S 3 SO 552/17

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Duisburg (NRW)
Sachgebiet
Sozialhilfe
Abteilung
3
1. Instanz
SG Duisburg (NRW)
Aktenzeichen
S 3 SO 552/17
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 07.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.10.2017 verurteilt, die ungedeckten Kosten für die Inanspruchnahme der Einrichtung der Beigeladenen durch die Klägerin für den Zeitraum vom 01.06.2017 bis zum 30.11.2019, also Kosten in Höhe von insgesamt 26.693,59 EUR zu übernehmen. Die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin trägt die Beklagte.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten um die Übernahme ungedeckter Heimkosten der Klägerin durch die Beklagte als Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des Sozialgesetzbuches Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) für die Zeit ab Juni 2017.

Die im Jahre 19xx geborene Klägerin bezieht eine Witwenrente von der Deutschen Rentenversicherung Rheinland. Sie verfügt über ein Girokonto bei der S.-Bank (IBAN: DExx xxxx xxxx xxxx xxxx xx), ein Sparbuch bei der Sparkasse M. (Kontonummer: xxxxxxxxx), einer Lebensversicherung bei der A. Lebensversicherung AG (Vertragsnummer: xxxxxxxx xxx) sowie einer Sterbegeldversicherung bei der R.-W. Sterbekasse Lebensverischerung AG (Vertragsnummer: xxxxxxxxxxxxx). Bevollmächtigter der Klägerin u.a. für Angelegenheiten der Gesundheits- und Vermögenssorge ist der Sohn der Klägerin, Herr Detlef S. Seit dem 01.01.2017 ist die Klägerin dem Pflegegrad 3 zugeordnet und erhält entsprechende Leistungen der sozialen Pflegeversicherung.

Seit Mai 2011 befindet sich die Klägerin in vollstationärer Heimpflege in einer Einrichtung der Beigeladenen. Für den Zeitraum von Mai 2011 bis Mai 2014 übernahm die Beklagte die ungedeckten Heimkosten der Klägerin zunächst darlehensweise, da die Klägerin zur Hälfte Eigentümerin eines bebauten Grundstückes war. Nach dem Verkauf des Grundstücks zahlte die Klägerin das Darlehen an die Beklagte zurück. Aus dem verbleibenden Verkaufserlös finanzierte die Klägerin die ungedeckten Heimkosten bis einschließlich Januar 2017 selbst.

Zwischen dem 29.01.2017 und dem 13.02.2017 verstarb der Cousins der Klägerin, Herr Axel D. Am 28.03.2017 schlug die Klägerin die Erbschaft nach dem Verstorbenen aus. Ihr Sohn und Bevollmächtigter schlug das Erbe ebenfalls aus. Mit Beschluss vom 31.03.2017 ordnete das Amtsgericht M. aufgrund einer ungeklärten Erbenstellung und eines vorhandenen sicherungsbedürftigen Nachlasses eine Nachlasspflegschaft an. Aus einem durch die Nachlasspflegerin erstellten vorläufigen Nachlassverzeichnis ergab sich ein Wert des Nachlasses in Höhe von etwa 430.000 EUR.

Ab Februar 2017 gewährte die Beklagte der Klägerin zunächst Pflegewohngeld. Nachdem die Beklagte durch eine anonyme Mitteilung von der Erbausschlagung der Klägerin erfuhr, hob sie den entsprechenden Bewilligungsbescheid rückwirkend auf. Nach einem vor dem Verwaltungsgericht D. geführten gerichtlichen Verfahren nahm die Beklagte die Pflegewohngeldzahlung wieder auf.

Am 21.04.2017 beantragte die Klägerin telefonisch Sozialhilfe bei der Beklagten. Am 27.06.2017 ging ein formeller Antrag auf Sozialhilfe (Hilfe zur Pflege) der Klägerin bei der Beklagten ein. Auf Nachfrage der Beklagten zum Grund der Erbausschlagung erklärte die Klägerin, dass sie das Erbe ausgeschlagen habe, da zu diesem Zeitpunkt nicht aufgeklärt gewesen sei, ob der Nachlass eventuell überschuldet gewesen sei. Um die sechswöchige Frist des §§ 1944 BGB zu wahren, habe sie daher am 28.03.2017 das Erbe ausgeschlagen. Sie habe befürchtet, dass das Erbe überschuldet gewesen sei.

