S 35 AS 859/17

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Düsseldorf (NRW)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
35
1. Instanz
SG Düsseldorf (NRW)
Aktenzeichen
S 35 AS 859/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird verurteilt, unter Abänderung des Bescheides vom 10.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.01.2017 und des Bescheides vom 20.10.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.01.2017 der Klägerin für die Zeit vom 01.06.2016 bis 31.07.2017 die Kosten der Unterkunft Lweg 000 zu zahlen. Die Beklagte trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Klä-gerin. Der Klägerin wird Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt G aus N bewilligt.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten in einem Verfahren nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch - SGB II - um Leistungen für Unterkunft.

Die Klägerin stand im fraglichen Zeitraum laufend im Bezug von Leistungen nach dem SGB II.

Mit Bescheid vom 02.06.2016 wurden der Klägerin für die Zeit vom 01.06.2016 bis zum 30.11.2016 Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 404,- Euro bewilligt. Darin enthal-ten waren keine Unterkunftskosten. Mit Bewilligungsbescheid vom 20.10.2016 wurden auch für den Zeitraum vom 01.12.2016 bis zum 30.11.2017 nur Leistungen in Höhe von 404,- Euro, also Leistungen ohne Unterkunftskosten gewährt.

Mit Antrag vom 10.11.2016 beantragte die Klägerin die Überprüfung des Bescheides vom 02.06.2016. Dieser Antrag wurde mit Bescheid vom 10.11.2016 abgelehnt. Gegen den Bescheid vom 20.10.2016 legte die Klägerin unter dem 10.11.2016 Widerspruch ein. Die-ser wurde mit Widerspruchsbescheid vom 25.01.2016 als unbegründet zurückgewiesen. Der Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 10.11.2016 wurde mit weiteren Widerspruchsbescheid vom 24.01.2017 als sachlich unbegründet zurückgewiesen.

Die Beklagte legte der Zurückweisung der Widersprüche folgenden Sachverhalt zugrunde:

Die Klägerin reichte am 14.10.2015 ihre Jahresabrechnung der NEW für die Zeit vom 16.09.2014 bis zum 15.09.2015 ein. Diese Jahresabrechnung wies einen sehr niedrigen Energieverbrauch der Klägerin aus. Der künftige Abschlag für Strom wurde auf nur noch 12,- Euro monatlich festgesetzt. Die Beklagte veranlasste daraufhin, dass ihr Außen-dienst die Wohnung der Klägerin auf dem Lweg 000 in N begutachtete. Dabei stellte der Außendienst fest, dass sich die Wohnung der Klägerin im Dachgeschoß befindet und die Klägerin aufgrund gesundheitlicher Probleme die Treppen zum Dachgeschoß kaum bewäl-tigen konnte. In der Küche fand der Außendienst weder einen Herd noch einen Kühl-schrank vor. Es befanden sich in der Wohnung nur wenige Kleidungsstücke und ein Gäs-tebett. Die Klägerin hat im Verwaltungsverfahren hierzu erklärt, sie habe sich keine Woh-nungsausstattung anschaffen können und das vorhandene Gästebett sei für sie ausrei-chend. Sie halte sich – im Wesentlichen wegen der Erziehung ihres Sohnes – oft bei ihrem geschiedenen Ehemann tagsüber auf und nutze die Wohnung nur nachts zum Schlafen. Außerdem habe sie wegen eines Knie-Implantats zeitweise Schwierigkeiten gehabt, die Treppen zum Dachgeschoß zu bewältigen. Bei einem weiteren Besuch des Außendienstes in der Wohnung "Am C 00", des geschiedenen Ehemanns der Klägerin, wurde die Klägerin dort angetroffen. Damals hat der Ehemann den Ermittlungsdienst gegenüber erklärt, er würde für seine geschiedene Ehefrau kochen, einkaufen und waschen, diese würde aber immer wieder in ihre Wohnung zurückkehren. Bei diesem Sachverhalt bezweifelt die Be-klagte, dass die Klägerin die von ihr angemietete Wohnung bewohnt und hält deswegen die Zahlung von Miete und Nebenkosten für nicht angemessen im Sinne des § 22 SGB II.

Gegen die vorgenannten Widerspruchsbescheide hat die Klägerin unter dem 02.03.2017 Klage erhoben. Sie trägt vor, sie benötige ihre Wohnung lediglich zum Übernachten und habe ansonsten dort keine Bedürfnisse.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 10.11.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 24.01.2017 und unter Abänderung des Bescheides vom 20.10.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.01.2017 zu verurteilen, der Klägerin die Unterkunftskosten für die Wohnung Lweg 000 in 00000 N für die Zeit vom 01.06.2016 bis zum 31.07.2017 zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Das Gericht hat zur Sachverhaltsermittlung den geschiedenen Ehemann der Klägerin, Herrn U O1 O2 als Zeugen vernommen. Der Zeuge hat im Wesentlichen ausgesagt, dass die Klägerin sich – insbesondere während ihrer Knieerkrankung – öfter bei ihm aufgehal-ten habe, jedoch immer wieder in ihre Wohnung zurückgekehrt sei und dort im Wesentli-chen auch die Nächte verbracht habe.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zu den Ge-richtsakten gereichten Schriftsätze der Beteiligten Bezug genommen. Ihre Inhalte waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die form- und fristgerecht erhobene und daher zulässige Klage ist begründet.

Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -, denn die Bescheide erweisen sich als rechtswidrig.

Die Klägerin hat Anspruch auf Übernahme von Unterkunftskosten.

