L 16 AS 767/10 B ER

Land
Freistaat Bayern
Sozialgericht
Bayerisches LSG
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
16
1. Instanz
SG München (FSB)
Aktenzeichen
S 46 AS 2200/10 ER
Datum
2. Instanz
Bayerisches LSG
Aktenzeichen
L 16 AS 767/10 B ER
Datum
3. Instanz
-
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Gegen den zeitlich unbegrenzten und vollständigen Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bestehen nicht nur Bedenken in gemeinschaftsrechtlicher Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf das vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG abgeleitete Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums.
I. Der Beschluss des Sozialgerichts München vom 20.09.2010 wird unter Ziffern I
und II aufgehoben und die Beschwerdegegnerin im Wege der einstweiligen
Anordnung verpflichtet, der Beschwerdeführerin Arbeitslosengeld II in Höhe
von
165 EUR Regelleistung und 171 EUR Kosten für Unterkunft und Heizung
für die Zeit vom 09.08. bis zum 31.08.2010 und
monatlich 225 EUR Regelleistung und 233 EUR Kosten für Unterkunft und
Heizung für die Zeit vom 01.09.2010 bis zum 31.01.2011
vorläufig zu zahlen.

II. Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

III. Die Beschwerdegegnerin hat der Beschwerdeführerin die notwendigen außer-gerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu zwei Dritteln zu erstatten.

IV. Der Beschwerdeführerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe
bewilligt und Rechtsanwalt Dr. P. beigeordnet.



Gründe:

I.

Zwischen den Parteien ist streitig der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) für Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt.

Die 1977 geborene Beschwerdeführerin (Bf.) ist polnische Staatsangehörige und lebte bis zum 28.03.2010 in Polen. Sie leidet an paranoider Schizophrenie und war in Polen insgesamt sechsmal nach polizeilicher Zwangseinweisung stationär in psychiatrischen Kliniken untergebracht. Eine ambulante psychiatrische Behandlung fand in Polen nicht statt, weil die Bf. eine solche wegen fehlender Krankheitseinsicht ablehnte. Wenn sie nicht stationär untergebracht war, verweigerte sie die Einnahme der ihr verordneten Psychopharmaka aufgrund der damit verbundenen Nebenwirkungen wie Müdigkeit und Händezittern. Aufgrund der psychischen Krankheit wurde sie arbeitslos und geriet in wirtschaftliche Not bei einem Sozialhilfesatz von max. 320 Zloty (ca. 80 EUR) im Monat. In Polen war sie zuletzt über ihren Sozialhilfeträger beim Nationalen Gesundheitsfonds krankenversichert.

Nachdem die Bf. von Januar bis Ende März 2010 ca. 6 Wochen in Polen in stationärer psychiatrischer Behandlung gewesen war, beschloss ihre Mutter, die Zeugin C., sie zu sich nach Deutschland zu holen, um die Einnahme der Medikamente durch ihre Tochter zu überwachen. Die Bf. ist ihre Tochter aus erster Ehe. Die Mutter war in zweiter Ehe in Deutschland verheiratet, ist auch vom zweiten Mann geschieden und bezieht zusammen mit ihrem minderjährigen Kind aus zweiter Ehe Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Die Bf. wohnt in der Wohnung ihrer Mutter und Halbschwester.

Nach einer Bescheinigung der Ausländerbehörde vom 13.04.2010 ist die Bf. nach Maßgabe des Freizügigkeitsgesetzes/EU zur Einreise und zum Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland berechtigt. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit ist dahingehend beschränkt, dass die Aufnahme einer Beschäftigung nur nach Genehmigung der Bundesagentur für Arbeit gemäß § 284 Abs. 1 SGB III gestattet ist.

Am 12.04.2010 beantragte die Mutter für die Bf. bei ihrer gesetzlichen Krankenkasse, der Beigeladenen zu 2, die betragsfreie Mitversicherung im Wege der Familienversicherung. Diesen Antrag lehnte die Beigeladene zu 2 am 01.06.2010 ab.

