur dann Raum, wenn eine - nach vorstehenden Maßstäben durchzuführende - Rechtmäßigkeitsprüfung auch unter Berücksichtigung der Kürze der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren regelmäßig zur Verfügung stehenden Zeit nicht verwirklicht werden kann, was vom zur Entscheidung berufenen Gericht erkennbar darzulegen ist (vgl zum Ganzen auch: BVerfG, Beschluss vom 14.09.2016 - 1 BvR 1335/13; Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 - Breith 2005, 803; weniger eindeutig: BVerfG, Beschluss vom 06.08.2014 - 1 BvR 1453/12)
Ein Anordnungsanspruch kann vorliegend (derzeit) nicht mit Sicherheit verneint werden. Grundsätzlich erfüllt die ASt die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II für einen Anspruch auf Alg II. Sie hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, ist erwerbsfähig - zumindest gibt es bislang keine hinreichenden Feststellungen des Ag, dass dies nicht der Fall ist - sowie hilfebedürftig und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 19 Abs 1 Satz 1, § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II). Fraglich ist allein, ob die ASt nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist. Danach sind ausgeschlossen, ua Ausländerinnen, (a) die kein Aufenthaltsrecht haben, (b) deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt oder (c) die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b aus Art 10 der Verordnung (EU) Nr 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.04.2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl L 141 vom 27.05.2011, S 1), die durch die Verordnung (EU) 2016/589 (ABl L 107 vom 22.04.2016, S 1) geändert worden ist, ableiten.
Es spricht einiges dafür, dass der ASt ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs 2 Nr 6 iVm § 3 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU zustehen könnte. Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörige haben nach § 2 Abs 1 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe des FreizügG/EU. Die Tochter der Klägerin ist als Arbeitnehmerin und Unionsbürgerin - sie ist wie die ASt bulgarische Staatsangehörige - unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt nach § 2 Abs 2 Nr 1 1. Alternative FreizügG/EU. Arbeitnehmer in diesem Sinn ist, wer während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die als Gegenleistung eine Vergütung gewährt wird. Für eine entsprechende Beurteilung sind verschiedene Umstände, wie Arbeitszeit und die Höhe der Vergütung, ein Anspruch auf bezahlten Urlaub, die Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung des Tarifvertrags in der jeweils gültigen Fassung auf den Arbeitsvertrag sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses zu berücksichtigen (vgl auch BSG, Urteil vom 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R; EuGH, Urteil vom 04.02.2010 - C-14/09; Beschluss des Senats vom 06.02.2017 - L 11 AS 887/16 B ER; alle zitiert nach juris). Dabei ist der Arbeitnehmerbegriff iSv Art 45 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ein autonomer Begriff, der nicht eng auszulegen ist, so dass hierunter jeder fällt, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen (vgl dazu BSG, Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R; Urteil vom 13.07.2017 - B 4 AS 17/16 R; EuGH, Urteil vom 03.05.2012 - C-337/10; Urteil vom 26.03.2015 - C-316/13; Urteil vom 10.09.2014 - C-270/13; Beschluss des Senats vom 06.02.2017 - aaO; alle zitiert nach juris; Leopold in jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn 86). Auch wenn die Tochter aufstockende Leistungen vom Ag bezieht, so besteht im Hinblick auf den Umfang ihrer am 08.10.2016 aufgenommenen Tätigkeit, die sie als sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ausübt und dabei zuletzt zwischen 550,70 EUR und 840,44 EUR netto verdient hat, kein Zweifel daran, dass ein Arbeitnehmerstatus nach den genannten Kriterien bei ihr gegeben ist.
Die ASt könnte daher als Familienangehörige ihrer Tochter nach § 2 Abs 2 Nr 6 FreizügG/EU selbst ein Aufenthaltsrecht haben, das sich nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. So haben nach § 3 Abs 1 Satz 1 FreizügG/EU Familienangehörige ua der in § 2 Abs 2 Nr 1 1. Alternative FreizügG/EU genannten Unionsbürger ein Freizügigkeitsrecht, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Die ASt hat ihre Tochter, die im Hinblick auf ihren Arbeitnehmerstatus freizügigkeitsberechtigt ist, bei ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im September 2016 begleitet. Sie ist auch Familienangehörige. Nach § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU sind Familienangehörige ua Verwandte in gerader aufsteigender Linie der ua in § 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU genannten Personen, denen diese Personen Unterhalt gewähren. Die ASt ist als Mutter eine Verwandte ihrer Tochter in gerader aufsteigender Linie.
Die Tochter leistet laut ihrer Angaben, die bislang nicht berechtigt in Zweifel gezogen worden sind, der ASt auch Unterhalt in diesem Sinne. Es ist ausreichend, dass die fortgesetzt und regelmäßig zugewandten Mittel zumindest zur Bestreitung eines Teils des Lebensunterhaltes geeignet sind (vgl LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11.12.2017 - L 2 AS 2057/17 B ER - mwN; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 23.05.2018 - L 4 AS 913/17 B ER; zu § 1 Abs 2 Satz 2 AufenthG/EWG bereits BVerwG, Urteil vom 20.10.1993 - 11 C 1/93 - alle zitiert nach juris; so auch Nr 3.2.2.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum FreizügG/EU - AVV - vom 03.02.2016 - GMBl 2016, 86). Dem steht es nicht entgegen, wenn daneben Sozialleistungen in Anspruch genommen werden (vgl Tewocht in BeckOK, Stand 01.08.2018, § 3 FreizügG/EU Rn 15; so auch Nr 3.2.2.1 AVV). Dies zeigt auch der Vergleich mit dem in § 4 FreizügG/EU geregelten Freizügigkeitsrecht, für das bei nicht erwerbstätigen Unionsbürgern und deren Familienangehörigen gerade darauf abgestellt wird, dass ein ausreichender Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel zur Verfügung stehen müssen. Es kommt weiter nicht darauf an, ob ein Unterhaltsanspruch besteht bzw auf die Gründe für die Unterstützung (vgl LSG Nordrhein-Westfalen aaO; Tewocht aaO; Nr 3.2.2.1 AVV). Eine weite Auslegung der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 (RL 2004/38/EG), die mit den Freizügigkeitsregelungen im Zusammenhang steht, ist unter Berücksichtigung des Umstandes, dass es um die Freizügigkeitsberechtigung von Arbeitnehmern geht, gerechtfertigt (vgl insoweit auch EuGH, Urteil vom 18.06.1987 - 316/85; BVerwG, Urteil vom 20.10.1993 - 11 C 1/93 - beide zitiert nach juris).
