L 1 KR 368/10 B ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 76 KR 2138/10 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 368/10 B ER
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Der Beschluss des Sozialgerichts Berlin vom 19. November 2010 wird abgeändert. Die Antragsgegnerin wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, der Antragsstellerin ab sofort bis 28. Februar 2011 vorläufig Krankenversicherungsschutz zu gewähren und ihr unverzüglich eine Krankenversicherungskarte auszuhändigen. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen. Die Antragsgegnerin hat die der Antragstellerin entstandenen außergerichtlichen Kosten beider Instanzen zu erstatten. Der Antragstellerin wird für erst- und das zweitinstanzlichen Verfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und ihre Bevollmächtigte Rechtsanwältin H beigeordnet.

Gründe:

I.

Die 1947 geborene Antragstellerin, welche die deutsche und die bulgarische Staatsangehörigkeit hat, begehrt von der Antragsgegnerin, ihr vorläufig Krankenversicherungsschutz zu gewähren.

Sie lebte von 1999 bis Ende 2009 in Bulgarien und war dort –nach ihren Angaben- weder privat noch gesetzlich krankenversichert. Ihr stand nach ihren Angaben dem Grunde nach staatliche Unterstützung im Krankheitsfall zu. Bis Ende 1998 war sie in Deutschland privat krankenversichert gewesen.

Sie erhält seit 4. Januar 2010 Arbeitslosengeld II, zuletzt mit Bescheid des JobCenter N vom 27. Juli 2010 bis 28. Februar 2011.

Die Antragsgegnerin lehnte die beantragte Mitgliedschaft bei ihr mit Bescheid vom 11. März 2010 ab, gegen den Widerspruch erhoben ist.

Die Antragsstellerin stellte daraufhin bei der D Krankenversicherung AG eine förmliche Anfrage nach Versicherungsschutz im Basistarif. Diese lehnte jedoch den Vertragsabschluss ab.

Am 15. November 2011 hat die Antragstellerin beim Sozialgericht Berlin (SG) den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Das SG hat den Antrag ablehnt.

II.

Die Beschwerde ist begründet.

Gemäß § 86 b Abs. 2 S. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Hierfür sind grundsätzlich das Bestehen eines Anordnungsanspruches und das Vorliegen eines Anordnungsgrundes erforderlich. Der Anordnungsanspruch bezieht sich dabei auf den geltend gemachten materiellen Anspruch, für den vorläufiger Rechtschutz begehrt wird, die erforderliche Dringlichkeit betrifft den Anordnungsgrund. Die Tatsachen, die den Anordnungsgrund und den Anordnungsanspruch begründen sollen, sind darzulegen und glaubhaft zu machen (§ 86 b Abs. 2 S. 4 SGG i. V. m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung). Entscheidungen dürfen dabei grundsätzlich sowohl auf eine Folgenabwägung als auch auf eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden. Drohen ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (ständige Rechtsprechung des Senats, siehe auch Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12. Mai 2005 -1 BvR 596/05-). Ganz allgemein ist ein Zuwarten umso eher unzumutbar, je größer die Erfolgschancen in der Sache einzuschätzen sind (ständige Rechtsprechung des Senats, z. B. Beschluss vom 23.10.2008 -L 1 B 346/08 KR ER –juris, Beschluss vom 04.06.2010 –L 1 KR 138/10 BER).

Hier bestehen - soweit stattzugeben war - ein Anordnungsanspruch und ein Anordnungsgrund. Es ist der Antragstellerin angesichts der bestehenden hohen Erfolgschancen in der Sache nicht zuzumuten, das Hauptsacheverfahren abzuwarten.

Nach der im einstweiligen Rechtsschutzverfahren alleine möglichen und gebotenen summarischen Prüfung liegt ein Anordnungsanspruch vor.

Nach den glaubhaft gemachten Behauptungen der Antragstellerin liegen die Voraussetzungen für eine gesetzliche Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a Sozialgesetzbuch 5. Buch (SGB V) vor:

Die Antragsstellerin ist nicht familienversichert und erhält normale SGB II-Leistungen. Sie war auch nicht unmittelbar vor dem SGB II-Bezug ab dem 4. Januar 2010 privat krankenversichert. Unmittelbarkeit setzt nach dem Wortlaut einen direkten zeitlichen Zusammenhang zwischen dem Zeitpunkt des (noch) Bestehens eines privatrechtlichen Krankenversicherungsvertrages und dem SGB II-Bezug voraus (ebenso: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 6.05.2010 –L 9 KR 102/10 BER- und vom 21.05.2010 –L 9 KR 33/10 BER). Daran fehlt es hier. Die frühere Versicherung bei der D endete hier vor 1999.

