L 15 SO 133/19 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
15
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 70 SO 331/19 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 15 SO 133/19 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Die in § 2 Abs. 3 SGB X normierte Leistungspflicht der ursprünglich örtlich zuständigen Behörde endet mit dem Erlass eines ablehnenden Bescheides der örtlich zuständig gewordenen Behörde. Dies gilt auch, wenn die örtlich zuständig gewordene Behörde aus anderen Gründen als der Frage der örtlichen Zuständigkeit einen Ablehnungsbescheid erteilt. Allerdings muss nach Auffassung des Senats der ablehnende Bescheid des zuständig gewordenen Leistungsträgers dann den Anforderungen der §§ 45 ff SGB X genügen. Nach Einschätzung des Senats wollte der Gesetzgeber einem Leistungsempfänger, für den sich die örtliche Zuständigkeit des Leistungsträgers ändert, mit der Vorschrift des § 2 Abs. 3 SGB X den Schutz der §§ 45 ff SGB X weitgehend erhalten.
Auf die Beschwerde des Antragsgegners zu 2. wird der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 9. April 2019 aufgehoben, soweit (auch) für die Zeit ab dem 5. März 2019 die aufschiebende Wirkung des Widerspruches gegen den Bescheid vom 25. September 2018 festgestellt worden war. Im Übrigen wird die Beschwerde des Antragsgegners zu 2. gegen den Beschluss vom 9. April 2019 zurückgewiesen. Der Antragsgegner zu 1. wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller ab dem 5. März 2019 bis zum 31. Dezember 2019, längstens bis zur Bestandskraft seines Bescheides vom 20. Februar 2019, vorläufig Leistungen der Hilfe zur Pflege in dem in dem Bescheid des Antragsgegners zu 2. vom 8. August 2016 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 22. Februar 2017 bewilligten Umfang zu gewähren. Der Antragsgegner zu 1. hat dem Antragsteller die außergerichtlichen Kosten des gesamten einstweiligen Anordnungsverfahrens zu erstatten. Weitere Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die Beschwerde des Antragsgegners zu 2. gegen den Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 9. April 2019, mit dem dieses festgestellt hatte, dass der Widerspruch (inzwischen die Klage vom 15. April 2019, Az. S 9 SO 54/19 des Sozialgerichts Frankfurt/Oder) des Antragstellers gegen den Aufhebungsbescheid des Antragsgegners zu 2. vom 25. September 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. März 2019 aufschiebende Wirkung hat, ist nur zum Teil begründet. Der Beschluss des Sozialgerichts war rechtmäßig, soweit für die Zeit bis zur Bekanntgabe des Bescheides des Antragsgegners zu 1. vom 20. Februar 2019, dem Antragsteller zugegangen am 5. März 2019, die aufschiebende Wirkung des Widerspruches festgestellt worden war. Bis zu diesem Zeitpunkt bleibt es bei dem in § 86a Abs. 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) vorgesehenen Regelfall der aufschiebenden Wirkung des Widerspruches bzw. der Klage. Insoweit war die Beschwerde des Antragsgegners zu 2. zurückzuweisen.

Mit Erlass seines Ablehnungsbescheides vom 20. Februar 2019 hat der Antragsgegner zu 1. seine örtliche Zuständigkeit anerkannt. Die Ablehnung hat er nicht mit einer örtlichen Unzuständigkeit begründet sondern damit, dass er, der Antragsgegner zu 1., im Rahmen der Hilfebedarfsermittlung neben den Hilfen nach dem Sozialgesetzbuch/Fünftes Buch (SGB V) von 20,33 Stunden pro Tag einen täglichen Hilfebedarf für die ambulante Pflege ab 16. August 2018 in Höhe von 3,67 Stunden pro Tag für die erste Pflegekraft und zusätzlichen 3,0 Stunden pro Tag für die - seines Erachtens nur zeitweise erforderliche - zweite Pflegekraft festgestellt habe. Dieser festgestellte Hilfebedarf sei durch die vorrangigen Leistungen der Pflegeversicherung im Rahmen des Pflegegrades 5 von 1.995,00 Euro, dem eigenen Einkommen des Antragstellers und dem zur Verfügung stehenden Vermögen ausreichend gedeckt. Dabei ging der Antragsgegner zu 1. davon aus, dass der Erlös aus dem Verkauf der Eigentumswohnung des Antragstellers als Vermögen zu berücksichtigen sei. Im Laufe des Verfahrens hat er vorgetragen, er bezweifle die Angabe des Antragstellers, dieses Vermögen wieder für den Erwerb einer Eigentumswohnung verwenden zu wollen. Außerdem bemängelt er, dass der Antragsteller Geschäftsführer des ihn pflegenden Pflegedienstes ist und dabei 2.500 Euro monatliches Gehalt bezieht, obwohl der Pflegedienst - so der Antragsgegner zu 1. - als einzigen zu Pflegenden den Antragsteller betreue.