Soweit die Erwägungsgründe 10 und 16 der RL 2004/38/EG darauf hinweisen, dass eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaates in bestimmten Fällen vermieden werden soll, dürfte dem keine überwiegende Bedeutung zukommen, so dass eine andere Auslegung damit nicht angezeigt sein dürfte. So wird in bestimmten Fällen wie in § 4 FreizügG/EU gerade die Möglichkeit eines Freizügigkeitsrechts unter das Erfordernis ausreichender Existenzmittel gestellt, nicht dagegen in § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU. Das Freizügigkeitsrecht ist im Rahmen der Art 3 ff der Richtlinie 2004/38/EG auch auf Familienangehörige erstreckt worden, womit sichergestellt werden soll, dass die Europäische Union ihrer Pflicht zur Achtung des Familienlebens iSv Art 8 der Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) nachkommt (vgl dazu auch Schlachter, ZESAR 2011, 156; vgl dazu auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22.03.2018 - L 7 AS 1512/17 - juris). Dies dürfte ebenfalls für eine Auslegung zugunsten der ASt sprechen.
Bereits seit Einreise ist die Tochter offenbar für den Unterhalt der ASt aufgekommen. Es ist nicht ersichtlich, dass die ASt selbst über hinreichende Finanzmittel verfügt hat, so dass eine tatsächliche Abhängigkeit der ASt von ihrer Tochter besteht. Dass die Angaben, die Tochter habe die Miete gezahlt und die ASt mitversorgt, unzutreffend sein könnten, ist nicht ersichtlich. Die Tochter der ASt hat erklärt, auch künftig 200 EUR monatlich für den Unterhalt der ASt zu zahlen, sofern der Ag nicht ungekürzte Leistungen gewährt, so dass derzeit weiterhin von einer tatsächlichen und regelmäßigen Zuwendung von Mitteln für den Lebensunterhalt auszugehen ist. Würde dagegen die Tochter gar keine Unterhaltszahlungen mehr an die ASt leisten, so würde damit das Freizügigkeitsrecht aus § 2 Abs 2 Nr 6 iVm § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU wieder entfallen und - mangels anderem erkennbaren Aufenthaltsrecht neben dem alleine zur Arbeitssuche (insofern wird auf die Ausführungen des SG verwiesen und von einer weiteren Darstellung der Gründe abgesehen, § 142 Abs 2 Satz 3 SGG) - ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II vorliegen. Dem Hauptantrag im Rahmen der Beschwerde - eine Verurteilung des Ag zur vorläufigen Zahlung von Alg II ohne Anrechnung einer Unterhaltszahlung - kann daher nicht entsprochen werden.
Die Unterhaltszahlung iHv 200 EUR ist auch nicht völlig unwesentlich und geeignet, einen Teil des Lebensunterhaltes durch die ASt zu decken. So sind im Rahmen der Prüfung eines Arbeitnehmerstatus bereits deutlich geringere Einkommen als geeignet angesehen worden, um diesen nicht auszuschließen (vgl dazu zB Beschluss des Senats vom 06.02.2017 - L 11 AS 887/16 B ER - juris). Dies könnte auch für die Fälle der Unterhaltsgewährung als Erwägung entsprechend herangezogen werden. Zudem kann nicht vorgebracht werden, der Unterhalt würde letztlich nicht von der Tochter, sondern vielmehr durch den Ag über das dieser gewährte Alg II gezahlt. Die Tochter erhält lediglich aufstockendes Alg II und kann ihren Lebensunterhalt zum überwiegenden Teil mit ihrem Erwerbseinkommen bestreiten. Bei der Einkommensberücksichtigung im Rahmen der Leistungsbewilligung an die Tochter erfolgt eine Berücksichtigung von Freibeträgen. Ausweislich des letzten Bewilligungsbescheides vom 28.08.2018 wird insofern ein Betrag von 262,31 EUR nicht als Einkommen berücksichtigt. Die Unterhaltsleistung von 200 EUR würde sogar unter diesem Betrag liegen. Dies könnte es rechtfertigen auch für den Fall, dass ein Familienangehöriger sein Freizügigkeitsrecht von einem Freizügigkeitsberechtigten ableitet, der Alg II bezieht, eine Unterhaltsgewährung iSv § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU nicht auszuschließen. Ggf wird hier im Rahmen des Hauptsacheverfahrens eine abschließende Klärung der Auslegung des Begriffs des Familienangehörigen iSv § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU unter Berücksichtigung von EU-Recht noch vorzunehmen sein.
Sofern teilweise vertreten wird, dass der Unterhaltsbedarf und die tatsächliche Abhängigkeit bereits im Herkunftsland bestanden haben muss (vgl zu diesem Problem: LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 23.05.2018 - L 4 AS 913/17 B ER - und SG Augsburg, Urteil vom 20.10.2017 - S 8 AS 1071/17 - beide zitiert nach juris), kann es dahinstehen, ob diese Anforderung im Rahmen des § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU besteht. Jedenfalls hat die ASt schlüssig dargelegt, dass sie auch in Bulgarien vor der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland von Unterhaltsleistungen der Tochter gelebt hat, nachdem sie geschieden worden war, von ihrem geschiedenen Ehemann keinen Unterhalt bekommen und seit 2013 auch kein Erwerbseinkommen erzielt hat. Soweit hier Zweifel bestehen sollten, wären diese im Rahmen des Hauptsacheverfahrens weiter aufzuklären.