Die Tatbestandsvoraussetzung der Unmittelbarkeit bezieht sich auch auf die zweite Ausschlussfallgruppe des § 5 Abs. 5a SGB V: Die Pflichtversicherung für bislang weder gesetzlich und privat Versicherte ist nur ausgeschlossen, wenn die näheren Voraussetzungen unmittelbar vor dem SGB II-Bezug vorgelegen haben (ebenso ausführlich und zutreffend SG Berlin, Urteil vom 13.09.2010 -S 166 KR 527/10 juris mit Bezug auf LSG Berlin-Brandenburg, B. v. 21.05.2010). Neben der Systematik innerhalb des Absatzes und dem Normzweck kann dies aus § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V hergeleitet werden. Dort ist ausdrücklich der Fall einer Zäsur normiert zwischen der früheren Versicherung und dem aktuellen Zeitpunkt: Das Gesetz verwendet für die Anknüpfung an einen früheren Zustand die Formulierung "zuletzt".

Die Antragstellerin war vor dem 4. Januar 2010 weder gesetzlich noch privat krankenversichert. Das Bestehen eines (steuerfinanzierten) Gesundheitssystems eines anderen Staates ist etwas anderes als eine inländische Versicherung, bei der den Leistungen im Leistungsfalle Beitragspflichten des Versicherten gegenüberstehen.

Die Antragstellerin war weiter weder hauptberuflich erwerbstätig (§ 5 Abs. 5a S. 1, Alt. 2, Abs. 5 SGB V) noch versicherungsfrei (§§ 5 Abs. 5a S. 1, Alt. 2, 6 Abs. 1 und 2 SGB V).

Sie war ferner auch nicht versicherungsfrei nach § 6 Abs. 3a S. 1 SGB V, obwohl sie am 4. Januar 2010 bereits älter als 54 Jahre war und in den letzten fünf Jahren zuvor auch nicht gesetzlich versichert gewesen ist. S. 2 des § 6 Abs. 3a SGB V ("weitere Voraussetzung ist, dass diese Personen mindestens die Hälfte dieser Zeit versicherungsfrei, von der Versicherungspflicht befreit oder nach § 5 Abs. 5 nicht versicherungspflichtig waren") ist nämlich nicht erfüllt: Versicherungsfreiheit nach § 6 SGB V von einer eigentlich bestehenden Versicherungspflicht war nicht gegeben, weil die Antragstellerin in Bulgarien von vornherein nicht versicherungspflichtig sein konnte, § 3 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 Sozialgesetzbuch 4. Buch (ebenso Hauck/Noftz-Noftz SGB V § 6 Rdnr. 124: Zweck des S. 2 sei gerade, unter anderem jene Personen nicht von der gesetzlichen Krankenversicherung auszuschließen, die lange im Ausland gelebt hätten). Sie war ferner nicht von der Versicherungspflicht befreit (§ 8 SGB V). Auch § 5 Abs. 5 SGB V (siehe oben) und § 6 Abs. 3a S. 3 SGB V sind nicht einschlägig.

Die Antragsgegnerin ist ferner bereits darauf hingewiesen worden, dass bei Unterstellung ihrer Rechtsauffassung, § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V sei nicht einschlägig, eine Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 lit. b SGB V vorläge: Die Auffang-Pflichtmitgliedschaft nach § 5 Nr. 13 SGB V besteht nicht nur, wenn "zuletzt" eine gesetzliche Krankenversicherung bestand (lit. a) sondern auch, wenn der Betroffene "bisher" weder gesetzlich noch privat versichert gewesen ist (lit. b), es sei denn, dass eine der vom Gesetz aufgezählten Ausschlussfallgruppen vorliegt. Die Formulierung "zuletzt" verwendet die Norm –anders als bei Absatz 5a für "unmittelbar"-nur für die Zuordnung unter lit. a) zur gesetzlichen Krankenversicherung, nicht für die zweite Alternative unter lit. b). §§ 5 Abs. 5 und 6 Abs. 1 oder 2 SGB V sind nicht einschlägig (siehe oben). Die Antragstellerin war auch nicht in Bulgarien hauptberuflich selbstständig tätig. Entgegen der Behauptung der Antragsgegnerin im Schriftsatz vom 17. Dezember 2010 hat sie eine solche Mitgliedschaft auch angezeigt. Ausweislich des Verwaltungsvorganges der Antragsgegnerin Bl. 8 hat sie ihre Angaben auf einem Formular "zur Pflichtversicherung nach § 5 Absatz 1 Nummer 13 SGB V" eingetragen.