Am 19.04.2010 beantragte die Bf. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II bei der Beschwerdegegnerin (Bg.). Diesen Antrag lehnte die Bg. mit Bescheid vom 31.05.2010 ab. Dagegen legte am 01.07.2010 die Mutter der Bf. in deren Namen Widerspruch ein.

Mit Schreiben vom 28.07.2010, eingegangen bei der Bg. am 30.07.2010, forderte der Prozessbevollmächtigte der Bf. die Bg. auf, dem Widerspruch der Bf. unverzüglich abzuhelfen sowie den Fall an den Sozialhilfeträger weiterzuleiten, da nicht auszuschließen sei, dass die Bf. aufgrund ihrer paranoiden Schizophrenie leistungsberechtigt nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch (SGB XII) sei und dringend ärztlicher Behandlung bedürfe.

Nachdem die Bg. mit Schreiben vom 02.08.2010 eine Abhilfe bezüglich des Widerspruchs abgelehnt hatte, hat die Bf. am 09.08.2010 beim Sozialgericht München (SG) den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt.

Nach Aussage der Zeugin C. ging es der Bf. in den ersten zwei Monaten ihres Aufenthaltes in Deutschland gut, weil sie die noch in Polen erhaltenen Tabletten unter Aufsicht der Mutter einnahm. Dann gingen die Tabletten zu Ende, und der Zustand der Bf. verschlechterte sich, bis über Bekannte aus Polen neue Tabletten beschafft werden konnten. Ende August wurde die Bf. nach einem Suizidversuch, bei dem sie den gesamten Vorrat ihrer Tabletten für zwei Monate auf einmal eingenommen hatte, in das Klinikum A-Stadt in H. eingeliefert und dort bis zum 22.09.2010 stationär psychiatrisch behandelt. Sie wurde dort medikamentös eingestellt, fühlt sich ihren Angaben nach seitdem "beinahe gesund" und will arbeiten.

Auf Veranlassung des Klinikums stellte die Bf. am 01.09.2010 vorsorglich einen weiteren Antrag auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Diesen Antrag lehnte die Bg. mit Bescheid vom 27.09.2010 ab und stellte diesen Bescheid mit PZU an die Adresse der Bf. im Klinikum A-Stadt in H. zu. Dieser Bescheid ist weder der Bf. noch ihrer Mutter oder ihrem Prozessbevollmächtigten bekannt.

Am 15.09.2010 ging bei der Beigeladenen zu 2 die Anzeige der Bf. zur Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V ein.

Beim SG hat die Bf. beantragt, die Bg. zu verpflichten, Leistungen nach dem SGB II zu erbringen und den gesetzlichen Krankenversicherungsschutz sicherzustellen.

Diesen Antrag hat das SG mit Beschluss vom 20.09.2010 Az. S 46 AS 2200/10 ER abgelehnt. Der Antrag sei unbegründet, weil Ansprüche auf Leistungen nach dem SGB II gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausgeschlossen seien. Der gleiche Ausschlussgrund bestehe nach § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII für die Sozialhilfe.

Gegen diesen Beschluss, der den Prozessbevollmächtigten der Bf. am 27.09.2010 zugestellt worden ist, hat die Bf. am 15.10.2010 Beschwerde eingelegt.

Sie bringt vor, sie verfüge über keinerlei finanzielle Ressourcen mehr und könne sich insbesondere die für die Bf. benötigten Medikamente nicht mehr leisten. Zudem seien der Mutter und ihrer Tochter - der Halbschwester der Bf. - seit dem Einzug der Tochter die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II gekürzt worden, weil die Kosten für Unterkunft und Heizung nur noch zu 2/3 berücksichtigt würden.

