L 2 U 16/09

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 9 U 772/05
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 2 U 16/09
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Der Erstschaden muss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bewiesen sein.
I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts München vom 14. Oktober 2008 aufgehoben und die Klage gegen den Bescheid vom 29. April 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 1. Dezember 2005 abgewiesen.

II. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers beider Rechtszüge sind nicht zu erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.



Tatbestand:


Die Beteiligten streiten um die Feststellung von Unfallfolgen und einen Anspruch auf Verletztenrente.

Der 1972 geborene Kläger erlitt am 13.10.2002 auf dem Weg zur Arbeit mit seinem PKW einen Verkehrsunfall, bei dem er frontal mit einem anderen PKW kollidierte. Der Kläger war angeschnallt, sein Fahrzeug mit Kopfstützen ausgerüstet. Der Kläger wurde unmittelbar nach dem Unfall von Dr. L. im Krankenhaus A-Stadt untersucht. Es wurde eine Schädelprellung diagnostiziert. Amnesie und Übelkeit wurde verneint. Arbeitsfähigkeit wurde ab 21.10.2002 festgestellt.

Am 19. Februar 2004 ging bei der Beklagten eine ärztliche Anzeige bei Verdacht auf Berufskrankheit ein. Beim Kläger liege ein Hörverlust am linken Ohr nach Unfall vom 13.10.2002 vor. Am 19.12.2003 war beim Kläger ein CT der Felsenbeine durchgeführt worden. Es fand sich kein Nachweis einer abgelaufenen Fraktur sowie keine Entzündungszeichen. Der HNO-Arzt Dr. S. teilte mit, dass am 11.12.2003 eine audiometrische Untersuchung eine an Taubheit grenzende Schwerhörigkeit auf dem linken Ohr gezeigt habe.

Die Beklagte holte einen Auszug der Arbeitsunfähigkeitszeiten des Klägers bei der AOK Bayern ein und ernannte Frau Prof. Dr. S. zur Sachverständigen auf HNO-ärztlichem Fachgebiet. Bei der Anamnese gab der Kläger an, die Kopfschmerzen hätten etwa drei Monate nach dem Unfall angehalten und seien dann von alleine weggegangen. Ca. drei Monate nach dem Unfall sei seiner Frau aufgefallen, dass er schlecht höre. Im März 2003 sei bei einer Vorsorgeuntersuchung eine Schwerhörigkeit links diagnostiziert worden, die in der darauf folgenden Zeit noch zugenommen habe. Ohrgeräusche, Schwindel und Unsicherheitsgefühl habe er auch später nicht bemerkt. Die Sachverständige kam zum Ergebnis, es könne nicht mit Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Taubheit des linken Ohres unfallbedingt sei. Aufgrund der Tatsache, dass der Kläger die Taubheit gar nicht bemerkt habe, sei es eher wahrscheinlich, dass diese Jahrzehnte zurück liege oder sich schleichend entwickelt habe. Unberücksichtigt der Genese schätzte sie die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) auf 20 v.H.

Daraufhin erließ die Beklagte am 29.04.2005 einen Bescheid, mit dem sie die Gewährung von Verletztenrente ablehnte und als Unfallfolge nur eine folgenlos ausgeheilte Schädelprellung feststellte. Der hiergegen eingelegte Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 01.12.2005).

Hiergegen erhob der Kläger am 08.12.2005 Klage beim Sozialgericht München (SG). Dieses holte ein Gutachten bei dem Neurologen Dr. S. ein. Der Sachverständige führte am 23.06.2006 aus, dass der Unfall eine Schädelprellung verursacht habe. Diese sei folgenlos ausgeheilt. Dr. S. empfahl ein weiteres Gutachten auf HNO-ärztlichem Fachgebiet. Der Sachverständige Dr. S. legte in seinem vom SG daraufhin eingeholten HNO-ärztlichen Gutachten vom 10.09.2006 dar, dass die Einzelheiten des Unfalls nicht ganz eindeutig seien. Entweder handele es sich um ein stumpfes Schädel-Hirn-Trauma durch Schädelprellung am Türholm oder um ein Knalltrauma nach Entwicklung des Airbags. Ein stumpfes Schädel-Hirn-Trauma, das zu einer Ertaubung führe, setze eine Bewusstlosigkeit im Rahmen einer Commotio oder Contusio cerebri voraus. Der Kläger habe sich allerdings selbst in die unfallchirurgische Ambulanz begeben, wo keine Contusio oder Commotio festgestellt werden konnte. Damit sei bereits ein adäquates Unfallereignis nicht wahrscheinlich. Auch bei der Frage eines Knalltraumas durch einen Airbag sei im Allgemeinen von einer Hochtonsenke, jedoch nicht von einer vollkommenen Ertaubung auszugehen. Für eine HWS-Distorsion bestünden keine Anhaltspunkte. Das geschilderte Unfallereignis könne nicht adäquat sein für die Taubheit links.

Auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) holte das SG ein nervenärztliches Gutachten vom 21.03.2007 bei Dr. S. ein. Der Kläger habe eine Schädelprellung und eine Beschleunigungsverletzung der Halswirbelsäule mit daraus resultierendem lokalem posttraumatischem Cervikalsyndrom und cervikoencephalem posttraumatischem Syndrom mit vermutlicher Kontusion des Innenohres erlitten. Die MdE betrage für das lokale Cervikalsyndrom 10 v.H. und für die Ertaubung des linken Ohres 20 v.H.

Weiter wurde ein Gutachten nach § 109 SGG bei Frau Prof. Dr. S. eingeholt. Nach nochmaliger Untersuchung des Klägers stellte die Sachverständige in ihrem Gutachten vom 16.11.2007 eine Taubheit links bei Normalhörigkeit rechts und eine nicht kompensierte, an Ausfall grenzende Untererregbarkeit des linken Labyrinthes fest. Im Gegensatz zu ihrem Gutachten vom 30.03.2005 kam die Sachverständige nunmehr zum Ergebnis, dass die beim Kläger festzustellende Taubheit links mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf das Unfallereignis vom 12.10.2002 zurückzuführen sei: Dies wahrscheinlich als Folge einer Rund- oder Ovalfensterruptur. Bei einer Fensterruptur müsse nämlich die Schwerhörigkeit nicht sofort in vollem Ausmaß vorhanden sein. Andere Ursachen seien ausgeschlossen worden. Die MdE schätzte sie auf 25 v.H. ab 01.07.2007, davor auf 20 v.H. ab 01.10.2003.

Auf die Einwendungen der Beklagten nahm die Sachverständige am 12.02.2008 ergänzend Stellung. Sie wies darauf hin, dass eine Fensterruptur nicht ohne Operation im Sinne des Vollbeweises bewiesen werden könne. Es spreche jedoch eindeutig mehr dafür als dagegen, dass die Taubheit links und die nicht kompensierte, an Ausfall grenzende Untererregbarkeit des linken Labyrinthes durch eine Fensterruptur nach Schädelprellung entstanden sind.

Mit Urteil vom 14.10.2008 verurteilte das SG die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide zur Gewährung einer Verletztenrente von 20 v.H. ab 01.10.2003 und 25 v.H. ab 01.07.2007. Zur Begründung verwies es auf das Gutachten und die ergänzenden Stellungnahmen der Sachverständigen Prof. Dr. S ... Das Gutachten des Dr. S. sei hingegen weniger fundiert und nicht überzeugend begründet.

Hiergegen hat die Beklagte am 14.01.2009 Berufung eingelegt. Der HNO-Sachverstän-dige Dr. S. habe in seinem für das SG erstellten Gutachten vom 10.09.2006 die bis dahin bestehende Gutachtenslage bestätigt. Dem gegensätzlichen Gutachten der Frau Prof. Dr. S. für das SG vom 16.11.2007 sei nicht zu folgen. Es fehle am Vollbeweis für den Erstschaden der Fensterruptur. Der Senat hat den Direktor der Hals-Nasen-Ohrenklinik der Universität D-Stadt, Prof. Dr. D., mit einem weiteren Gutachten beauftragt. Dieser ist am 13.06.2009 zum Ergebnis gekommen, dass die Ertaubung links nicht durch den Unfall herbeigeführt worden sei. Die Annahme einer Membranruptur stelle zwar eine mögliche, aber keine wahrscheinliche Erklärung dar. Die peripher vestibuläre Störung im Sinne einer kalorischen Untererregbarkeit sei gut kompensiert. Die Diagnose eines benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels sei bei der gutachterlichen Untersuchung nicht objektivierbar gewesen. Die MdE hat der Sachverständige auf 0 v.H. wegen Unfallfolgen geschätzt.