Nach alledem kann ein Leistungsausschluss iSv § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nicht mit Sicherheit angenommen werden. Der Bedarf der ASt beträgt 688,50 EUR monatlich und setzt sich aus dem Regelbedarf iHv 416 EUR (§ 20 SGB II) und den Bedarfen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II iHv 272,50 EUR (laut Vermieterbescheinigung: Grundmiete 400 EUR, Betriebskosten 35 EUR, Heizkosten 60 EUR und Warmwasserkosten 50 EUR; davon 1/2) zusammen. Anhaltspunkte dafür, dass (zunächst) nicht die hälftigen tatsächlichen Unterkunftskosten zu berücksichtigen wären, liegen nicht vor. Weshalb im Rahmen der Leistungsbewilligung für die Tochter vom Ag nur ein Betrag von 257,50 EUR berücksichtigt wird, ist den die ASt betreffenden Akten nicht zu entnehmen. In jedem Fall ist aber eine Kostensenkungsaufforderung gegenüber der ASt noch nicht ergangen. Dem würde ein anzurechnendes Einkommen iHv 200 EUR hinsichtlich des Unterhalts von der Tochter gegenüberstehen (§ 11 Abs 1 Satz 1 SGB II). Es ist nach der "eidesstattlichen Versicherung", sie werde weiterhin 200 EUR aus ihrem Einkommen und den Freibeträgen an die ASt leisten, soweit die ASt nicht das vollständige Alg II erhält - für das Hauptsacheverfahren wird hier zu prüfen sein, ob die Tochter auch während des Leistungsbezuges der ASt weiterhin diesen Unterhalt zahlt -, nicht ersichtlich, dass die Zahlung nicht als Einkommen in Geld zufließt. Abzusetzen wäre hiervon jedoch ein Freibetrag iHv 30 EUR monatlich nach § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB II iVm § 6 Abs 1 Nr 1 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (Alg II-V). Es ergäbe sich ein Anspruch iHv 518,50 EUR monatlich.
Am Vorliegen eines Anordnungsgrundes bestehen keine Zweifel. Es geht um existenzsichernde Leistungen und es ist weder vorgetragen noch für den Senat ersichtlich, dass die ASt in der Lage wäre, ihren Lebensunterhalt anderweitig, insbesondere durch Einkommen oder Vermögen, zu decken. Dies rechtfertigt es auch im Rahmen einer Interessenabwägung, den Ag zur vorläufigen Zahlung von Alg II iHv 393,70 EUR monatlich zu verurteilen. Der Senat hält es im Hinblick auf die offenen Erfolgsaussichten in der Hauptsache und zur Vermeidung deren Vorwegnahme für gerechtfertigt, vom Regelbedarf einen Abschlag im Umfang von 30% vorzunehmen (zur Möglichkeit der Vornahme eines solchen Abschlages vgl Beschluss des Senats vom 19.07.2017 - L 11 AS 439/17 B ER - juris). Unter Berücksichtigung des Regelbedarfs von 416 EUR ergibt sich damit ein Abschlag von 124,80 EUR (30% von 416 EUR).
Der Ag ist zur vorläufigen Zahlung von Alg ab 01.11.2018 zu verurteilen. Zwar setzt damit die Zahlungspflicht bereits vor der Beschlussfassung des Senats ein, es handelt sich aber insoweit im Hinblick auf die Regelung des § 37 Abs 2 Satz 2 SGB II nicht um Leistungen für bereits abgelaufene Leistungszeiträume dar, denn insoweit ist nur dem Umstand Rechnung zu tragen, dass mit der Neuregelung des § 37 SGB II zum 01.01.2011 auf die monatsweise Bedarfsdeckung abzustellen ist (vgl Beschluss des Senates vom 22.04.2015 - L 11 AS 236/15 B ER - nicht veröffentlicht). Eine darüberhinausgehende Verurteilung für vergangene Zeiträume ist mangels diesbezüglichem Anordnungsgrund - ein solcher wäre nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn ein noch gegenwärtig schwerer, irreparabler und unzumutbarer Nachteil glaubhaft gemacht wird, und ein besonderer Nachholbedarf durch die Verweigerung der Leistungen in der Vergangenheit auch in der Zukunft noch fortwirkt oder ein Anspruch eindeutig besteht (ständige Rspr des Senats, vgl nur Beschluss vom 12.04.2010 - L 11 AS 18/10 B ER - juris) - nicht angezeigt. Im Hinblick auf die Regelungen zum regelmäßigen Bewilligungszeitraum von einem Jahr (§ 41 Abs 3 Satz 1 SGB II) und den hier maßgeblichen Leistungsantrag vom Juni 2018 war die Verurteilung des Ag zur vorläufigen Zahlung von Alg II auf die Zeit bis längstens Mai 2019 zu beschränken.
Danach war der Beschluss des SG teilweise aufzuheben und der Ag zur vorläufigen Zahlung von Alg II iHv monatlich 393,70 EUR zu verurteilen. Im Übrigen war die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der analogen Anwendung des § 193 SGG.
Wegen der sich aus obigen Ausführungen ergebenden Erfolgsaussichten und dem Vorliegen der notwendigen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse war der ASt PKH für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen und ihr ihre Bevollmächtigter beizuordnen (§ 73a SGG iVm §§ 114 ff ZPO).
Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
II. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die Hälfte ihrer außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu erstatten.
III. Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung für das Beschwerdeverfahren bewilligt und Rechtsanwältin T. , A-Stadt, beigeordnet.
Gründe:
I.