Das Bayerische Landessozialgericht hat den örtlichen und den überörtlichen Sozialhilfeträger sowie die gesetzliche Krankenkasse, bei der die Pflichtversicherung nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V angezeigt wurde, beigeladen und am 01.12.2010 einen Erörterungstermin abgehalten. Darin wurden sowohl die Bf. als auch ihre Mutter als Zeugin unter Beiziehung einer Dolmetscherin vernommen. Auf die darüber aufgenommene Niederschrift wird verwiesen. Insbesondere haben beide ausgesagt, dass die Bf. zwei schriftliche Stellenangebote habe, eines von der D. GmbH und Co. KG vom 25.10.2010, bei der auch die Mutter seit Anfang November arbeite, als Küchenhilfe, und eines von der Firma J. Internationale Spedition vom 20.10.2010 als Reinigungskraft. Für beide Stellen habe die Bf. die erforderliche Arbeitsgenehmigung bei der Bundesagentur für Arbeit beantragt. Die bereits unterzeichneten Vertragsentwürfe habe sie vorgelegt.

Die Bf. beantragt,
den Beschluss des Sozialgerichts München vom 20.09.2010 aufzuheben und die Bg. im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, der Bf. Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II ab dem 09.08.2010 vorläufig zu erbringen;
hilfsweise die Bg. zu verpflichten,
die Krankenversicherung der Bf. sicherzustellen.

Die Bg. beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.

Zur Ergänzung des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge sowie auf die beigezogenen Akten der Bg. und der Beigeladene zu 2 verwiesen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig. Insbesondere wurde sie form- und fristgerecht eingelegt (§§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz - SGG), und der Beschwerdewert übersteigt 750 EUR (§ 172 Abs. 3 Nr. 1 i.V.m. § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG).

Die Beschwerde ist teilweise begründet, weil der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, den das SG abgelehnt hat, zulässig und teilweise begründet ist.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig. Das Rechtsschutzbedürfnis hieran kann nicht mit der Begründung verneint werden, dass über den geltend gemachten Anspruch aufgrund des Neuantrags der Bf. vom 01.09.2010 mit Bescheid vom 27.09.2010 erneut entschieden wurde und gegen diesen Bescheid kein Widerspruch eingelegt worden ist. Denn dieser Bescheid ist gegenüber der Bf. mangels Bekanntgabe nicht wirksam geworden (§ 37 SGB X). Er wurde der Bf. unter der Adresse des Klinikums in H. erst am 01.10.2010 zugestellt, obwohl sie bereits am 22.09.2010 aus der Klinik entlassen worden war. Sie hat auch später keine Kenntnis von dem Bescheid erlangt.

Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist teilweise begründet.

Eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis (sog. Regelungsanordnung) ist nach § 86b Abs. 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die Notwendigkeit zur Abwendung wesentlicher Nachteile umschreibt den sogenannten Anordnungsgrund (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 1 Zivilprozessordnung - ZPO -). Voraussetzung für den Erlass einer einstweiligen Anordnung ist, dass sowohl das zu sichernde Recht, der sogenannte Anordnungsanspruch, als auch der Anordnungsgrund glaubhaft gemacht sind (86b Abs. 2 Satz 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO) oder nach Durchführung der von Amts wegen im Eilverfahren möglichen und gebotenen Ermittlungen glaubhaft erscheinen.

Glaubhaftigkeit bedeutet, dass für das Vorliegen von Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund ein geringerer Grad von Wahrscheinlichkeit erforderlich ist als die volle richterliche Überzeugung. Welcher Grad von Wahrscheinlichkeit insoweit genügt, ist bei unklaren Erfolgsaussichten in der Hauptsache nach einer umfassenden Abwägung der Interessen aller Beteiligten und der öffentlichen Interessen zu bestimmen: Abzuwägen sind die Folgen, die auf der einen Seite entstehen würden, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellen würde, dass der Anspruch besteht, gegen die Folgen, die auf der anderen Seite entstünden, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellen würde, dass der Anspruch nicht besteht (Meyer-Ladewig/ Keller/ Leitherer, SGG, 9. Aufl., 2008 § 86b Rdnr. 29a).