Die Tatsache, dass der Antragsgegner zu 1. seinen ablehnenden Bescheid nicht mit der mangelnden örtlichen Zuständigkeit begründet hat, rechtfertigt es, ab diesem Zeitpunkt § 2 Abs. 3 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch (SGB X) nicht mehr anzuwenden und den Antragsgegner zu 1. als den tatsächlich und unstreitig zuständigen Leistungsträger zur vorläufigen (Weiter-)Leistung zu verpflichten. In Rechtsprechung und Literatur zu § 2 Abs. 3 SGB X wird vertreten, dass, da sich nur der Zuständigkeitswechsel vorerst nicht auf die Leistungen auswirken solle, die bisherige und nach der Übernahme erst recht die neue Behörde die Leistungen (teilweise) einstellen könne, wenn anspruchsbegründende Umstände entfallen seien (I. Palsherm in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, Stand 1. Juli 2019, § 2 SGB X, Rn. 22 m.w.N.). Die genannte Vorschrift lautet:

Hat die örtliche Zuständigkeit gewechselt, muss die bisher zuständige Behörde die Leistungen noch solange erbringen, bis sie von der nunmehr zuständigen Behörde fortgesetzt werden. Diese hat der bisher zuständigen Behörde die nach dem Zuständigkeitswechsel noch erbrachten Leistungen auf Anforderung zu erstatten. § 102 Abs. 2 gilt entsprechend.

Der Senat geht nach der im einstweiligen Anordnungsverfahren nur möglichen summarischen Prüfung davon aus, dass die in § 2 Abs. 3 SGB X normierte Leistungspflicht der ursprünglich örtlich zuständigen Behörde mit dem Erlass eines ablehnenden Bescheides der örtlich zuständig gewordenen Behörde endet. Allerdings muss nach Auffassung des Senats der ablehnende Bescheid des zuständig gewordenen Leistungsträgers den Anforderungen der §§ 45 ff SGB X genügen. Nach Einschätzung des Senats wollte der Gesetzgeber einem Leistungsempfänger, für den sich die örtliche Zuständigkeit des Leistungsträgers ändert, mit der Vorschrift des § 2 Abs. 3 SGB X den Schutz der §§ 45 ff SGB X weitgehend erhalten. Würde sich die örtliche Zuständigkeit nicht ändern, könnte die Leistungsbewilligung, die hier durch den Antragsgegner zu 2. mit Bescheid vom 8. August 2016 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 22. Februar 2017 unbefristet erfolgt war, auch nur unter den Voraussetzungen der §§ 45 ff SGB X zurückgenommen bzw. aufgehoben werden. So war in den Materialien zum Gesetzentwurf eines Sozialgesetzbuches (Drucksache des Deutschen Bundestages 8/2034 vom 4. August 1978, Seite 30) ausgeführt worden, dass der neu eingefügte Absatz 3 sicherstelle, dass während des Zuständigkeitswechsels eine Unterbrechung der Leistungen nicht eintrete. Beruht aber wie im vorliegenden Fall die Ablehnung der Leistung zumindest nicht nur auf dem Eintritt geänderter Verhältnisse, sondern zumindest zum Teil auf einer anderen Einschätzung der medizinischen und pflegerischen Notwendigkeiten oder ist dies unklar, so ist der ablehnende Bescheid zum Schutz des Hilfebedürftigen an den Vorschriften der §§ 45ff SGB X zu messen. Dies bedeutet u.a., dass der Antragsgegner zu 1. die Voraussetzungen einer Änderung oder einer ursprünglichen Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides des zuerst zuständigen Trägers darzulegen und ggf. nachzuweisen hat. Weiter bedeutet es grundsätzlich, dass Widerspruch und Klage gegen diesen Bescheid gemäß § 86a Abs. 1 Satz 1 SGG aufschiebende Wirkung haben. Der Senat hat zur Klarstellung in der Beschlussformel trotzdem einen Anordnungstenor gewählt und nicht nur die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs festgestellt, weil sich aus dem ablehnenden Bescheid des Antragsgegners zu 1. vom 20. Februar 2019 nicht erschließt, dass es sich um einen Aufhebungs- bzw. Rücknahmebescheid handeln könnte.