Streitig sind im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts (Arbeitslosengeld II -Alg II-) nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die 1964 geborene Antragstellerin (ASt) ist bulgarische Staatsangehörige und reiste im September 2016 gemeinsam mit ihrer 1987 geborenen Tochter in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sie bewohnen gemeinsam eine von der Tochter angemietete Ein-Zimmer-Wohnung mit 39 qm (Grundmiete 400 EUR, Betriebskosten 35 EUR, Heizkosten 60 EUR und Warmwasserkosten 50 EUR). Die Tochter ist erwerbstätig und bezieht zu ihrem Erwerbseinkommen, das von Dezember 2017 bis Oktober 2018 zwischen monatlich 550,70 EUR und 840,44 EUR netto betrug (zuletzt für Oktober 2018: 755,29 EUR netto), aufstockendes Alg II vom Ag. Zuletzt wurden mit Bescheid vom 28.08.2018 vorläufig 207,19 EUR monatlich für September 2018 bis Februar 2019 unter Berücksichtigung der Hälfte der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung bewilligt. Die ASt übt keine Erwerbstätigkeit aus.
Nachdem ein im Januar 2018 gestellter Antrag der ASt auf Alg II vom Ag mit Bescheid vom 09.01.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23.04.2018 abgelehnt worden war, beantragte sie am 26.06.2018 erneut Alg II. Sie wohne zurzeit mietfrei bei ihrer Tochter. Den Antrag lehnte der Ag mit Bescheid vom 27.06.2018 wiederum ab. Es bestehe kein Anspruch, da sich das Aufenthaltsrecht der ASt alleine zum Zwecke der Arbeitssuche ergebe. Dagegen legte die ASt Widerspruch ein. Ihre Tochter trage alleine die Miete und die Kosten für Lebensmittel sowie notwendige Medikamente. Da die Tochter nur Teilzeit arbeite, könne sie sie nicht stärker unterstützen. Wegen einer Kostenübernahmeerklärung für eine Krankenhausbehandlung habe sie sich sogar für sie verschuldet. Wegen des von der Tochter seit Oktober 2016 gewährten Unterhalts stehe ihr ein Freizügigkeitsrecht zu. Den Widerspruch wies der Ag mit Widerspruchsbescheid vom 12.09.2018 zurück. Zwar könne es sein, dass die Tochter Unterhalt in Naturalien gewähre und die Unterkunftskosten vorstrecke. Würde die ASt Alg II erhalten, entfiele die Unterhaltsgewährung durch die Tochter und damit das Aufenthaltsrecht der ASt nach § 3 Abs 2 Nr 2 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) wieder. Im Übrigen würden die Unterhaltsleistungen jedenfalls zum Teil aus Mitteln des Ag stammen. Dagegen hat die ASt Klage beim Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben.
Die ASt hat beim SG einstweiligen Rechtsschutz hinsichtlich der Zahlung von Alg II unter Berücksichtigung der hälftigen Unterkunfts- und Heizkosten beantragt. Die Tochter gehe einer Teilzeitbeschäftigung nach und beziehe aufstockend Alg II. Nachdem diese zuletzt einige Vertretungen übernommen habe, sei das Gehalt höher ausgefallen, werde ab September 2018 aber wieder nur bei ca 500 EUR netto liegen. Die gesamten Miet- und Heizkosten bezahle die Tochter, so dass für deren eigenen Lebensunterhalt und für ihren Lebensbedarf nur ein relativ geringer Überschuss zum Leben verbleibe. Sie selbst absolviere derzeit eine Maßnahme im Rahmen eines Integrationsprojekts, erhalte dabei aber keine Leistungen zum Lebensunterhalt. Das Sozialamt habe ihr gesagt, es bestünde dort kein Leistungsanspruch. Der Lebensbedarf von ihr und ihrer Tochter sei mit den vorhandenen Mitteln nicht sichergestellt. Ihr stehe ein Aufenthaltsrecht nach § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU zu, da ihre Tochter die gesamten Unterkunfts- und Heizkosten übernehme und ihr die nötigsten Mittel zur Verfügung stelle. Eine Unterhaltsgewährung in geringem Umfang sei ausreichend. Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) kämen nicht in Betracht. Es werde zudem auf Entscheidungen des LSG Nordrhein-Westfalen (L 7 AS 1512/17) und des SG Augsburg (S 8 AS 1071/17) verwiesen. Das SG hat mit Ziffern I. und II. des Beschlusses vom 07.09.2018 den Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz abgelehnt. Mangels Ausreiseabsichten seien Leistungen nach dem SGB XII nicht Verfahrensgegenstand, die zudem ein aliud zum Alg II darstellen würden. Nach abschließender Prüfung fehle es an einem Anordnungsanspruch, da der ASt kein über ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche hinausgehendes Aufenthaltsrecht zustehe. Ein von der Tochter abgeleitetes Freizügigkeitsrecht nach § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU bestehe nicht, da es an einer ausreichenden Unterhaltsgewährung durch die Tochter fehle. Weil die Tochter selbst Alg II in Anspruch nehme, werde der Unterhalt mittelbar durch den Sozialleistungsträger gewährt. Unter Berücksichtigung von Erwägungsgrund 16 der Richtlinie 2004/38/EG, der auf die unangemessene Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen als Grenze des Aufenthaltsrechts hinweise, sei § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU dahingehend zu verstehen, dass zwingend eine Unterhaltsgewährung unmittelbar und ausschließlich durch den leistenden Unionsbürger sichergestellt sein müsse, um ein entsprechendes Freizügigkeitsrecht zu vermitteln. Bei der ASt handele es sich auch nicht um eine Verwandte in absteigender Linie oder um eine besonders abhängige Schutzbedürftige. Eine künftige Übernahme der Existenzsicherung durch den Ag würde zudem zum Verlust des Freizügigkeitsrechts und einem Leistungsausschluss führen. Es hätte bereits im Herkunftsland zumindest ein Abhängigkeitsverhältnis bestehen müssen, was nicht glaubhaft gemacht worden sei.