Sofern dabei auf Seiten des Anordnungsgrundes das Existenzminimum eines Menschen bedroht ist, genügt für die Glaubhaftigkeit des Anordnungsanspruchs ein geringer Grad an Wahrscheinlichkeit, nämlich die nicht auszuschließende Möglichkeit seines Bestehens. Das Bundesverfassungsgericht hat insoweit entschieden, dass in Fällen, in denen es um Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums geht, eine Ablehnung des einstweiligen Rechtsschutzes aufgrund fehlender Erfolgsaussichten der Hauptsache nur dann zulässig ist, wenn das Gericht die Sach- und Rechtslage nicht nur summarisch, sondern abschließend geprüft hat (BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 Az. 1 BvR 569/05 = NJW 2005, 2982 und Beschluss vom 06.02.2007 Az. 1 BvR 3101/06, unveröffentlicht). Ist dem Gericht eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden, wobei die Gerichte eine Verletzung der Grundrechte des Einzelnen, insbesondere der Menschenwürde, auch wenn sie nur möglich erscheint oder nur zeitweilig andauert, zu verhindern haben.

1. Anordnungsanspruch

Es erscheint zumindest möglich, dass die Bf. gemäß §§ 7 und 19 SGB II einen Anspruch auf Arbeitslosengeld II hat. Dieser Anspruch setzt insbesondere die Erwerbsfähigkeit und die Hilfebedürftigkeit der Bf. voraus; darüber hinaus darf keiner der Leistungsausschüsse für Ausländer nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II eingreifen.

Von der gemäß § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und § 19 Satz 1 SGB II vorausgesetzten Erwerbsfähigkeit der Bf. ist mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auszugehen. Dass die Bf. an paranoider Schizophrenie leidet, bedeutet nicht zwangsläufig, dass sie nicht erwerbsfähig im Sinne des § 8 Abs. 1 SGB II ist. Die Bg. hat bezüglich der Frage der Erwerbsfähigkeit keine Ermittlungen angestellt. Die bisherigen Schwierigkeiten der Bf. im Erwerbsleben sind für eine Prognose nicht maßgeblich, da sie in Polen zwar medizinische Versorgung genoss, aber außerhalb stationärer Einrichtungen ohne soziale Betreuung und Überwachung der Medikamenteneinnahme war, und in Deutschland zwar von ihrer Mutter sozial betreut wird, aber bislang keine ambulante medizinische Behandlung erhalten hat. Gemäß § 44a Abs. 1 Satz 3 SGB II wird bei einem Streit zwischen dem Sozialhilfeträger und der Agentur für Arbeit über die Erwerbsfähigkeit Grundsicherung für Arbeitsuchende geleistet, bis die Einigungsstelle entscheidet. Das BSG hat dazu für Recht erkannt, dass es sich hierbei nicht um die Anordnung einer vorläufigen Leistung, sondern um eine Nahtlosigkeitsregelung nach dem Vorbild des § 125 SGB III handelt und dass die Vorschrift mit ihrer endgültigen Zahlungspflicht der Leistungsträger des SGB II auch für den Fall gilt, dass die Leistungsträger des SGB II von einer fehlenden Erwerbsfähigkeit ausgehen, sich aber nicht um eine Klärung der Angelegenheit mit dem zuständigen Leistungsträger des SGB XII bemüht haben (BSG, Urteil vom 07.11.2006 Az. B 7b AS 10/06 R = BSGE 97, 231, Rdnrn. 19 und 20 bei juris). Da im vorliegenden Fall nicht ersichtlich ist, dass die Bg. an die Beigeladene zu 3 mit dem Ziel einer Klärung der Erwerbsfähigkeit herangetreten ist, ist derzeit von der Erwerbsfähigkeit der Bf. auszugehen.