Der Vertreter der Beklagten beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts München vom 14.10.2008 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 29.04.2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.12.2005 abzuweisen.

Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen.



Entscheidungsgründe:


Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und begründet. Der Bescheid vom 29.04.2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 01.12.2005 ist rechtmäßig. Die Klage war deshalb abzuweisen.

Der Arbeitsunfall des Klägers vom 13.10.2002 hat keine Folgen in rentenberechtigendem Grade hinterlassen. Dies hat der vom Senat ernannte Sachverständige Prof. Dr. D. in seinem Gutachten vom 13.06.2009 überzeugend dargestellt.

Am 11.12.2003 wurde erstmals die Diagnose einer ausgeprägten Hörminderung bis Taubheit links mit hinreichender Wahrscheinlichkeit gestellt. Prof. Dr. D. weist darauf hin, dass eine sichere Trennung zwischen ausgeprägter Hörminderung und Taubheit anhand der Befunde nicht möglich sei. Eine vor dem Unfall bestehende Taubheit links schließt der Gutachter aufgrund des Tonschwellenaudiogramms vom 19.02.2002 mit hinreichender Wahrscheinlichkeit aus. Aufgrund der methodischen Mängel beim Tonschwellenaudiogramm vom 02.09.2003 kann der Befund von diesem Tag nicht als verwertbar angesehen werden. Deshalb muss die Ertaubung bzw. ausgeprägte Hörminderung links im Zeitraum vom 19.02.2002 bis zum 11.12.2003 eingetreten sein. Aufgrund der vorliegenden Befunde schließt es Prof. Dr. D. aus, dass es unmittelbar durch den Unfall zu einer Ertaubung links gekommen ist. Eine plötzliche einseitige Ertaubung tritt nicht unbemerkt ein. Somit ist davon auszugehen, dass die Hörminderung "schleichend", d.h. im Verlauf mehrerer Wochen bis Monate allmählich zugenommen hat. Die festgestellte peripher-vestibuläre Störung links entwickelte sich parallel hierzu, denn der Kläger gab zeitnah zu dem Unfall keine Schwindelsensationen an. Eine durch einen Schädelanprall ausgelöste Commotio bzw. Contusio labyrinthi führt in der Regel zu einer deutlich wahrnehmbaren (Dreh)schwindelsymptomatik. Entwickelt sich eine peripher-vestibuläre Störung jedoch "schleichend", so können parallel hierzu einsetzende zentrale Kompensationsmechanismen eine klinische Manifestation von Schwindel unterdrücken.

Laut Prof. Dr. D. ist eine Schädigung des Hör- und Gleichgewichtsorgans bei gegebenem Unfallmechanismus in dreifacher Hinsicht möglich: Durch ein stumpfes Schädel-Hirn-Trauma verursacht durch einen Schädelanprall an Fahrzeugteilen, durch ein Knalltrauma durch Auslösung von Airbags und durch eine indirekte Schädigung durch eine Distorsion der Halswirbelsäule. Ein Schädelanprall verlangt allerdings einen sofortigen Eintritt der Hörminderung und/oder des Tinnitus. Eine solche Hörminderung wird hierbei zeitnah zu dem Unfall wahrgenommen und zwar innerhalb weniger Stunden. Der Kläger hat aber die Hörminderung erst mehrere Wochen nach dem Unfall bemerkt und hierbei auch nur durch Fremdbeobachtung durch seine Ehefrau. Somit ist eine Commotio bzw. Contusio als Unfallmechanismus mit hinreichender Sicherheit auszuschließen.

Auch bei einem Knalltrauma kommt es zu einer direkten, also unmittelbaren Schädigung des Hörorgans. Eine Hörminderung hätte auch hier sofort nach dem Unfall bemerkt werden müssen, weshalb ein Knall- bzw. Explosionstrauma mit hinreichender Sicherheit auszuschließen ist.

Dasselbe gilt bei einer Distorsion der Halswirbelsäule. Eine Latenzzeit von mehreren Wochen ist keinesfalls kausal mit einer (möglichen) Distorsion der Halswirbelsäule in Verbindung zu bringen.