Mit Bescheid vom 07.09.2017 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin mit der Begründung ab, dass der Nachranggrundsatz des § 2 SGB XII einem Anspruch der Klägerin entgegenstehe, da die Klägerin die Hilfebedürftigkeit durch den Erbverzicht vorsätzlich bzw. grob fahrlässig herbeigeführt habe. Ohne den Erbverzicht wäre sie in der Lage gewesen, die entstehenden Heimpflegekosten aus eigenen Mitteln selbst zu leisten. Die Erbausschlagung der Klägerin sei gemäß § 138 BGB sittenwidrig, da sie lediglich erfolgt sei, um Leistungen der öffentlichen Hand in Anspruch zu nehmen. Die Beklagte verwies hierzu auf einen Beschluss des Bayerischen LSG vom 30.07.2017 (L 8 SO 146/15 B ER) und des OLG Stuttgart vom 25.06.2001 (8 W 494/99).

Am 29.09.2017 legte die Klägerin gegen den ablehnenden Bescheid Widerspruch ein. Diesen begründete sie insbesondere damit, dass es ihr freigestanden habe, das Erbe nach dem Verstorbenen auszuschlagen. Die Klägerin verwies hierzu auf ein Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH, Urteil vom 19.01.2011 - IV ZR 7/10). Auch das Oberlandesgericht H. habe bereits festgestellt, dass es nicht sittenwidrig sei, wenn ein Sozialhilfeempfänger seine ihm zufallende werthaltige Erbschaft ausschlage und deswegen eine Sozialhilfebedürftigkeit fortbestehe (OLG Hamm, Urteil vom 27.10.2016, Az. I-10 U 13/16). Im Übrigen habe sie auch gute Gründe gehabt, die Erbschaft auszuschlagen. Zum einen sei bis heute die Werthaltigkeit der Erbschaft noch ungewiss. Zum anderen habe sie das Erbe deshalb ausgeschlagen, weil sich in der Erbmasse ein Grundstück befand und sie mit ihren 92 Jahren die Lasten der Verwaltung eines solchen mit anderen Miterben nicht habe übernehmen wollen. Deshalb habe auch ihr Sohn die Erbschaft ausgeschlagen.

Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 27.10.2017, nach beratender Beteiligung sozialerfahrener Dritter, im Wesentlichen mit den Argumenten aus dem Bescheid vom 29.09.2017 zurück.

Mit Klage vom 28.11.2017 wendet sich die Klägerin gegen die Ablehnung der begehrten Leistungen, im Wesentlichen mit den im Widerspruchsverfahren vorgetragenen Argumenten.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 07.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.10.2017 zu verurteilen, die ungedeckten Kosten für die Inanspruchnahme der Einrichtung der Beigeladenen für den Zeitraum vom 01.06.2017 bis zum 30.11.2019, also Kosten in Höhe von insgesamt 26.693,59 EUR zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Erwiderung trägt die Beklagte im Wesentlichen die Argumente aus dem Widerspruchsverfahren vor.

Das Gericht hat die Nachlassakte des Verstorbenen beigezogen, auf die verwiesen wird. Im Übrigen wird auf die Gerichtsakte sowie die die Klägerin betreffende Leistungsakte der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe:

I. Gegenstand des Klageverfahrens im Sinne des § 95 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ist der Bescheid der Beklagten vom 07.09.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27.10.2017. Mit dem Bescheid hat die Beklagte Leistungen an die Klägerin ohne zeitliche Beschränkung auf Dauer abgelehnt. Entsprechend dem Antrag der Klägerin ist in zeitlicher Hinsicht der Zeitraum vom 01.06.2017 bis zum 30.11.2019 gegenständlich.

Statthafte Klageart ist die kombinierte Anfechtungs-, Verpflichtungs- und Leistungsklage gem. § 54 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4, 56 SGG (vgl. zur Notwendigkeit einer Verpflichtungsklage zusätzlich zur Anfechtungs- und Leistungsklage in den Fällen des sozialhilferechtlichen Dreiecksverhältnisses BSG, Urteil vom 28.10.2008, B 8 SO 22/07 R). Denn die Beklagte schuldet einen Schuldbeitritt zu der vertraglichen Zahlungsverpflichtung der Klägerin gegenüber der Beigeladenen. Die Klage ist auch im Übrigen zulässig.