Die Fiktion der Erwerbsunfähigkeit nach § 8 Abs. 2 SGB II greift nicht ein. Danach gelten Ausländer als erwerbsunfähig, wenn ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung nicht erlaubt ist und nicht erlaubt werden könnte. Das letztgenannte Kriterium ist jedenfalls dann erfüllt, wenn eine Beschäftigung genehmigungspflichtig ist und eine hinreichende Aussicht besteht, dass die erforderliche Genehmigung erteilt wird (vgl.
Eicher/Spellbrink, SGB II, 2. A. 2008 § 8 Rdnr. 67). Dies ist hier der Fall.
Die Bf. kann sich als polnische Staatsangehörige bis zum 30.04.2011 bei der Aufnahme einer Beschäftigung in Deutschland nicht auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 45 AEU-Vertrag (= früher Art. 39 EG-Vertrag) berufen, sondern sie bedarf hierfür gemäß § 284 SGB III der Genehmigung durch die Bundesagentur für Arbeit. Gemäß Nr. 2.1 des Anhangs XII der Akte über die Bedingungen des Beitritts der Tschechischen Republik, der Republik Estland, der Republik Zypern, der Republik Lettland, der Republik Litauen, der Republik Ungarn, der Republik Malta, der Republik Polen, der Republik Slowenien und der Slowakischen Republik und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (Beitrittsakte - ABl. der EU 2003, 33), gelten Art. 39 und 49 Abs. 1 EG-Vertrag zwischen Polen einerseits und Deutschland sowie den übrigen Alt-Mitgliedstaaten andererseits in vollem Umfang nur vorbehaltlich der folgenden Übergangsbestimmungen. Letztere sehen unter Nr. 2.2 vor, dass abweichend von den Art. 1 bis 6 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/67 während eines Übergangszeitraums die Alt-Mitgliedstaaten nationale Maßnahmen anwenden, um den Zugang polnischer Staatsangehöriger zu ihren Arbeitsmärkten zu regeln. Deutschland hat diese Übergangsregelung nach Nr. 2.5 Anhang XII der Beitrittsakte bis zum Ablauf von 7 Jahren nach dem Beitritt, also bis zum 30.04.2011, verlängert und den Zugang für Staatsangehörige Polens während der Übergangsfrist gemäß § 284 Abs. 1 SGB III dahingehend beschränkt, dass diese und deren freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige eine Beschäftigung nur mit Genehmigung der Bundesagentur für Arbeit ausüben und von Arbeitgebern nur beschäftigt werden dürfen, wenn sie eine solche Genehmigung besitzen.
Damit ist zwar die Aufnahme einer Beschäftigung für die Bf. nicht frei, sondern bedarf einer Genehmigung. Solange aber die beiden derzeit gestellten Anträge von der Bundesagentur für Arbeit nicht abschlägig beschieden sind, liegen keine Anhaltspunkte vor, die die Annahme rechtfertigen würden, dass keine hinreichende Aussicht auf die Erteilung einer solchen Genehmigung besteht.

Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II sind von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt. Mehrere Gesichtspunkte sprechen dafür, dass diese Vorschrift im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist.

a. Fraglich ist bereits, ob der Tatbestand dieser Vorschrift erfüllt ist, insbesondere ob die Bf. nicht auch ein Aufenthaltsrecht in Deutschland hat, das unabhängig vom Zweck der Arbeitssuche besteht.

Die Bf. ist gemäß § 2 Abs. 1 und 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU zur Arbeitssuche in Deutschland aufenthaltsberechtigt. Dies gilt auch für Angehörige der mittel- und osteuropäischen Beitrittsstaaten (MOE-Staaten), für die gegenwärtig noch Übergangsregelungen bezüglich der Arbeitnehmerfreizügigkeit gelten (BayVGH, Beschluss vom 16.01.2009 Az. 19 C 08.3271, BayVBl 2009, 633, Rdnr. 6 bei juris).
Soweit nach Maßgabe der Beitrittsverträge für die MOE-Staaten abweichende Regelungen anwendbar sind, findet das Freizügigkeitsgesetz/EU nach dessen § 13 Anwendung, wenn die Beschäftigung durch die Bundesagentur für Arbeit gemäß § 284 Abs. 1 SGB III genehmigt wurde. Die oben dargestellten Übergangsregelungen für den Beitritt von Polen sehen jedoch eine Einschränkung des Freizügigkeitsrechts zur Arbeitssuche nicht vor, sondern schränken lediglich die Arbeitsaufnahme ein.