Dagegen hat die ASt Beschwerde zum Bayerischen Landessozialgericht (LSG) eingelegt und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (PKH) beantragt. Hilfsweise ist zudem beantragt worden, den Ag zur vorläufigen Zahlung von Alg II unter Berücksichtigung eines Unterhalts iHv 200 EUR zu verpflichten. Die Unterhaltsgewährung der Tochter sei ausreichend. Sie leiste aus ihrem Arbeitseinkommen den gesamten unerlässlichen Unterhaltsbedarf einschließlich der gesamten Unterkunfts- und Heizkosten. Nur eine völlig unwesentliche Unterhaltsgewährung sei anders zu bewerten. Die Freibeträge in Bezug auf das Arbeitseinkommen der Tochter ermöglichten den Einsatz für den Lebensunterhalt. Hilfsweise werde darauf hingewiesen, dass die Tochter im Fall einer Leistungsgewährung durch den Ag weiterhin bereit sei, 200 EUR monatlich an Unterhaltsleistungen zu erbringen. Insbesondere hätte sie bereits in Bulgarien von ihrer Tochter unterstützt werden müssen, nachdem sie aufgrund einer Scheidung vor 18 Jahren keinen Unterhalt von ihrem geschiedenen Ehemann erhalten habe und seit 2013 auch kein Arbeitseinkommen mehr erzielen können. Damit habe sie in Bulgarien keinen Krankenversicherungsschutz mehr gehabt. Der Fall sei mit Entscheidungen des SG Augsburg (S 8 AS 1071/17) und des LSG Berlin-Brandenburg (L 23 SO 30/17 B ER) vergleichbar.
Die ASt hat eine eidesstattliche Erklärung ihrer Tochter vorgelegt, wonach sie die ASt schon in Bulgarien aus ihrem Einkommen als Krankenpflegehelferin mit unterhalten habe. In Deutschland decke sie ebenfalls den Bedarf der ASt in Bezug auf Unterkunfts- und Heizkosten sowie den Lebensunterhalt. Sofern der Ag nicht die volle Höhe des Bedarfs und die hälftigen Unterkunfts- und Heizkosten übernehme, sei sie weiterhin bereit, aus ihrem Einkommen und den Freibeträgen einen Unterhaltsbeitrag von bis zu 200 EUR monatlich zu leisten.
Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die vom Ag vorgelegten Verwaltungsakten sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
II.
Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) und teilweise begründet.
Gegenstand des Rechtsstreites ist die (vorläufige) Zahlung von Alg II, die der Ag mit Bescheid vom 27.06.2018 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.09.2018 abgelehnt hat. Das Begehren der ASt kann im Rahmen einer Hauptsache grundsätzlich mit der von ihr bereits erhobenen kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage geltend gemacht werden, so dass vorliegend § 86b Abs 2 Satz 2 SGG die maßgebliche Rechtsgrundlage für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes darstellt.
Hiernach ist eine Regelung zulässig, wenn sie zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist etwa dann der Fall, wenn der Antragsteller ohne eine solche Anordnung schwere und unzumutbare, nicht anders abwendbare Nachteile entstehen, zu deren Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre (so BVerfG, Beschluss vom 25.10.1998 - 2 BvR 745/88 - BVerfGE 79, 69 (74); Beschluss vom 19.10.1977 - 2 BvR 42/76 - BVerfGE 46, 166 (179); Beschluss vom 22.11.2002 - 2 BvR 745/88 - NJW 2003, 1236). Die Regelungsanordnung setzt das Vorliegen eines Anordnungsgrundes - das ist in der Regel die Eilbedürftigkeit - und das Vorliegen eines Anordnungsanspruches - das ist der materiell-rechtliche Anspruch, auf den die ASt ihr Begehren stützt - voraus. Die Angaben hierzu hat die ASt glaubhaft zu machen (§ 86b Abs 2 Satz 2 und 4 SGG iVm § 920 Abs 2, § 294 Zivilprozessordnung -ZPO-; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl, § 86b Rn 41).
Zwischen Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch besteht dabei eine Wechselbeziehung. An das Vorliegen des Anordnungsgrundes sind dann weniger strenge Anforderungen zu stellen, wenn bei der Prüfung der Sach- und Rechtslage in dem vom BVerfG vorgegebenen Umfang (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 - Breith 2005, 803) das Obsiegen in der Hauptsache sehr wahrscheinlich ist. Ist bzw. wäre eine in der Hauptsache erhobene Klage offensichtlich unzulässig oder unbegründet, so ist wegen des fehlenden Anordnungsanspruches der Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen. Sind hierbei die Erfolgsaussichten in der Hauptsache offen, kommt dem Anordnungsgrund entscheidende Bedeutung zu.
Soweit existenzsichernde Leistungen in Frage stehen und deshalb eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung in den Grundrechten, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr beseitigt werden kann, droht, ist eine Versagung der Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes nur dann möglich, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist (vgl BVerfG, Beschluss vom 14.09.2016 - 1 BvR 1335/13). Für eine Entscheidung aufgrund einer sorgfältigen und hinreichend substantiierten Folgenabwägung ist nur dann Raum, wenn eine - nach vorstehenden Maßstäben durchzuführende - Rechtmäßigkeitsprüfung auch unter Berücksichtigung der Kürze der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren regelmäßig zur Verfügung stehenden Zeit nicht verwirklicht werden kann, was vom zur Entscheidung berufenen Gericht erkennbar darzulegen ist (vgl zum Ganzen auch: BVerfG, Beschluss vom 14.09.2016 - 1 BvR 1335/13; Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 - Breith 2005, 803; weniger eindeutig: BVerfG, Beschluss vom 06.08.2014 - 1 BvR 1453/12)
Ein Anordnungsanspruch kann vorliegend (derzeit) nicht mit Sicherheit verneint werden. Grundsätzlich erfüllt die ASt die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II für einen Anspruch auf Alg II. Sie hat das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7a SGB II noch nicht erreicht, ist erwerbsfähig - zumindest gibt es bislang keine hinreichenden Feststellungen des Ag, dass dies nicht der Fall ist - sowie hilfebedürftig und hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (§ 19 Abs 1 Satz 1, § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II). Fraglich ist allein, ob die ASt nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen ist. Danach sind ausgeschlossen, ua Ausländerinnen, (a) die kein Aufenthaltsrecht haben, (b) deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt oder (c) die ihr Aufenthaltsrecht allein oder neben einem Aufenthaltsrecht nach Buchstabe b aus Art 10 der Verordnung (EU) Nr 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.04.2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union (ABl L 141 vom 27.05.2011, S 1), die durch die Verordnung (EU) 2016/589 (ABl L 107 vom 22.04.2016, S 1) geändert worden ist, ableiten.
