S 36 (17) U 350/98

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Dortmund (NRW)
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
36
1. Instanz
SG Dortmund (NRW)
Aktenzeichen
S 36 (17) U 350/98
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 2 U 10/01
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 23.09.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.11.1998 verurteilt, unter Anerkennung des Unfalls vom 17.06.1993 als Arbeitsunfall Entschädigungsleistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Tatbestand:

Die ... geborene Klägerin begehrt die Gewährung von Entschädigungsleistungen unter Anerkennung eines Unfalls als Arbeitsunfall.

Die Klägerin fuhr am - mit mehreren Bekannten nach L ... zur Gastwirtschaft ..., um dort eine Musikveranstaltung zu besuchen. So gegen ... Uhr bemerkte die Klägerin, dass ein Bekannter, Herrn ..., fehlte. Die Klägerin und der Zeuge ... suchten Herrn ... und fanden ihn auf der anderen Fahrbahnseite der Landesstraße in einem Graben liegend vor. Offensichtlich war Herrn ... infolge übermäßigen Alkoholgenusses in den Graben gefallen. Die Klägerin und Herrn ... begaben sich zurück zur Gastwirtschaft, um Hilfe zu holen. Mit dem Zeugen gingen sie erneut über die Straße zu Herrn ... Sie haben versucht, Herrn ... aus dem Graben zu holen. Nachdem die Zeugen ... und ... merkten, dass sie dies allein schafften, wollte die Klägerin dann in Richtung Gaststätte zurückkehren, um einen Pkw für den alkoholisierten Herrn ... vorzubereiten. Beim Überqueren der Landesstraße ... wurde sie von einem Pkw erfasst und erlitt erhebliche Verletzungen.

Die Klägerin beantragte im März 1998, diesen Unfall als Arbeitsunfall anzuerkennen und zu entschädigen, da sie als Helferin bei einem Unglücksfall selbst verunglückt sei. Sie, die Klägerin, und zwei weitere Freunde, nämlich Herrn ... und Herrn ... hätten Herrn ... in stark angetrunkenem Zustand auf der gegenüberliegenden Straßenseite neben der Fahrbahn liegen sehen. Sie hätten dann beschlossen, den hilflos am Straßenrand liegenden Herrn ... in ein geparktes Fahrzeug für den Abtransport zu legen. Sie, die Klägerin, habe die Straße überqueren wollen, um den Pkw vorzubereiten, d.h. die Sitze flachzulegen.

Der Beklagte zog das Urteil des Landgerichts Oldenburg vom 15.01.1997 sowie des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 06.02.1998 und Unterlagen der Polizei ... bei.

Mit Bescheid vom 23.09.1998 lehnte der Beklagte eine Entschädigung aus Anlass des Unfalls vom 17.06.1993 ab. Der Beklagte führte aus, das Verhalten der Klägerin sei eine Gefälligkeitsleistung gewesen. Die Tatsache, dass ein Auto hergerichtet werden sollte, um einen, im Graben Liegenden darin zu transportieren, spräche nicht dafür, dass eine erhebliche gegenwärtige Gefahr für Körper oder Gesundheit oder gar Lebensgefahr angenommen werden müsse. Zudem hätte sich der Betreffende nicht in einem direkten Gefahrenbereich befunden.

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 30.09.1998 Widerspruch ein. Sie führte aus, sie habe Herrn ... der aufgrund seiner Trunkenheit hilflos im Straßengraben gelegen habe, Hilfe leisten wollen. Dies sei keine Gefälligkeit gewesen. Vielmehr hätte, sie sich strafbar gemacht, wenn sie nicht entsprechend gehandelt hätte.

Mit Widerspruchsbescheid vom 12.11.1998 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Gegen diesen Widerspruchsbescheid hat die Klägerin am 26.11.1998 Klage erhoben.