Möglich ist allerdings, dass die Bf. auch unter folgenden Gesichtspunkten ein zusätzliches Aufenthaltsrecht hat, das den Tatbestand des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ausschließen würde:

- Für die Bf. kommt neben dem Aufenthaltsrecht zur Arbeitssuche nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU auch das Aufenthaltsrecht der Familienangehörigen nach § 3 Abs. 1 Satz 1 i. V. m. Abs. 2 Nr. 2 Freizügigkeitsgesetz/EU in Betracht. Danach sind die Verwandten in aufsteigender und in absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nrn. 1 bis 5 genannten Unionsbürger, denen diese Personen Unterhalt gewähren, zum Nachzug berechtigt. Zweifellos erhält die Bf. seit ihrem Umzug nach Deutschland von ihrer Mutter Unterhalt in Form von freiem Wohnen, freier Verpflegung und Betreuung in ihren Belangen, insbesondere bei ihrer Krankheit. Zwar hat das Gericht den ausländerrechtlichen Status der Mutter der Bf. nicht ermittelt; jedenfalls seit November 2010 hat die Mutter jedoch aufgrund ihrer Tätigkeit bei der Firma D. GmbH & Co. KAG Arbeitnehmerstatus im Sinne des § 2 Abs. 2 Nr. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU. Dementsprechend kommt ein Aufenthaltsrecht als Familienangehörige nach § 3 Freizügigkeitsgesetz/EU in Betracht, das gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II einen Leistungsausschluss nur für die ersten drei Monate, nicht aber darüber hinaus bewirken würde. Die ersten drei Monate des Aufenthalts der Bf. waren bereits am 28.06.2010 und damit vor Beginn des vorliegend streitigen Zeitraums abgelaufen.

- Das Aufenthaltsrecht zum Zweck der Arbeitssuche in § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügigkeitsG/EU gibt das sich bereits unmittelbar aus Art. 45 Abs. 3 Buchst. b AEU-Vertrag (früher: Art. 39 EG-Vertrag) ergebende Freizügigkeitsrecht der Arbeitnehmer wieder.

Daneben enthält Art. 21 Abs. 1 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU-Vertrag, früher: Art. 18 EG-Vertrag) ein von der Arbeitnehmerfreizügigkeit unabhängiges Freizügigkeitsrecht, das allein aus der Unionsbürgerschaft folgt. Danach hat jeder Unionsbürger das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten. Es handelt sich um ein unmittelbar anwendbares subjektiv-öffentliches Recht, das dem Unionsbürger unabhängig vom Zweck seiner Inanspruchnahme zusteht (BVerwG, Urteil vom 10.11.1999 Az. 6 C 30/98 = BVerwGE 110, 40, Rdnr. 45 bei juris; BayVGH, Beschluss vom 16.01.1999 Az. 19 C 08.3271, BayVBl 2009, 633, Rdnr. 4 bei juris mit Nachweisen aus der st. Rspr. des EuGH). Dies gilt auch für die Angehörigen der beigetretenen MOE-Staaten, weil insoweit keine Übergangsregelungen bestehen (BayVGH a.a.O.).

Nach Ansicht von Husmann läuft deshalb § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II schon tatbestandlich leer, weil Unionsbürgern neben der Arbeitnehmerfreizügigkeit immer auch ein nicht zweckgebundenes Aufenthaltsrecht nach Art. 21 Abs. 1 AEU-Vertrag zustehe (NZS 2009, 652, 656), die ganz überwiegende Literatur und Rechtsprechung dagegen problematisieren diese Frage nicht. Ob sich die Bf. neben der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf die allgemeine zweckungebundene Unionsbürgerfreizügigkeit berufen kann, hängt davon ab, ob die Unionsbürgerfreiheit in den Fällen, in denen die Betroffenen nicht über ausreichende Existenzmittel verfügen, eingeschränkt werden kann, wie es Art. 7 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2004/38/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Unionsbürgerrichtlinie - UBRL, ABl. der EU vom 30.04.2004 L 158/77) vorsieht. Ob sich hieraus Zweifel ergeben, ob der Tatbestand des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im vorliegenden Fall erfüllt ist, kann letztlich dahinstehen, da die Anwendbarkeit dieser Vorschrift bereits aus verschiedenen anderen Gründen zweifelhaft ist.

