S 20 AS 6498/15

Land
Freistaat Sachsen
Sozialgericht
SG Dresden (FSS)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
20
1. Instanz
SG Dresden (FSS)
Aktenzeichen
S 20 AS 6498/15
Datum
2. Instanz
Sächsisches LSG
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
1. Unabweisbar kann ein durch eine medizinische Behandlungsmaßnahme ausgelöster Mehrbedarf gegenüber dem Regelbedarf dann sein, wenn die medizinisch notwendige Versorgung durch das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung beschränkt wird, d. h. wenn notwendige Kosten entstehen, für die die gesetzliche Krankenversicherung allerdings nicht aufzukommen hat. Dies kann auf Fahrtkosten zu ambulanten Arzt- und Therapieterminen zutreffen.
2. Der Gesetzgeber ist bei der aktuellen Ermittlung der Höhe des Regelbedarfs bereits an die Grenze dessen gekommen, was zur Sicherung des Existenzminimums verfassungsrechtlich gefordert ist (BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 - 1 BvL 10/12 -, BVerfGE 137, 34-103, Rn. 121). Es kann von dem Kläger daher nicht verlangt werden, durch Einsparungen an anderer Stelle Mittel beiseite zu legen, die er für die unabweisbaren Fahrtkosten aufwenden könnte.
3. Anknüpfungspunkt für das Merkmal der Erheblichkeit gemäß § 21 Abs. 6 SGB II ist letztlich die die Frage, ob das menschenwürdige Existenzminimum durch die Mehraufwendungen nicht mehr gewährleistet ist. Dies ist bei Fahrtkosten von rund 32 EUR pro Monat für einen Alleinstehenden zu bejahen.
I. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger einen Sonderbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II in Höhe von 24,80 EUR für November 2015, 22,80 EUR für Dezember 2015, 20,80 EUR für Januar 2016, 28,40 EUR für Februar 2016, 47,20 EUR für März 2016, 36,80 EUR für April 2016, 33,80 EUR für Mai 2016, 39,60 EUR für Juni 2016, 3,60 EUR für Juli 2016, 58,80 EUR für August 2016, 31,60 EUR für September 2016 und 35,60 EUR für Oktober 2016 zu zahlen. Die Bescheide vom 20. Oktober 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Dezember 2015 werden aufgehoben, soweit sie dem entgegenstehen. II. Der Beklagte hat dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu er-statten. III. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Gewährung eines Mehrbedarfes für Fahrtkosten zu Physiotherapie und ambulanten Arztbesuchen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch – Grundsiche-rung für Arbeitsuchende – (SGB II) für den Zeitraum November 2015 bis Oktober 2016. Der 1965 geborene Kläger bezieht Arbeitslosengeld II. Einen Leistungsantrag stellte er erstmals am 29. September 2004. Einen ersten Antrag auf Übernahme von Fahrtkosten zu Physiotherapie und ambulanten Arztbesuchen stellte er am 1. Juli 2014. Der Beklagte lehnte eine entsprechende Kostenübernahme ab. Mit dem Weiterbewilligungsantrag vom 17. Oktober 2015 beantragte der Kläger erneut die Übernahme von Fahrtkosten. Der Be-klagte bewilligte mit Bescheid vom 20. Oktober 2015 Leistungen für November 2015 bis Oktober 2016 in Höhe von monatlich 807,06 EUR ohne Berücksichtigung eines Mehrbedarfs für Fahrtkosten. Mit weiterem Bescheid vom 20. Oktober 2015 lehnte er die Übernahme von Sonderbedarfen ab. Der Kläger erhob am 23. November 2015 Widerspruch, den der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 10. Dezember 2015 zurückwies. Mit Bescheid vom 29. November 2015 bewilligte der Beklagte für Januar bis Oktober 2016 monatlich 812,06 EUR auf Grund der Erhöhung des Regelbedarfes. Der Kläger hat am 23. Dezember 2015 Klage vor dem Sozialgericht Dresden erhoben. Er trägt im Wesentlichen vor, im Jahr 2010 habe er einen Arbeitsunfall mit einem Knochen-bruch erlitten. Im Juni 2013 habe er einen weiteren Knochenbruch im Schienbein erlitten. Er könne schlecht lange Strecken laufen; beide Kniegelenke seien instabil. Der GdB be-trage 30. Dem Kläger seien für Fahrten mit seinem Auto zur Physiothera-pie/Bewegungsbad und zu ambulanten Arztbesuchen Kosten entstanden. Die Entfernung zur Physiotherapiepraxis betrage 9 km bzw. 1 km. Der Kläger habe vergeblich die Kos-tenerstattung bei seiner Krankenkasse beantragt. Gegen die Ablehnungsentscheidung habe er erfolglos Klage erhoben. Die Fahrtkosten seien nicht von der Regelleistung ge-deckt. Der Kläger beantragt: 1. Die Bescheide des Beklagten vom 20. Oktober 2015 in Gestalt des Wi-derspruchsbescheides vom 10. Dezember 2015 werden aufgehoben. 2. Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger einen Sonderbedarf für Fahrt-kosten zur Physiotherapie und ambulanten Arztbesuchen nach § 21 Abs. 6 SGB II in Höhe von 24,80 EUR für November 2015, 22,80 EUR für Dezember 2015, 20,80 EUR für Januar 2016, 28,40 EUR für Februar 2016, 47,20 EUR für März 2016, 36,80 EUR für April 2016, 33,80 EUR für Mai 2016, 39,60 EUR für Juni 2016, 3,60 EUR für Juli 2016, 58,80 EUR für August 2016, 31,60 EUR für September 2016 und 35,60 EUR für Oktober 2016 zu gewähren. Der Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen. Er verweist auf die Ausführungen in dem angefochtenen Widerspruchsbescheid. Wegen der weiteren Einzelheiten zum Sach- und Streitstand wird auf den Inhalt der Ge-richtsakte und der vom Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) ist be-gründet. Die Bescheide vom 20. Oktober 2015 in der Fassung des Bescheides vom 29. November 2015 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Dezember 2015 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten, soweit sie ihm die Gewährung eines Mehr-bedarfes nach § 21 Abs. 6 SGB II versagen. Der Kläger hat Anspruch auf Gewährung des Mehrbedarfes im streitgegenständlichen Zeitraum. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II erhalten Personen, die das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze des § 7a SGB II noch nicht erreicht haben, erwerbsfähig und hilfebedürftig sind und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland haben, Leistungen nach dem SGB II. Der Kläger erfüllt im streitgegenständlichen Zeitraum alle Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 bis 4 SGB II. Er hat nur Anspruch auf Leistungen, soweit er hilfebedürftig sind (§ 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II). Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigenden Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält (§ 9 Abs. 1 SGB II). Die Höhe des Anspruches auf Arbeitslosengeld II bemisst sich nach § 19 SGB II. Die Höhe des Regelbedarfs und der Bedarfe für Unterkunft und Heizung sind zwischen den Be-teiligten nicht streitig. Fehler bei der Berechnung der Ansprüche des Klägers sind diesbe-züglich auch nicht ersichtlich. Zusätzlich steht dem Kläger ein Mehrbedarf nach § 21 Abs. 6 SGB II im streitgegenständ-lichen Zeitraum zu. Nach dieser Vorschrift wird bei Leistungsberechtigten ein Mehrbedarf anerkannt, soweit im Einzelfall ein unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger beson-derer Bedarf besteht. Der Mehrbedarf ist unabweisbar, wenn er insbesondere nicht durch die Zuwendungen Dritter sowie unter Berücksichtigung von Einsparmöglichkeiten der Leistungsberechtigten gedeckt ist und seiner Höhe nach erheblich von einem durch-schnittlichen Bedarf abweicht. Der vom Kläger geltend gemachte Bedarf ist ein laufender Mehrbedarf im Einzelfall im Sinne von § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II. Zwar sind im Regelbedarf Anteile für Fahrtkosten enthalten, die auch Fahrten zu Arzt- und Physiotherapieterminen umfassen können. Aller-dings hat der Kläger nachvollziehbar dargelegt, dass er auf Grund seiner gesundheitlichen Situation im streitgegenständlichen Zeitraum außerordentlich häufig Arzt- und Phy-siotherapietermine wahrnehmen musste, die zudem wegen seines Wohnsitzes in F. mit einer überdurchschnittlichen Fahrstrecke, zumeist in die Landeshauptstadt Dresden, verbunden waren. Dadurch entstanden ihm Fahrtkosten, die den mit dem Regelbedarf zu bestreitenden durchschnittlichen Bedarf deutlich überschreiten und damit als Mehrbedarf im Sinne von § 21 Abs. 6 Satz 1 SGB II anzuerkennen sind. Es handelt sich vorliegend auch um einen regelmäßig wiederkehrenden, dauerhaften, längerfristigen Bedarf. Dies ergibt sich bereits aus der hohen Behandlungsfrequenz, die sich in den in der mündlichen Verhandlung