II. Die Klage ist auch begründet. Der angefochtene Bescheid beschwert die Klägerin, da er rechtswidrig ist (§ 54 Abs. 2 Satz 1 SGG). Die Klägerin hat einen Anspruch auf Leistungen der Hilfe zur Pflege in Gestalt einer Übernahme der ungedeckten Kosten für die Inanspruchnahme der Einrichtung der Beigeladenen für den Zeitraum vom 01.06.2017 bis zum 30.11.2019, also in Höhe von insgesamt 26.693,59 Euro gemäß § 19 Abs. 3 i.V.m. den §§ 61 ff. SGB XII.

1. Die Beklagte ist als kreisfreie Stadt örtlicher Träger der Sozialhilfe und damit für die Gewährung von Leistungen der Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII sachlich zuständig (vgl. § 97 Abs. 1 SGB XII i.V.m. § 1 des Ausführungsgesetzes zum SGB XII für das Land Nordrhein-Westfalen (AG-SGB XII NRW)).

2. Zweifel an der formellen Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides bestehen nicht. Die fehlende Anhörung der Klägerin vor Erlass des (Ausgangs-)Bescheides vom 07.09.2017 ist gemäß § 41 Abs. 1 Nr. 3 SGB X unbeachtlich, da der Klägerin im Widerspruchsverfahren zu allen wesentlichen Tatsachen, auf die die Beklagte ihre Entscheidung gestützt hat, rechtliches Gehör gewährt wurde.

3. Der Bescheid ist materiell rechtswidrig. Die Klägerin hat einen Anspruch auf die begehrten Leistungen, der sich aus § 19 Abs. 3 i.V.m. den §§ 61 ff. SGB XII ergibt. Nach § 19 Abs. 3 SGB XII wird Hilfe zur Pflege nach dem Siebten Kapitel des SGB XII geleistet, soweit den Leistungsberechtigten, ihren nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartnern und, wenn sie minderjährig und unverheiratet sind, auch ihren Eltern oder einem Elternteil die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach den Vorschriften des Elften Kapitels dieses Buches nicht zuzumuten ist. Gemäß § 61 Satz 1 SGB XII haben Personen, die pflegebedürftig im Sinne des § 61a sind, Anspruch auf Hilfe zur Pflege. Gemäß §§ 63 Abs. 1 Nr. 5, 65 SGB XII umfasst die Hilfe zur Pflege für Pflegebedürftige der Pflegegrade 2, 3, 4 und 5 u.a. auch stationäre Pflege.

a. Die Klägerin war in dem streitgegenständlichen Zeitraum pflegebedürftig im Sinne der §§ 61 Satz 1, 61a Abs. 1 Satz 1 SGB XII. Bei ihr war der Pflegegrad 3 festgestellt worden. Sie erhielt entsprechende Leistungen der Pflegekasse.

b. Die Aufbringung der Mittel aus dem Einkommen und Vermögen nach den Vorschriften des Elften Kapitels des SGB XII war der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum nicht möglich. Dabei ist auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Entstehung der Kosten abzustellen, also auf den Zeitpunkt der (jeweiligen) Fälligkeit der gegenüber der Klägerin von Seiten der Beigeladenen geltend gemachten Forderung (vgl. BSG, Urteil vom 23.08.2013 - B 8 SO 24/11 R). Entsprechend der Erklärung der Beigeladenen in dem Termin zur mündlichen Verhandlung vom 04.12.2019 bestimmte der Wohn- und Betreuungsvertrag der Klägerin die Fälligkeit jeweils monatlich 15 Tage nach Rechnungsstellung durch die Beigeladene. Die Leistungen wurden jeweils für den laufenden Monat im Voraus abgerechnet.