Der fehlende Nachweis einer Felsenbeinfraktur in der Computertomographie spricht gegen die Annahme einer schweren strukturellen Schädigung des Felsenbeins. Auch Prof. Dr. D. hält dies für eine vorstellbare Erklärung für den Verlauf der Hörminderung. Jedoch ist die Ruptur der Membran des runden Fensters, die zu einer solchen schleichenden Hörminderung mit begleitender peripher-vestibulärer Störung führen kann, nicht bewiesen. Rundfenstermembranrupturen entstehen durch plötzliche Druckerhöhungen. Es handelt sich um ein Akutereignis mit plötzlicher Ertaubung und plötzlichem Schwindel. Protrahierte Verläufe sind zwar in der Literatur beschrieben, jedoch bleibt die Annahme eines solchen protrahierten Verlaufs im vorliegenden Fall nur eine mögliche Hypothese, jedoch keine hinreichend wahrscheinliche Erklärung, da Anknüpfungstatsachen fehlen. Prof. Dr. D. schließt deshalb einen Zusammenhang zwischen der Hörminderung bzw. Ertaubung links und dem Unfall aus.

Im Gegensatz zu den Ausführungen des Klägerbevollmächtigten ist die Fensterruptur nicht bewiesen. Insbesondere der fehlende Nachweis einer Felsenbeinfraktur in der Computertomographie spricht gegen die Annahme einer solchen schweren strukturellen Schädigung des Felsenbeins.

Das Gutachten des Prof. Dr. D. überzeugt, da er sämtliche möglichen Ursachen für die Ertaubung des Klägers, die im Unfallzusammenhang stehen könnten, prüft. Nicht gefolgt werden kann jedoch dem Gutachten der Frau Prof. Dr. S. für das SG. Auch Frau Prof. Dr. S. hält die Diagnose einer sogenannten "Fensterruptur" als Ursache für die Taubheit links und die Gleichgewichtsstörung für nicht bewiesen. Sie spricht selbst von einer Verdachtsdiagnose. Dies ist jedoch nicht ausreichend, da der Erstschaden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit (Vollbeweis) bewiesen sein muss und dann im Rahmen der Prüfung der haftungsausfüllenden Kausalität weitergehend zu prüfen ist, ob auch ein zu einem Rentenanspruch führender unfallbedingter Dauerschaden vorliegt.

Das Gutachten der Frau Prof. Dr. S. für das SG überzeugt auch deshalb nicht, da sie im Verwaltungsverfahren eine andere Ansicht vertrat, ohne dass sie überzeugend darlegen konnte, warum sie ihre Meinung nun geändert hat. Frau Prof. Dr. S. vertritt in ihren Gutachten aus den Jahren 2005 und 2007 völlig gegensätzliche Meinungen, wann die Taubheit beim Kläger eingetreten ist. Im zweiten Gutachten bestätigt sie, dass nach den Audiogrammen von Dr. W. unmittelbar vor dem Unfall auf beiden Seiten ein regelrechtes Hörvermögen vorhanden war. In ihrem ersten Gutachten war sie dessen nicht sicher, da sie die Hörprüfung vom 19.03.2002 für nicht überzeugend hielt. Während sie im Gutachten vom 30.03.2005 noch von keiner schweren Gewalteinwirkung auf den Kopf des Klägers ausging, bejahte sie in ihrem zweiten Gutachten ohne nachvollziehbare Argumente und entgegen den dokumentierten Erstbefunden eine erhebliche Intensität der Gewalteinwirkung auf den Schädel. Dass der Kläger die Ertaubung links nach dem Ereignis nicht bemerkt hatte, war im Erstgutachten noch mit ausschlaggebend für die Verneinung einer unfallbedingten Entstehung der Taubheit. Im zweiten Gutachten wird diesem Faktum ohne nähere Begründung keine entscheidende Bedeutung mehr beigemessen.

Somit kann die über ein Jahr nach dem Unfall entdeckte Taubheit des Klägers links nicht als Unfallfolge anerkannt werden. Beim Kläger sind keine Unfallfolgen verblieben, aufgrund derer eine Verletztenrente zu gewähren ist.

Die Berufung ist deshalb begründet und die Klage abzuweisen.

Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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