b. Selbst wenn die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ihrem eigenen Tatbestand nach erfüllt wäre, könnte ein Anspruch auf Arbeitslosengeld II gegeben sein, weil
1. der Anwendungsvorrang von entgegenstehendem Europarecht eingreifen oder
2. der Leistungsausschluss wegen eines Verstoßes gegen innerstaatliches Verfassungsrecht teilweise nichtig sein könnte.
Das Europäische Fürsorgeabkommen dagegen kann der Anwendung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II im vorliegenden Fall nicht entgegenstehen. Zwar ist entgegen der Auffassung des SG nach der inzwischen ergangenen Grundsatzentscheidung des BSG vom 19.10.2010 Az. B 14 AS 23/10 R (die bislang nur als Terminbericht vorliegt) das Europäische Fürsorgeabkommen auf die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II anwendbar. Es kann jedoch im vorliegenden Fall schon deshalb nicht herangezogen werden, weil Polen dieses Abkommen nicht ratifiziert hat.

Zu Nr. 1:
In Rechtsprechung und Literatur ist nicht geklärt, ob der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II gegen die in Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU-Vertrag) garantierte Arbeitnehmerfreizügigkeit, gegen das in Art. 18 AEU-Vertrag gewährleistete Verbot der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit oder gegen die Freizügigkeit der Unionsbürger nach Art. 21 AEU-Vertrag verstößt. Die Vorschrift geht zurück auf Art. 24 Abs. 2 UBRL. Nach dieser Vorschrift ist der Aufnahmemitgliedstaat nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während eines längeren Zeitraums nach Art. 14 Abs. 4 Buchst. b einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren. Art. 14 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie gibt Unionsbürgern, die sich in einem anderen Mitgliedstaat zum Zweck der Arbeitssuche aufhalten, ein zeitlich unbegrenztes Aufenthaltsrecht, solange die Unionsbürger nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und dass für sie eine begründete Aussicht besteht, eingestellt zu werden.

Der Leistungsausschluss in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II ist also dann europarechtskonform, wenn es sich beim Arbeitslosengeld II um Sozialhilfe im Sinne des Art. 24 Abs. 2 UBRL handelt und diese Vorschrift ihrerseits mit dem höherrangigen Primärrecht der EU in Einklang steht.

Die Vereinbarkeit von Art. 24 Abs. 2 UBRL mit dem höherrangigen Gemeinschaftsrecht hat der Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) in seinem Urteil vom 04.06.2009 (Vatsouras, C-22/08 und C-23/08, Slg. 2009, I-4585) bejaht (aaO. Rdnr. 46), allerdings mit folgender Einschränkung: Als "Sozialhilfeleistung" im Sinne von Art. 24 Abs. 2 UBRL dürften nicht solche finanzielle Leistungen angesehen werden, die - unabhängig von ihrer Einstufung nach nationalem Recht - den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen (a.a.O., Rdnr 45). Ob die im deutschen Recht vorgesehenen Leistungen zur Grundsicherung nach dem SGB II Sozialhilfeleistungen im Sinne des Art. 24 Abs. 2 UBRL darstellen oder den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, hat der EuGH offen gelassen, weil dies zu prüfen, Aufgabe der nationalen Behörden und gegebenenfalls der innerstaatlichen Gerichte sei (a.a.O., Rdnr. 41).