Nach § 22 Abs. 1 SGB II sind Bedarfe für Unterkunft und Heizung in Höhe der tatsächli-chen Aufwendungen von der Beklagten zu übernehmen, soweit diese angemessen sind. Die Klägerin hat entsprechende Unterkunftsbedarfe, denn sie hat eine Wohnung angemie-tet und ist in diesem Rahmen verpflichtet, den Mietzins und Nebenkosten zu entrichten. Die von der Klägerin laut Mietvertrag geschuldeten Kosten sind angemessen im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II, denn sie halten sich im Rahmen der Angemessenheitskriterien der Beklagten.

Die Kosten werden nicht etwa dadurch unangemessen, dass die Klägerin die Wohnung nur unregelmäßig und in einem Umfang nutzt, der erheblich unter dem üblichen Nut-zungsumfang einer Wohnung liegt. Die Kammer braucht nicht darüber zu entscheiden, wie zu befinden wäre, wenn eine Wohnung gar nicht genutzt würde. So liegt der Fall nämlich vorliegend nicht. Die Klägerin hat jedenfalls, auch nach den Feststellungen der Beklagten, die angemietete Wohnung insoweit in Beschlag genommen, dass sie diese mit Gegen-ständen ausgestattet hat und sich offenbar dort auch, zumindest gelegentlich, aufgehalten hat. Eine solche gelegentliche Nutzung schließt – nach Auffassung der Kammer – Leis-tungen für Unterkunft und Heizung nach dem SGB II nicht aus. Artikel 2 Abs. 1 Grundge-setz gewährt die allgemeine Handlungsfreiheit. Das Grundrecht enthält eine sehr weite und allgemeine Freiheitsverbürgung und beinhaltet dadurch eine Generalklausel der Frei-heitsrechte. Artikel 2 Abs. 1 Grundgesetz erlaubt jedem Bürger zu tun und zu lassen was er möchte, soweit Rechte Anderer dadurch nicht eingeschränkt werden und soweit sich der Bürger im Übrigen im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben bewegt. Von dem Freiheits-recht des Art. 2 ist vorliegend auch umfasst, dass sich die Klägerin aufhalten darf, wo sie will und wie lange sie will. Die Vorschrift des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II schränkt dieses Grundrecht nicht ein, zumal der Beklagten und damit der Allgemeinheit durch eine nur ge-ringfügige Nutzung der Wohnung keine Nachteile oder Kosten entstehen und damit "Rech-te Anderer" im Sinne des Art 2 Abs. 1 GG gar nicht tangiert sein können. Vorliegend hat die Klägerin durch die nur geringfügige Nutzung ihrer Wohnung die Nebenkosten sogar – zu Gunsten der Allgemeinheit – auf ein Minimum reduziert.

Die Aufwendungen für eine Unterkunft werden auch nicht dadurch "unangemessen" im Sinne des § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB II, dass die Anmietung einer Wohnung als nicht "unbe-dingt notwendig" erscheint, weil die Klägerin ebenso gut im Hause ihres geschiedenen Ehemanns (mit-)wohnen könnte. § 22 SGB II unterstellt grundsätzlich immer die Notwen-digkeit einer (eigenen) Wohnung. Eine weitergehende Prüfung, in welchem Umfang diese dann tatsächlich genutzt wird, sieht das Gesetz nicht vor. Auch wer auf der Straße lebt und nur einen sicheren Unterschlupf für kalte Tage benötigt, oder wer das ganze Jahr auf einem Campingplatz verlebt und die eigne Wohnung nur als Rückzugsort für Notfälle be-reithält, hat – nach Auffassung der Kammer - grundsätzlich Anspruch auf Unterkunftskos-ten. In der Anmietung einer eigenen Wohnung realisiert sich das Grundrecht auf freie Ent-faltung der Persönlichkeit, denn das Recht auf eine eigene Wohnung gehört zu den grund-legenden Menschenrechten (BT-Drs. 14/5663,67). Der Gesetzgeber des SGB II unterstellt damit, dass das Innehaben einer eigenen Wohnung grundsätzlich "notwendig" im Sinne des Gesetzes ist (vergl. auch BverfGE 125,175), wobei das Grundbedürfnis Wohnen aus-drücklich nicht nur den Schutz vor Wind und Wetter (Dach über dem Kopf), sondern gera-de auch den Schutz der Privatsphäre, also des Wohnens in den "eigenen vier Wänden" gewährleistet (BVerfG a.a.O.).

Diese Notwendigkeit ist nicht vom Umfang der Nutzung der Wohnung abhängig. Die Kammer hält es deswegen für bedenklich, wenn das Landessozialgericht NRW die Kläge-rin in dem Verfahren S 35 AS 1253/17 ER faktisch auf die Nutzung einer anderen Woh-nung, hier sogar die des geschiedenen Ehemannes, verweist. Die Klägerin wird auf die-sem Wege gezwungen, dauerhaft in einer Wohnung mit Personen zusammen zu wohnen, mit denen sie nicht (dauernd) zusammen wohnen will. In der vorliegenden Konstellation hält die Kammer diesen Verweis jedenfalls für grundrechtlich sehr bedenklich, zumal nun-mehr zu erwarten ist, dass einem künftigen Auszug aus der Wohnung des geschiedenen Ehemanns § 22 Abs. 1 Nr. 2 SGB II entgegengehalten werden dürfte.

Unabhängig davon geht die Kammer allerdings auch davon aus, dass die Klägerin die von ihr angemietete Wohnung auch in nicht ganz unerheblichem Umfang bewohnt hat. Nach der Aussage des geschiedenen Ehemanns hat sie dort jedenfalls ganz überwiegend über-nachtet, auch wenn sie die Wohnung – nach ihrer Knieoperation – wohl zeitweise gar nicht betreten konnte und deswegen gezwungener Maßen zeitweise anderswo unterkommen musste.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 183, 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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