aa. Die Höhe der streitgegenständlichen ungedeckten Heimkosten ergibt sich aus den Rechnungen der Beigeladenen für den Zeitraum von Juni 2017 bis November 2019 (Bl. 133 bis 171 und 190 bis 203 der Gerichtsakte). Sie belaufen sich für diesen Zeitraum auf insgesamt 26.693,59 Euro (vgl. Rechnungen der Beigeladenen, ebenda sowie OP-Auszug der Beigeladenen vom 03.12.2019, Bl. 205 der Gerichtsakte: 28.671,20 Euro abzüglich der Rechnungen aus Dezember 2019 für die im Dezember 2019 erbrachten Leistungen).

bb. Der Klägerin war es nicht möglich, die Heimkosten monatlichen mit den Leistungen der Pflegeversicherung, der Witwenrente und dem Pflegewohngeld vollständig zu decken. Die Heimkosten überstiegen monatlich das anrechenbare Einkommen der Klägerin (§ 82 SGB XII; vgl. Rechnungen der Beigeladenen, ebenda).

cc. Dem Anspruch der Klägerin steht auch kein verwertbares und einzusetzendes Vermögen i.S.d. § 90 SGB XII entgegen.

aaa. Ihr verwertbares Vermögen hatte die Klägerin nicht vorrangig zur Deckung ihres Bedarfs einzusetzen, da es nach § 90 Abs. 2 Nr. 9, Abs. 3 SGB XII geschont war. Das verwertbare Vermögen der Klägerin bestand in dem streitgegenständlichen Zeitraum aus einem Girokontoguthaben in Höhe von zwischen 1.719,98 Euro am 01.06.2017 und 398,20 Euro am 08.11.2019 (Konto der Klägerin bei der S-Bank, IBAN: DExx xxxx xxxx xxxx xxxx xx, Bl. 84 bis 121 und 207 bis 222 der Gerichtsakte), einem Sparbuchguthaben in Höhe von etwa 2.600 Euro (Sparbuch der Klägerin bei der Sparkasse M., Kontonummer: xxxxxxxxx, Bl. 206 der Gerichtsakte) sowie einem Rückvergütungsanspruch aus der Lebensversicherung in Höhe von 349,00 Euro (Lebensversicherung der Klägerin bei der A. Lebensversicherung AG, Vertragsnummer: xxxxxxxx xxx) und überstieg den Schonbetrag des § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII in Höhe von 5.000 Euro nicht. Die Sterbegeldversicherung der Klägerin bei der R.-W. Sterbekasse Lebensverischerung AG stellt als angemessener Bestattungsvorsorgevertrag Schonvermögen der Klägerin gemäß § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XII dar.

bbb. Es kann offen bleiben, ob zu dem Vermögen der Klägerin vorliegend auch Gegenstände gehören, die sie – bei Annahme einer Nichtigkeit der Erbausschlagung – als Miterbin aufgrund des Erbfalls erhalten hat. Durch eine Erbschaft erlangte Gegenstände hätte die Klägerin grundsätzlich vorrangig zur Abwendung von Hilfebedürftigkeit einzusetzen (vgl. BSG, Urteil vom 27.01.2009 - B 14 AS 42/07 R). Da der Erbfall vor der Antragstellung der Klägerin lag, wären diese Gegenstände dem Vermögen der Klägerin, nicht ihrem Einkommen zuzurechnen (vgl. BSG, Urteil vom 25.01.2012 - B 14 AS 101/11 R). Sie stünden der Klägerin zu, wenn ihre am 28.03.2017 gegenüber dem Nachlassgericht erklärte Erbausschlagung - wie die Beklagte meint - sittenwidrig und damit gemäß § 138 Abs. 1 BGB nichtig wäre. Nach Auffassung der Kammer dürfte eine Sittenwidrigkeit der Erbausschlagung nicht anzunehmen sein.