Es spricht einiges dafür, dass der ASt ein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs 2 Nr 6 iVm § 3 Abs 1 Satz 1 und Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU zustehen könnte. Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörige haben nach § 2 Abs 1 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe des FreizügG/EU. Die Tochter der Klägerin ist als Arbeitnehmerin und Unionsbürgerin - sie ist wie die ASt bulgarische Staatsangehörige - unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt nach § 2 Abs 2 Nr 1 1. Alternative FreizügG/EU. Arbeitnehmer in diesem Sinn ist, wer während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die als Gegenleistung eine Vergütung gewährt wird. Für eine entsprechende Beurteilung sind verschiedene Umstände, wie Arbeitszeit und die Höhe der Vergütung, ein Anspruch auf bezahlten Urlaub, die Geltung von Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die Anwendung des Tarifvertrags in der jeweils gültigen Fassung auf den Arbeitsvertrag sowie die Dauer des Arbeitsverhältnisses zu berücksichtigen (vgl auch BSG, Urteil vom 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R; EuGH, Urteil vom 04.02.2010 - C-14/09; Beschluss des Senats vom 06.02.2017 - L 11 AS 887/16 B ER; alle zitiert nach juris). Dabei ist der Arbeitnehmerbegriff iSv Art 45 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ein autonomer Begriff, der nicht eng auszulegen ist, so dass hierunter jeder fällt, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen (vgl dazu BSG, Urteil vom 19.10.2010 - B 14 AS 23/10 R; Urteil vom 13.07.2017 - B 4 AS 17/16 R; EuGH, Urteil vom 03.05.2012 - C-337/10; Urteil vom 26.03.2015 - C-316/13; Urteil vom 10.09.2014 - C-270/13; Beschluss des Senats vom 06.02.2017 - aaO; alle zitiert nach juris; Leopold in jurisPK-SGB II, 4. Auflage 2015, § 7 Rn 86). Auch wenn die Tochter aufstockende Leistungen vom Ag bezieht, so besteht im Hinblick auf den Umfang ihrer am 08.10.2016 aufgenommenen Tätigkeit, die sie als sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ausübt und dabei zuletzt zwischen 550,70 EUR und 840,44 EUR netto verdient hat, kein Zweifel daran, dass ein Arbeitnehmerstatus nach den genannten Kriterien bei ihr gegeben ist.
Die ASt könnte daher als Familienangehörige ihrer Tochter nach § 2 Abs 2 Nr 6 FreizügG/EU selbst ein Aufenthaltsrecht haben, das sich nicht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. So haben nach § 3 Abs 1 Satz 1 FreizügG/EU Familienangehörige ua der in § 2 Abs 2 Nr 1 1. Alternative FreizügG/EU genannten Unionsbürger ein Freizügigkeitsrecht, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen. Die ASt hat ihre Tochter, die im Hinblick auf ihren Arbeitnehmerstatus freizügigkeitsberechtigt ist, bei ihrer Einreise in die Bundesrepublik Deutschland im September 2016 begleitet. Sie ist auch Familienangehörige. Nach § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU sind Familienangehörige ua Verwandte in gerader aufsteigender Linie der ua in § 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU genannten Personen, denen diese Personen Unterhalt gewähren. Die ASt ist als Mutter eine Verwandte ihrer Tochter in gerader aufsteigender Linie.
Die Tochter leistet laut ihrer Angaben, die bislang nicht berechtigt in Zweifel gezogen worden sind, der ASt auch Unterhalt in diesem Sinne. Es ist ausreichend, dass die fortgesetzt und regelmäßig zugewandten Mittel zumindest zur Bestreitung eines Teils des Lebensunterhaltes geeignet sind (vgl LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11.12.2017 - L 2 AS 2057/17 B ER - mwN; LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 23.05.2018 - L 4 AS 913/17 B ER; zu § 1 Abs 2 Satz 2 AufenthG/EWG bereits BVerwG, Urteil vom 20.10.1993 - 11 C 1/93 - alle zitiert nach juris; so auch Nr 3.2.2.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum FreizügG/EU - AVV - vom 03.02.2016 - GMBl 2016, 86). Dem steht es nicht entgegen, wenn daneben Sozialleistungen in Anspruch genommen werden (vgl Tewocht in BeckOK, Stand 01.08.2018, § 3 FreizügG/EU Rn 15; so auch Nr 3.2.2.1 AVV). Dies zeigt auch der Vergleich mit dem in § 4 FreizügG/EU geregelten Freizügigkeitsrecht, für das bei nicht erwerbstätigen Unionsbürgern und deren Familienangehörigen gerade darauf abgestellt wird, dass ein ausreichender Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel zur Verfügung stehen müssen. Es kommt weiter nicht darauf an, ob ein Unterhaltsanspruch besteht bzw auf die Gründe für die Unterstützung (vgl LSG Nordrhein-Westfalen aaO; Tewocht aaO; Nr 3.2.2.1 AVV). Eine weite Auslegung der Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 (RL 2004/38/EG), die mit den Freizügigkeitsregelungen im Zusammenhang steht, ist unter Berücksichtigung des Umstandes, dass es um die Freizügigkeitsberechtigung von Arbeitnehmern geht, gerechtfertigt (vgl insoweit auch EuGH, Urteil vom 18.06.1987 - 316/85; BVerwG, Urteil vom 20.10.1993 - 11 C 1/93 - beide zitiert nach juris).