Sie ist der Auffassung, sie habe einen Anspruch aus der gesetzlichen Unfallversicherung, weil sie bei Nothilfe geleistet habe. Dies ergäbe sich bereits aus § 323 c des Strafgesetzbuches. Bei Herrn ... habe die Gefahr einer Alkoholvergiftung bestanden. Zudem habe Herrn ... an Erbrochenem ersticken können. Auch habe die Gefahr bestanden, dass Herrn ... wenn er wieder wach geworden wäre - über die Straße getorkelt wäre. Dabei habe die Gefahr bestanden, dass er hätte überfahren werden können. Sie, die Klägerin, habe die Sitze für den Pkw herrichten wollen, damit Herrn ... hätte sicher untergebracht werden können.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung des Bescheides vom 23.09.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.11.1998 den Beklagten zu verurteilen, unter Anerkennung des Unfalls vom 17.06.1993 als Arbeitsunfall Entschädigungsleistungen nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte wiederholt im Wesentlichen das Vorbringen aus den angefochtenen Bescheiden. Im Übrigen hat der Beklagte weiterhin die Auffassung vertreten, es habe keine unmittelbare Gefahr für Herrn ... bestanden.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen ... und ... Hinsichtlich der Zeugenaussagen wird auf die Sitzungsniederschriften vom 02.12.1999 und 09.08.2000 verwiesen.

Der Beklagte hat weiterhin die Auffassung vertreten, es habe vielleicht irgendwann die Gefahr bestanden, dass Herrn ... aufwache und über die Straße liefe. Jedoch hätten sowohl die Klägerin als auch Herrn ... zunächst Herrn ... liegen lassen und den Veranstalter, Herrn ... , geholt. Sie hätten somit in Kauf genommen, dass Herrn ...längere Zeit ohne Beobachtung geblieben sei. Insofern hätten auch die Klägerin und Herrn ... keine unmittelbare Gefahr für Herrn ... gesehen.

Wegen des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Akten Bezug genommen. Die den Kläger betreffende Akte des Beklagten lag dem Gericht vor und war Gegenstand der mündlichen Vorhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Klage ist zulässig und begründet.

Der Bescheid vom 23.09.1998 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 12.11.1998 ist rechtswidrig und beschwert die Klägerin im Sinne des § 54 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), denn der Klägerin stehen Entschädigungsleistungen für den Unfall vom zu, da sie unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung stand.

Der Anspruch der Klägerin richtet sich noch nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO), da sie Entschädigungsleistungen auch für die Zeit vor dem Inkrafttreten des Siebten Buches des Sozialgesetzbuches - gesetzliche Unfallversicherung - (SGB VII) begehrt (§§ 212 ff. SGB VII).

Nach § 547 RVO gewährt der Träger der Unfallversicherung nach Eintritt eines Arbeitsunfalls nach Maßgabe der folgenden Vorschriften Entschädigungsleistungen. Ein Arbeitsunfall ist gemäß § 548 Abs. l Satz 1 ein Unfall, den ein Versicherter bei einer der in den § 539, 540 und 543 bis 545 genannten Tätigkeiten erleidet.

Die Klägerin stand unter dem Versicherungsschutz des § 539 Abs. l Mr. 9 a RVO (= ab 01.01.1997 § 2 Abs.l Nr.13 a SGB VII). Danach sind Personen gegen Arbeitsunfälle versichert, die bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not Hilfe leisten oder einen anderen aus gegenwärtiger Lebensgefahr oder erheblicher gegenwärtiger Gefahr für Körper oder Gesundheit zu retten unternehmen. Die Klägerin hat einen anderen, nämlich Herrn ... , aus einer gegenwärtigen Gefahr für Körper oder Gesundheit zu retten versucht.

Dabei geht die Kammer davon aus, dass Herrn ... in einem volltrunkenen Zustand im Straßengraben lag. Diesen Sachverhalt schildert zum einen die Klägerin, zum anderen ergibt sich dieser Sachverhalt aus den Aussagen der Zeugen ... und ... Der Zeuge ... hat bekundet, dass Herrn ... bewusstlos in dem Graben lag. Zwar wurde er kurz wach, als sie, die Zeugen, ihn anheben wollten. Dabei hatte der Zeuge ... jedoch nicht den Eindruck, dass Herrn ... wusste, was mit ihm passierte. Auch der Zeuge ... hat bekundet,.dass Herrn ... volltrunken und nicht ansprechbar war. Ob er etwas sagte, wusste der Zeuge ... nicht mehr. Er schloss jedoch aus, dass es sich um etwas "Vernünftiges" handelte.

In diesem Zustand befand sich Herrn ... in einer erheblichen gegenwärtigen Gefahr für seine Gesundheit.