Insbesondere unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs dürfte die Klägerin mit der Erbausschlagung in zulässiger Weise von ihrem Recht aus § 1942 Abs. 1 BGB Gebrauch gemacht haben, die Erbschaft nach dem Verstorbenen auszuschlagen (vgl. BGH, Urteil vom 19.01.2011 - IV ZR 7/10; s. auch LSG NRW, Urteil vom 06.08.2012 - L 19 AS 771/12, Rn. 40; OLG Hamm, Urteil vom 27.10.2016 - Az. I-10 U 13/16). Der BGH weist in der zitierten Entscheidung darauf hin, dass - auch in Fällen etwaiger nachteiliger Wirkungen für die Allgemeinheit - grundsätzlich alle im Erbrecht vom Gesetz bereitgestellten Gestaltungsinstrumente ausgeschöpft werden können. "Die Entscheidung darüber, ob eine Person eine Erbschaft erhalten möchte, wird zunächst durch die Privatautonomie gedeckt wird. Grundsätzlich ist jeder frei in seiner Entscheidung, ob er Erbe eines anderen oder auf andere Art etwas aus dessen Nachlass bekommen will. Vor diesem Hintergrund ist der Erbrechtsgarantie in Art. 14 Abs. 1 GG auch ein Gegenstück im Sinne einer "negativen Erbfreiheit" zu entnehmen. Wenn einerseits Erblasser frei darin sind, andere zu ihren Erben einzusetzen, ist dies andererseits nur insofern zu billigen, als die Betroffenen damit einverstanden sind. Es gibt keine Pflicht zu erben oder sonst etwas aus einem Nachlass anzunehmen. Wenigstens muss den Betreffenden das Recht zur Ausschlagung zustehen, um sich gegen den vom Gesetz vorgesehenen Von-selbst-Erwerb (§§ 1922, 1942 BGB) wehren zu können. Die grundsätzliche Ablehnungsmöglichkeit gegenüber Zuwendungen ist notwendiger Widerpart, der einen unmittelbar wirksamen Vermögensübergang ohne eigenes Zutun erst rechtfertigt" (vgl. ebenda, Rn. 27).

Der BGH weist weiter darauf hin, dass für Dritte mittelbar durch das Rechtsgeschäft verursachte nachteilige Wirkungen von diesen grundsätzlich hinzunehmen sind und die Wirksamkeit des Geschäfts im Regelfall nicht berühren. Sofern etwaige Nachteile Dritter – wie der öffentlichen Hand – ausgeglichen werden sollen, bedarf dies gesetzlicher Regelungen (z.B. durch Schadensersatz-, Bereicherungs- oder Wertausgleichsansprüche; Möglichkeiten einer Anfechtung; Wegfall oder Beschränkung von Ansprüchen gegen Dritte etc., vgl. ebenda, Rn. 21).

Der Beklagten ist zwar dahingehend zuzustimmen, dass es in der zitierten Entscheidung des BGH nicht primär um die Sittenwidrigkeit einer Erbausschlagung, sondern um den Pflichtteilsverzicht eines behinderten Leistungsempfängers ging. Der BGH weist in der Entscheidung jedoch auf die Vergleichbarkeit der beiden Fälle hin (vgl. ebenda, Rn. 25, 27).

Soweit die Beklagte auf die Rechtsprechung des OLG Stuttgart vom 25.06.2001 verweist, ist zu beachten dass diese Entscheidung zeitlich vor der Entscheidung des BSG ergangen ist.

Anders als die Beklagte meint, vertritt auch das LSG Bayern in der durch die Beklagte zitierten Entscheidung (Urteil vom 30.07.2015 - L 8 SO 146/15 B ER) nicht die Auffassung, dass die jenem Verfahren zugrundeliegende Erbausschlagung sittenwidrig gewesen sei. Gegenstand des Verfahrens war die Überleitung eines Anspruchs nach § 93 SGB XII. Das Gericht stellte (lediglich) fest, dass die Unwirksamkeit der Erbausschlagung nicht völlig ausgeschlossen gewesen sei und daher keine Negativevidenz bestanden habe. Wie auch die Kammervorsitzende in dem hier streitgegenständlichen Verfahren, wies das LSG Bayern darauf hin, dass die volle Überprüfung der Sittenwidrigkeit dem fachlich berufenen Zivilrechtsweg vorbehalten bleibt (vgl. ebenda).