Zum jetzigen Zeitpunkt dürfte der Bescheid vom 20. Februar 2019 auch rechtswidrig sein. Als Rechtsgrundlage kommt entweder § 45 SGB X in Betracht, sofern der Bescheid vom 8. August 2016 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 22. Februar 2017 bereits bei seinem Erlass rechtswidrig war, weil ein Bedarf an einer zweiten 24 Stunden anwesenden Pflegekraft nicht bestanden hat. Sofern sich der Pflegebedarf geändert hat, kommt § 48 SGB X als Rechtsgrundlage in Betracht. Die Einschätzung des Antragsgegners zu 1., eine zweite Pflegekraft sei nur für 180 Minuten am Tag notwendig, steht dabei im Widerspruch zu den Einschätzungen des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) vom 25. August 2011, 19. Februar 2016 und 3. März 2016, wonach eine 24-stündige Betreuung mit einer zweiten Pflegekraft notwendig sei, weil die Lagerungen, für die diese behilflich sein müsse, auf den ganzen Tag verteilt seien. Da diese Einschätzung offensichtlich durch einen Arzt bestätigt wurde (sozialmedizinisches Gutachten vom 3. März 2016), bedürfte eine Änderung diesbezüglich wohl auch einer Einschätzung einer oder eines - mit Pflegefragen vertrauten - Ärztin oder Arztes. Dem Antragsgegner zu 1. dürfte hier, wie gesagt, die materielle Nachweispflicht treffen.

Ähnliches gilt für den Einsatz von Vermögen. Hier kommt als Rechtsgrundlage nur § 48 SGB X, also eine Änderung der Verhältnisse, in Betracht, weil das Vermögen aus dem Verkauf der selbstgenutzten Eigentumswohnung herrührt. Solange der Antragsteller in seiner Wohnung selbst gewohnt hat, kam eine Verwertung des Vermögens nicht in Betracht. Ob sich dies durch den Verkauf der Wohnung und den Umzug nach Berlin geändert hat, ist fraglich. Das Verlangen der Verwertung des Vermögens wäre dann ausgeschlossen, wenn der Erlös aus dem Verkauf der Anschaffung einer neuen Eigentumswohnung dienen soll, wie es der Antragsteller vorträgt. Dann wäre es gemäß § 90 Abs. 2 Nr. 3 Sozialgesetzbuch/Zwölftes Buch (SGB XII) nicht einzusetzen. Auch insoweit wäre der Antragsgegner zu 1. beweispflichtig, dass das Vermögen nicht geschützt ist.

Der Senat hat für die Zeit ab Bekanntgabe des Ablehnungsbescheides vom 20. Februar 2019, also ab dem 5. März 2019, den Antragsgegner zu 1. verpflichtet, weil er der tatsächlich örtlich zuständige Leistungsträger ist und damit der sachnähere. Deshalb kann dahinstehen, ob auch eine Leistungspflicht des Antragsgegners zu 2. nach Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen den Bescheid des Antragsgegners zu 2. vom 25. September 2018 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. März 2019 gemäß § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG in Betracht gekommen wäre. Bezüglich des Bescheides vom 25. September 2018 hatte der Antragsgegner zu 2. mit Schreiben (von ihm als Bescheid bezeichnet) vom 25. April 2019, bekanntgegeben am 30. April 2019, die sofortige Vollziehung angeordnet. Ob mit dem Erlass des Bescheides des Antragsgegners vom 20. Februar 2019 sich das Widerspruchsverfahren gegen den Bescheid vom 25. September 2018 erledigt hatte oder ob das Widerspruchsverfahren (und jetzt das anhängige Klageverfahren) möglicherweise vom Antragsgegner zu 1. (und nicht vom Antragsgegner zu 2.) hätte weitergeführt werden müssen, kann dahingestellt bleiben, weil jedenfalls auch eine Verpflichtung des Antragsgegners zu 1. in Betracht kam und vorzuziehen war, auch weil dadurch möglicherweise die vom Antragsgegner zu 2. (zu Recht) befürchteten Schwierigkeiten bei der Frage der Erstattung der Leistungsträger untereinander geringer sein dürften. Eine endgültige Klärung bleibt dem Hauptsacheverfahren vorbehalten.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG analog. Sie berücksichtigt, dass mit Eingang des Antrages auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Sozialgericht am 5. März 2019 die örtliche Zuständigkeit bereits von dem Antragsgegner zu 1. anerkannt worden war.

Gegen diesen Beschluss gibt es kein Rechtsmittel (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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