Soweit die Erwägungsgründe 10 und 16 der RL 2004/38/EG darauf hinweisen, dass eine unangemessene Inanspruchnahme von Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaates in bestimmten Fällen vermieden werden soll, dürfte dem keine überwiegende Bedeutung zukommen, so dass eine andere Auslegung damit nicht angezeigt sein dürfte. So wird in bestimmten Fällen wie in § 4 FreizügG/EU gerade die Möglichkeit eines Freizügigkeitsrechts unter das Erfordernis ausreichender Existenzmittel gestellt, nicht dagegen in § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU. Das Freizügigkeitsrecht ist im Rahmen der Art 3 ff der Richtlinie 2004/38/EG auch auf Familienangehörige erstreckt worden, womit sichergestellt werden soll, dass die Europäische Union ihrer Pflicht zur Achtung des Familienlebens iSv Art 8 der Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) nachkommt (vgl dazu auch Schlachter, ZESAR 2011, 156; vgl dazu auch LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 22.03.2018 - L 7 AS 1512/17 - juris). Dies dürfte ebenfalls für eine Auslegung zugunsten der ASt sprechen.
Bereits seit Einreise ist die Tochter offenbar für den Unterhalt der ASt aufgekommen. Es ist nicht ersichtlich, dass die ASt selbst über hinreichende Finanzmittel verfügt hat, so dass eine tatsächliche Abhängigkeit der ASt von ihrer Tochter besteht. Dass die Angaben, die Tochter habe die Miete gezahlt und die ASt mitversorgt, unzutreffend sein könnten, ist nicht ersichtlich. Die Tochter der ASt hat erklärt, auch künftig 200 EUR monatlich für den Unterhalt der ASt zu zahlen, sofern der Ag nicht ungekürzte Leistungen gewährt, so dass derzeit weiterhin von einer tatsächlichen und regelmäßigen Zuwendung von Mitteln für den Lebensunterhalt auszugehen ist. Würde dagegen die Tochter gar keine Unterhaltszahlungen mehr an die ASt leisten, so würde damit das Freizügigkeitsrecht aus § 2 Abs 2 Nr 6 iVm § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU wieder entfallen und - mangels anderem erkennbaren Aufenthaltsrecht neben dem alleine zur Arbeitssuche (insofern wird auf die Ausführungen des SG verwiesen und von einer weiteren Darstellung der Gründe abgesehen, § 142 Abs 2 Satz 3 SGG) - ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II vorliegen. Dem Hauptantrag im Rahmen der Beschwerde - eine Verurteilung des Ag zur vorläufigen Zahlung von Alg II ohne Anrechnung einer Unterhaltszahlung - kann daher nicht entsprochen werden.
Die Unterhaltszahlung iHv 200 EUR ist auch nicht völlig unwesentlich und geeignet, einen Teil des Lebensunterhaltes durch die ASt zu decken. So sind im Rahmen der Prüfung eines Arbeitnehmerstatus bereits deutlich geringere Einkommen als geeignet angesehen worden, um diesen nicht auszuschließen (vgl dazu zB Beschluss des Senats vom 06.02.2017 - L 11 AS 887/16 B ER - juris). Dies könnte auch für die Fälle der Unterhaltsgewährung als Erwägung entsprechend herangezogen werden. Zudem kann nicht vorgebracht werden, der Unterhalt würde letztlich nicht von der Tochter, sondern vielmehr durch den Ag über das dieser gewährte Alg II gezahlt. Die Tochter erhält lediglich aufstockendes Alg II und kann ihren Lebensunterhalt zum überwiegenden Teil mit ihrem Erwerbseinkommen bestreiten. Bei der Einkommensberücksichtigung im Rahmen der Leistungsbewilligung an die Tochter erfolgt eine Berücksichtigung von Freibeträgen. Ausweislich des letzten Bewilligungsbescheides vom 28.08.2018 wird insofern ein Betrag von 262,31 EUR nicht als Einkommen berücksichtigt. Die Unterhaltsleistung von 200 EUR würde sogar unter diesem Betrag liegen. Dies könnte es rechtfertigen auch für den Fall, dass ein Familienangehöriger sein Freizügigkeitsrecht von einem Freizügigkeitsberechtigten ableitet, der Alg II bezieht, eine Unterhaltsgewährung iSv § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU nicht auszuschließen. Ggf wird hier im Rahmen des Hauptsacheverfahrens eine abschließende Klärung der Auslegung des Begriffs des Familienangehörigen iSv § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU unter Berücksichtigung von EU-Recht noch vorzunehmen sein.
Sofern teilweise vertreten wird, dass der Unterhaltsbedarf und die tatsächliche Abhängigkeit bereits im Herkunftsland bestanden haben muss (vgl zu diesem Problem: LSG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 23.05.2018 - L 4 AS 913/17 B ER - und SG Augsburg, Urteil vom 20.10.2017 - S 8 AS 1071/17 - beide zitiert nach juris), kann es dahinstehen, ob diese Anforderung im Rahmen des § 3 Abs 2 Nr 2 FreizügG/EU besteht. Jedenfalls hat die ASt schlüssig dargelegt, dass sie auch in Bulgarien vor der Einreise in die Bundesrepublik Deutschland von Unterhaltsleistungen der Tochter gelebt hat, nachdem sie geschieden worden war, von ihrem geschiedenen Ehemann keinen Unterhalt bekommen und seit 2013 auch kein Erwerbseinkommen erzielt hat. Soweit hier Zweifel bestehen sollten, wären diese im Rahmen des Hauptsacheverfahrens weiter aufzuklären.