Für eine verbindliche gerichtliche Klärung einer Sittenwidrigkeit der Erbausschlagung ist die Beklagte auf die Möglichkeit einer Durchsetzung etwaiger gemäß § 93 Abs. 1 Satz 1 SGB XII überzuleitender Ansprüche vor den Zivilgerichten zu verweisen. Anders als die Beklagte vielleicht meint, kann der Rechtsstreit nicht zur Vermeidung eines teureren Zivilprozesses vor dem Sozialgericht ausgetragen werden (vgl. Bl. 558 der die Klägerin betreffende Leistungsakte der Beklagten).

ccc. Selbst bei Annahme einer Sittenwidrigkeit der Erbausschlagung würden etwaige Vermögensgegenstände, die die Klägerin aufgrund des Erbfalls erhalten hätte, kein verwertbares Vermögen der Klägerin im Sinne des § 90 Abs. 1 SGB XII darstellen und einem Leistungsanspruch damit nicht entgegenstehen. Die Klägerin wäre insbesondere Inhaberin eines Anteil an dem Nachlass des verstorbenen Cousins, über den die Klägerin nach § 2033 Abs. 1 BGB verfügen könnte, und eines Anteil am Auseinandersetzungsguthaben (§§ 2042 ff. BGB) geworden.

Vermögen ist verwertbar, wenn seine Gegenstände verbraucht, übertragen und belastet werden können. Ist der Inhaber dagegen in der Verfügung über den Gegenstand beschränkt und kann er die Aufhebung der Beschränkung nicht erreichen, ist von der Unverwertbarkeit des Vermögens auszugehen (rechtliches Verwertungshindernis). Darüber hinaus enthält der Begriff der Verwertbarkeit auch eine tatsächliche Komponente. Die Verwertung muss für den betreffenden einen Ertrag bringen, durch den er, wenn auch nur kurzzeitig, seinen Bedarf decken kann (kein tatsächliches Verwertungshindernis). Dabei muss für jeden Bewilligungszeitraum im Vorhinein eine Prognose getroffen werden, ob und welche Verwertungsmöglichkeiten bestehen, die geeignet sind, Hilfebedürftigkeit abzuwenden. Eine Unverwertbarkeit im Sinne des § 90 Abs. 1 SGB XII liegt vor, wenn völlig ungewiss ist, wann mit der Verwertbarkeit gerechnet werden kann (vgl. BSG, Urteil vom 27.01.2009 - B 14 AS 42/07 R; LSG NRW, Urteil vom 13.10.2014 - L 20 SO 20/13). Im Bereich der Hilfe zur Pflege ist regelmäßig von einem zwölfmonatigen Bewilligungszeitraum auszugehen.

Rechtliche Hindernisse für eine Verwertbarkeit etwaiger Anteile der Klägerin an dem Nachlass oder an dem Auseinandersetzungsguthaben bestehen im Fall der Klägerin nicht. Bei Annahme einer Sittenwidrigkeit der Erbausschlagung der Klägerin wäre das Vermögen des Erblassers mit dem Erbfall gemäß § 1922 Abs. 1 BGB im Wege der Gesamtrechtsnachfolge auf die Klägerin und ihre Miterben als Ganzes übergegangen; der Nachlass stünde den Miterben gemeinschaftlich zur gesamten Hand zu (§ 2032 BGB). Solange die Erbengemeinschaft ungeteilt fortbesteht, kann der einzelne Miterbe zwar nicht über einzelne Nachlassgegenstände, jedoch über seinen Anteil an dem Nachlass als solchen verfügen (§ 2033 Abs. 1 BGB). Die mit Beschluss des Amtsgericht M. vom 31.03.2017 angeordnete Nachlasspflegschaft hat keinen Einfluss auf die Verfügungsbefugnis der Erben (vgl. Heinemann in BeckOGK, Stand: 01.07.2019, § 1960 BGB, Rn. 89 f.; Leipold in Münchener Kommentar zum BGB, 8. Auflage 2020, § 1960, Rn. 53).

Nach Überzeugung der Kammer wäre die Klägerin tatsächlich jedoch nicht in der Lage gewesen, die Verwertung eines Anteils des Nachlass oder des Auseinandersetzungsguthabens innerhalb von zwölf Monaten herbeizuführen. Denkbar wäre insbesondere eine Verwertung durch Übertragung des Erbteils im Wege des Erbschaftsverkaufs oder durch eine Verpfändung des Miterbenanteils