verhandelten Verfahren über insgesamt fünf Jahre erstreckte. Der Bedarf ist auch unabweisbar. Die Physiotherapietermine waren jeweils ärztlich ver-ordnet und damit zur Aufrechterhaltung der Gesundheit des Klägers erforderlich. Die häu-figen Arzttermine waren in Anbetracht der Erkrankungen des Klägers ebenfalls erforder-lich. Der Unabweisbarkeit des Bedarfs steht nicht entgegen, dass Kosten im Streit stehen, die im Zusammenhang mit einer medizinischen Behandlung entstanden sind, die das Sozial-rechtssystem grundsätzlich dem SGB V zuweist (so noch: BSG, Urteil vom 26. Mai 2011 – B 14 AS 146/10 R –). Unabweisbar kann ein durch eine medizinische Behandlungs-maßnahme ausgelöster Mehrbedarf gegenüber dem Regelbedarf vielmehr dann sein, wenn die medizinisch notwendige Versorgung durch das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung beschränkt wird (BSG, Urteil vom 12. Dezember 2013 – B 4 AS 6/13 R –), d. h. wenn notwendige Kosten entstehen, für die die gesetzliche Krankenversi-cherung allerdings nicht aufzukommen hat. Dies kann auf Fahrtkosten zu ambulanten Arzt- und Therapieterminen zutreffen (so auch: SG Dresden, Urteil vom 10. November 2016 – S 28 AS 5929/12 –; Urteil vom 12. Dezember 2016 – S 3 AS 5728/14 –, juris; a. A. noch: Sächsisches Landessozialgericht, Beschluss vom 25. September 2013 – L 7 AS 83/12 NZB –). Eine Bedarfsdeckung durch Zuwendungen Dritter scheidet aus. Insbesondere konnte der Kläger keine Fahrtkostenerstattung nach dem SGB V von seiner Krankenkasse erreichen. Hierauf hat er, wie vom Sozialgericht Dresden mit Gerichtsbescheid vom 31. März 2016 – S 18 KR 540/15 – festgestellt, unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt einen Anspruch. Weitere mögliche Kostenträger sind nicht ersichtlich. Auch Einsparmöglichkeiten seitens des Klägers sind nicht erkennbar. Der Gesetzgeber ist bei der aktuellen Ermittlung der Höhe des Regelbedarfs bereits an die Grenze dessen gekommen, was zur Sicherung des Existenzminimums verfassungsrechtlich gefordert ist (BVerfG, Beschluss vom 23. Juli 2014 – 1 BvL 10/12 –, BVerfGE 137, 34-103, Rn. 121). Es kann von dem Kläger daher nicht verlangt werden, durch Einsparungen an anderer Stelle Mittel beiseite zu legen, die er für die unabweisbaren Fahrtkosten aufwenden könnte. Das Merkmal der Erheblichkeit gemäß § 21 Abs. 6 SGB II ist vorliegend ebenfalls erfüllt. Der Bedarf des Klägers zur Aufwendung der Fahrtkosten weicht seiner Höhe nach erheb-lich von einem durchschnittlichen Bedarf ab und unterfällt insofern nicht der speziellen Bagatellgrenze, die in § 21 Abs. 6 SGB II selbst durch das Tatbestandsmerkmal "erheblich" festgelegt worden ist. Es handelt sich hier um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der in vollem Umfang überprüfbar ist. Erheblich ist nach der Systematik der Norm ein atypischer Bedarf dann, wenn er von einem durchschnittlichen Bedarf in nicht nur unbedeutendem wirtschaftlichen Umfang abweicht. Anknüpfungspunkt ist letztlich die die Frage, ob das menschenwürdige Existenzminimum durch die Mehraufwendungen nicht mehr gewährleistet ist (BSG, Urteil vom 4. Juni 2014 – B 14 AS 30/13 R –, Rn. 28). Der Kläger hat im streitgegenständlichen Zeitraum monatlich durchschnittlich 31,98 EUR für Fahrtkosten zu ambulanten Arztterminen und Physiotherapie aufwenden müssen. Hierbei durfte er die Kilometerpauschale von 20 ct/km zu Grund legen (BSG, Urteil vom 4. Juni 2014, a. a. O., Rn. 28). Der Betrag ist erheblich im oben genannten Sinne. Es handelt sich nicht um einen Bagatellbetrag im Sinne der Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 4. Juni 2014, a. a. O., Rn. 30 ff. m. w. N.). Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG. Die Berufung, die der Zulassung bedarf, da der Wert des Beschwerdegegenstandes we-niger 750 EUR beträgt (§ 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG), war gemäß § 144 Abs. 2 Nr. 2 SGG zuzulassen, weil das Urteil auf einer Abweichung von dem Beschluss des Sächsischen Landessozialgerichts vom 25. September 2013 – L 7 AS 83/12 NZB – beruht.
Rechtskraft
Aus
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