Unter Gefahr ist ein Zustand zu verstehen, in dem nach den obwaltenden Umständen der Eintritt eines Schadens als wahrscheinlich gelten kann (vgl. BGH NJW 1963, 1069). Eine Gefahr für die Gesundheit ist anzunehmen, wenn der gefahrenthaltende Vorgang sich im Fall seiner Verwirklichung schädigend auf die Gesundheit auswirken wird (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, SGB VII, Band l, 4. Aufl., § 2 RdNr. 445). Durch den Begriff "erheblich" werden Bagatellfälle ausgeschlossen (vgl. Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, § 2 RdNr. 25.10 m.w.N.). Für Herrn ... bestand eine erhebliche Gefahr für seine Gesundheit. In dem Zustand, in dem sich Herrn ... befand, bestand zum einen die Gefahr, dass bei ihm eine Alkoholvergiftung vorlag. Immerhin war er so volltrunken, dass er nicht bei Bewusstsein war, Desweiteren bestand für Herrn ... die Gefahr, dass er infolge seines Alkoholgenusses erbrechen musste und an dem Erbrochenen hätte ersticken können. Im Übrigen hätte Herzen in seinem betrunkenen Zustand über die Landesstraße laufen, unter ein Auto geraten und sich dabei erhebliche Verletzungen zuziehen können.

Diese Gefahren waren für Herrn ... auch "gegenwärtig". Gegenwärtig ist die Gefahr dann, wenn sie greifbar ist (vgl. Bereiter-Hahn/Mehrtens, a.a.O. § 2 RdMr. 25.10). Hierbei dürfen an die Erkenntnisse des Handelnden jedoch nicht zu hohe Anforderungen gestellt werden, da der Rettende gegebenenfalls in Sekundenschnelle entscheiden muss. Zwar war hier keine Entscheidung in "Sekundenschnelle", jedoch ein Eingreifen zu diesem Zeitpunkt notwendig Herrn ... hätte jederzeit wieder aufwachen und über die Straße torkeln können. Auch hätte er jederzeit erbrechen können. Der Argumentation des Beklagten, dass die Gefahr nicht gegenwärtig gewesen sei, weil die Klägerin und der Zeuge, zunächst Herrn ...alleine im Graben haben liegen lassen und den Zeugen) hinzugezogen haben, vermag die Kammer nicht zu folgen. Zwar wäre es vernünftiger gewesen, wenn entweder der Zeuge oder die Klägerin selbst zunächst bei Herrn ... geblieben wären. Alleine aus dem Umstand, dass die Klägerin und der Zeuge sich in dieser Situation gegebenenfalls nicht korrekt verhalten haben, kann jedoch nicht nachträglich der Schluss gezogen werden, es habe keine gegenwärtige Gefahr bestanden.

Weiter ist erforderlich, dass zwischen der Hilfeleistung und dem Unglücksfall ein innerer Zusammenhang besteht. Dieser besteht auch, wenn das Handeln auf das Verhüten des Unglücksfalls gerichtet ist (vgl. Bereiter-Hahn/Mehrtens, a.a.O. § 2 SGB VII Rdnr. 25.7), bzw. bei Vorbereitungshandlungen (vgl. Bereiter-Hahn/Mehrtens, a.a.O. § 2 SGB VII Rdnr. 25.7 m.w.N.) Eine Rettungshandlung setzt dabei die Handlungstendenz voraus, die nicht nur in der Rettung und dem Schutz der eigenen Person, sondern zumindest wesentlich auch eines gefährdeten oder angegriffenen Dritten gerichtet ist (vgl. BSGE 44/ 22).

Die Klägerin wollte über die Straße laufen, um den Pkw herzurichten, d.h. die Sitze flachzulegen, um Herrn ... in das Auto zu legen. Diese Handlung steht in einem unmittelbaren inneren Zusammenhang mit der Rettungshandlung. Wenn Herrn ... nicht in einem volltrunkenen Zustand in dem Graben an der Landstraße gelegen hat, wäre die Klägerin auch nicht über diese gelaufen, um den Pkw herzurichten.

Da die Klägerin unter dem Versicherungsschutz des § 539 Abs. l Nr.9 a RVO steht, hat der Beklagte entsprechend der gesetzlichen Vorschriften Entschädigungsleistungen zu gewähren.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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