Auch wenn die Klägerin als Miterbin über ihren Anteil an dem Nachlass grundsätzlich gemäß § 2033 Abs. 1 Satz 1 BGB verfügen könnte, war im Rahmen der vorzunehmenden Prognoseentscheidungen zu Beginn der jeweiligen Bewilligungszeiträume davon auszugehen, dass ihr ein Verkauf oder eine Verpfändung des Erbteils innerhalb von zwölf Monaten nicht möglich gewesen ist. Auch ein etwaiger Anspruch der Klägerin auf Auseinandersetzung (§§ 2042 Abs. 1, 2046 ff. BGB) und ein damit verbundener Anspruch auf einen Anteil am Auseinandersetzungsguthaben nach § 2047 BGB wäre voraussichtlich nicht innerhalb von zwölf Monaten verwertbar gewesen. In diesem Zusammenhang ist insbesondere zu berücksichtigen, dass die Klägerin gegenüber dem Nachlassgericht am 28.03.2017 (vor Beantragung der gegenständlichen Leistungen bei der Beklagten am 21.04.2017) das Erbe ausgeschlagen hat. Zur Realisierung etwaiger Rechte aus der Erbschaft müsste die Klägerin daher zunächst die Unwirksamkeit der Erbausschlagung aufgrund der Sittenwidrigkeit geltend machen. Hinzu kommt, dass das Nachlassgericht aufgrund der unbekannten Erbenstellung und des sicherungsbedürftigen Nachlasses mit Beschluss vom 31.03.2017 eine Nachlasspflegschaft angeordnet hat. Aus der beigezogenen Nachlassakte ergibt sich, dass ein Erbschein bis zur Beiziehung der Akte im August 2019 nicht erteilt wurde. Ausweislich eines Antrages auf Erteilung eines Erbscheins vom 05.09.2018 dürften zehn Personen Erben des Verstorbenen geworden sein. Selbst wenn die Erbausschlagung der Klägerin sittenwidrig gewesen sein sollte, und die Klägerin mithin nach § 2033 Abs. 1 S. 1 BGB über ihren Anteil an dem Nachlass verfügen dürfte und nach § 2042 Abs. 1 BGB die Erbauseinandersetzung verlangen könnte, müsste die Klägerin sich hierzu auf die Sittenwidrigkeit der Erbausschlagung und damit ihre Unwirksamkeit berufen. Vor dem Hintergrund der sowieso offensichtlich schwierigen Erbauseinandersetzung ist nicht vorhersehbar, wieviel Zeit die Geltendmachung dieser Rechte erfordern würde. Es dürfte zu erwarten sein, dass die Klägerin diese Ansprüche klageweise geltend machen müsste. Dies führt dazu, dass für die streitgegenständlichen Bewilligungszeiträume nicht absehbar gewesen wäre, wann sie einen wirtschaftlichen Nutzen aus dem Auseinandersetzungsanspruch hätte ziehen können.

Auch eine rechtlich mögliche Verpfändung des Miterbenanteils erscheint im Rahmen der vorzunehmenden Prognoseentscheidung unter Berücksichtigung des konkreten Sachverhaltes tatsächlich nicht realisierbar. In Betracht dürfte insbesondere die Verpfändung an eine Bank kommen. Hierzu müsste die Klägerin ggf. der Bank unter anderem ihre Stellung als Miterbin nachweisen. Mangels Erbschein ist ihr dies nicht möglich. Es erscheint auch unrealistisch, dass die Klägerin bei Geltendmachung der Unwirksamkeit der Erbausschlagung gegenüber dem Nachlassgericht innerhalb von zwölf Monaten einen auf sich lautenden Erbschein des Nachlassgerichtes erhalten könnte.

Etwaiges Vermögen der Klägerin, über das sie bei Annahme einer Sittenwidrigkeit der Erbausschlagung verfügen könnte, wäre also tatsächlich nicht verwertbar.

c. Entgegen der Auffassung der Beklagten steht auch der Nachranggrundsatz des § 2 SGB XII einem Anspruch der Klägerin nicht als solcher entgegen. Die Pflicht zur Selbsthilfe gemäß § 2 SGB XII gilt nur im Rahmen der Vorschriften des SGB XII. So ist der Einsatz von Einkommen und Vermögen nur nach Maßgabe der §§ 82-92 a SGB XII einzusetzen (s.o.).

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt dem Ausgang des Verfahrens.
Rechtskraft
Aus
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