Es besteht ferner die für den Erlass einer einstweiligen Regelung mit Wirkung ab sofort notwendige Dringlichkeit (Anordnungsgrund). Die Antragstellerin muss sich nicht erst auf ein bereits bestehendes Bedürfnis nach ärztlichen Leistungen, Krankenhausbehandlung o. ä. verweisen lassen (ebenso bereits für vorläufige freiwillige Versicherung: Beschlüsse des Senats vom 10.12.2007 –L 1 B 516/07 KRER- und vom 07.01.2008 –L 1 B 336/07 KRER; für vorläufige Bewilligung von Krankenversicherungsleistungen ebenso mittlerweile Beschluss des 9. Senats im Hause vom 12.05.2010 –L 9 KR 102 BER). Bereits das Bestehen einer Absicherung im Krankheitsfall gehört zu den Grundbedürfnissen des Existenzminimums. Die Antragstellerin hat sich vergeblich um eine private Versicherung bemüht.

Da regelmäßiges Erfordernis für eine Behandlung die Vorlage einer gültigen Versicherungskarte ist, besteht ein Anspruch auf Aushändigung einer solchen.

Dies gilt ungeachtet des Umstandes, dass damit im Außenverhältnis vorläufig ein einem normal Versicherten gleichstehender faktischer Zustand besteht. Im täglichen Massengeschäft der Antragsgegnerin kommt es –wie auch der vorliegende Fall zeigt- nicht selten vor, dass sie –etwa aufgrund der Anmeldung durch ein JobCenter oder einen Arbeitgeber- "Kunden" vorläufig als Mitglieder behandelt und erst Wochen bis Monate später prüft, ob die Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft vorliegen.

Hinsichtlich sämtlicher Ansprüche für die Vergangenheit bis zum heutigen Zeitpunkt fehlt es an einer Eilbedürftigkeit. Die vorläufigen Leistungen sind nur ex nunc zu gewähren, da regelmäßig nur für die Befriedigung des gegenwärtigen und zukünftigen Bedarfes die besondere Dringlichkeit einer vorläufigen Entscheidung gegeben ist (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. z. B. Beschluss vom 23.10.2008 –L 1 B 346/08 KRER- juris. Für eine rückwirkende Gewährung fehlt es hier an einer entsprechenden konkreten Begründung. Es besteht auch keine Dringlichkeit für eine vorläufige Regelung über den Zeitraum des bewilligten SGB II-Bezuges hinaus. Die Beschwerde war deshalb zumindest klarstellend im Übrigen zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus entsprechender Anwendung von § 193 SGG. Die Anragstellerin hat ganz überwiegend obsiegt.

Ihr ist Prozesskostenhilfe nach § 73 a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 114 Satz 1, 115, 119 Abs. 1 Satz 1 Zivilprozessordnung (ZPO) zu gewähren. Sie ist ausweislich der eingereichten Unterlagen bedürftig gemäß § 73 a SGG i.V.m § 114 ZPO. Die Gewährung von Prozesskostenhilfe ist nach den genannten Vorschriften davon abhängig, dass die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung hinreichende Aussicht auf Erfolg hat und nicht mutwillig erscheint. Die Prüfung der Erfolgsaussichten soll jedoch nicht dazu dienen, die Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung selbst in das summarische Verfahren der Prozesskostenhilfe zu verlagern und dieses an die Stelle des Hauptsacheverfahrens treten zu lassen. Prozesskostenhilfe darf nur verweigert werden, wenn die Klage völlig aussichtslos ist oder ein Erfolg in der Hauptsache zwar nicht schlechthin ausgeschlossen, die Erfolgschance aber nur eine Entfernte ist (vgl. BVerfG, Beschluss vom 13. Juli 2005 - 1 BvR 175/05 - NJW 2005, 3849 mit Bezug u. a. auf BVerfGE 81, 347, 357f). Die Erfolgschancen des Eilantrages zur Gänze sind hier nicht nur ganz entfernt gewesen. Die Hinzuziehung eines bevollmächtigten Rechtsanwaltes erscheint in diesem Einzelfall geboten (§ 121 Abs. 2 ZPO).

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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