Nach alledem kann ein Leistungsausschluss iSv § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nicht mit Sicherheit angenommen werden. Der Bedarf der ASt beträgt 688,50 EUR monatlich und setzt sich aus dem Regelbedarf iHv 416 EUR (§ 20 SGB II) und den Bedarfen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II iHv 272,50 EUR (laut Vermieterbescheinigung: Grundmiete 400 EUR, Betriebskosten 35 EUR, Heizkosten 60 EUR und Warmwasserkosten 50 EUR; davon 1/2) zusammen. Anhaltspunkte dafür, dass (zunächst) nicht die hälftigen tatsächlichen Unterkunftskosten zu berücksichtigen wären, liegen nicht vor. Weshalb im Rahmen der Leistungsbewilligung für die Tochter vom Ag nur ein Betrag von 257,50 EUR berücksichtigt wird, ist den die ASt betreffenden Akten nicht zu entnehmen. In jedem Fall ist aber eine Kostensenkungsaufforderung gegenüber der ASt noch nicht ergangen. Dem würde ein anzurechnendes Einkommen iHv 200 EUR hinsichtlich des Unterhalts von der Tochter gegenüberstehen (§ 11 Abs 1 Satz 1 SGB II). Es ist nach der "eidesstattlichen Versicherung", sie werde weiterhin 200 EUR aus ihrem Einkommen und den Freibeträgen an die ASt leisten, soweit die ASt nicht das vollständige Alg II erhält - für das Hauptsacheverfahren wird hier zu prüfen sein, ob die Tochter auch während des Leistungsbezuges der ASt weiterhin diesen Unterhalt zahlt -, nicht ersichtlich, dass die Zahlung nicht als Einkommen in Geld zufließt. Abzusetzen wäre hiervon jedoch ein Freibetrag iHv 30 EUR monatlich nach § 11b Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB II iVm § 6 Abs 1 Nr 1 der Verordnung zur Berechnung von Einkommen sowie zur Nichtberücksichtigung von Einkommen und Vermögen beim Arbeitslosengeld II/Sozialgeld (Alg II-V). Es ergäbe sich ein Anspruch iHv 518,50 EUR monatlich.
Am Vorliegen eines Anordnungsgrundes bestehen keine Zweifel. Es geht um existenzsichernde Leistungen und es ist weder vorgetragen noch für den Senat ersichtlich, dass die ASt in der Lage wäre, ihren Lebensunterhalt anderweitig, insbesondere durch Einkommen oder Vermögen, zu decken. Dies rechtfertigt es auch im Rahmen einer Interessenabwägung, den Ag zur vorläufigen Zahlung von Alg II iHv 393,70 EUR monatlich zu verurteilen. Der Senat hält es im Hinblick auf die offenen Erfolgsaussichten in der Hauptsache und zur Vermeidung deren Vorwegnahme für gerechtfertigt, vom Regelbedarf einen Abschlag im Umfang von 30% vorzunehmen (zur Möglichkeit der Vornahme eines solchen Abschlages vgl Beschluss des Senats vom 19.07.2017 - L 11 AS 439/17 B ER - juris). Unter Berücksichtigung des Regelbedarfs von 416 EUR ergibt sich damit ein Abschlag von 124,80 EUR (30% von 416 EUR).
Der Ag ist zur vorläufigen Zahlung von Alg ab 01.11.2018 zu verurteilen. Zwar setzt damit die Zahlungspflicht bereits vor der Beschlussfassung des Senats ein, es handelt sich aber insoweit im Hinblick auf die Regelung des § 37 Abs 2 Satz 2 SGB II nicht um Leistungen für bereits abgelaufene Leistungszeiträume dar, denn insoweit ist nur dem Umstand Rechnung zu tragen, dass mit der Neuregelung des § 37 SGB II zum 01.01.2011 auf die monatsweise Bedarfsdeckung abzustellen ist (vgl Beschluss des Senates vom 22.04.2015 - L 11 AS 236/15 B ER - nicht veröffentlicht). Eine darüberhinausgehende Verurteilung für vergangene Zeiträume ist mangels diesbezüglichem Anordnungsgrund - ein solcher wäre nur ausnahmsweise anzunehmen, wenn ein noch gegenwärtig schwerer, irreparabler und unzumutbarer Nachteil glaubhaft gemacht wird, und ein besonderer Nachholbedarf durch die Verweigerung der Leistungen in der Vergangenheit auch in der Zukunft noch fortwirkt oder ein Anspruch eindeutig besteht (ständige Rspr des Senats, vgl nur Beschluss vom 12.04.2010 - L 11 AS 18/10 B ER - juris) - nicht angezeigt. Im Hinblick auf die Regelungen zum regelmäßigen Bewilligungszeitraum von einem Jahr (§ 41 Abs 3 Satz 1 SGB II) und den hier maßgeblichen Leistungsantrag vom Juni 2018 war die Verurteilung des Ag zur vorläufigen Zahlung von Alg II auf die Zeit bis längstens Mai 2019 zu beschränken.
Danach war der Beschluss des SG teilweise aufzuheben und der Ag zur vorläufigen Zahlung von Alg II iHv monatlich 393,70 EUR zu verurteilen. Im Übrigen war die Beschwerde zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf der analogen Anwendung des § 193 SGG.
Wegen der sich aus obigen Ausführungen ergebenden Erfolgsaussichten und dem Vorliegen der notwendigen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse war der ASt PKH für das Beschwerdeverfahren zu bewilligen und ihr ihre Bevollmächtigter beizuordnen (§ 73a SGG iVm §§ 114 ff ZPO).
Der Beschluss ist nicht anfechtbar (§ 177 SGG).
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