Für den Fall, dass es sich um Leistungen handelt, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, hat der EuGH seine bisherige Rechtsprechung im Urteil Vatsouras wie folgt zusammengefasst (a.a.O., Rdnrn. 36 bis 40): Die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaates, die in einem anderen Mitgliedstaat eine Beschäftigung suchten, fielen in den Anwendungsbereich von Art. 39 EG-Vertrag (Arbeitnehmerfreizügigkeit = jetzt Art. 45 AEU-Vertrag - EuGH, Urteil vom 15.09.2005, Ioannidis, C-258/04, Slg. 2005, I-8275, Rdnr. 21). Es sei nicht mehr möglich, vom Anwendungsbereich des Art. 39 Abs. 2 EG-Vertrag (jetzt: Art. 45 Abs. 2 AEU-Vertrag) eine finanzielle Leistung auszunehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaates erleichtern soll (EuGH, Urteil vom 23.03.2004, Collins,
C-138/02, Slg. 2004, I-2703 Rdnr. 63 und Ioannidis, a.a.O., Rdnr. 22). Es sei jedoch legitim, dass ein Mitgliedstaat eine solche Beihilfe erst gewähre, nachdem das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung des Arbeitsuchenden mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates festgestellt wurde (EuGH, Urteil vom 11.07.2002, D Hoop, C-224/98, Slg. 2002, I-6191, Rdnr. 38 und a.a.O., Ioannidis, Rdnr. 30). Das Bestehen einer solchen Verbindung könne sich u. a. aus der Feststellung ergeben, dass der Betroffene während eines angemessenen Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung in dem betreffenden Mitgliedstaat gesucht hat (a.a.O., Collins, Rdnr. 70). Folglich könnten sich die Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten, die auf Arbeitssuche in einem anderen Mitgliedstaat sind und tatsächliche Verbindungen mit dem Arbeitsmarkt dieses Mitgliedstaates hergestellt haben, auf Art. 39 Abs. 2 EG-Vertrag (jetzt: Art. 45 Abs. 2 AEU-Vertrag) berufen, um eine finanzielle Leistung in Anspruch zu nehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll (Vatsouras, a.a.O., Rdnr. 40).

Dass die Bf. im Sinne der zitierten Rechtsprechung eine tatsächliche Verbindung zum deutschen Arbeitsmarkt hergestellt hat, indem sie während eines angemessenen Zeitraums tatsächlich eine Beschäftigung gesucht hat, ist aufgrund der zwei Arbeitsverträge vom 20. und vom 25.10.2010, die die Bf. vorgelegt und für die sie die Genehmigung der Bundesagentur für Arbeit beantragt hat, glaubhaft. Dass sie keine entsprechenden Arbeitsangebote früher erhalten hat, ist durch ihren schlechten Gesundheitszustand zu erklären, der Ende August zu einem Suizidversuch mit anschließendem mehrwöchigen stationären Klinikaufenthalt geführt hat.

Die Frage, ob die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II im Sinne der zitierten Rechtsprechung den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, ist vom Bundessozialgericht noch nicht entschieden worden. Verschiedene Landessozialgerichte haben diese Frage verneint und damit die europarechtliche Konformität des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bejaht (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.02.2010 Az. L 15 A 30/10 B ER; LSG NRW, Urteil vom 22.06.2010 Az. L 1 AS 36/08; aus der Literatur ebenso Hailbronner, ZFSH/ SGB 2009, 195, 201), andere haben die Rechtsfrage als ungeklärt bezeichnet (LSG NRW, Beschluss vom 10.05.2010, Az. L 7 AS 134/10 B ER) oder die Frage, ob die Leistung den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll, bejaht (BayLSG, Beschluss vom 04.05.2009 Az. L 16 AS 130/09 B ER; LSG BW, Beschluss vom 25.08.2010 Az. L 7 AS 3769/10 ER-B; aus der Literatur ebenso Kunkel/Frey, ZFSH/SGB 2008, 387 393; Schreiber, info also 2009, 195; Gerenkamp in Mergler/ Zink, SGB II, Stand Februar 2010, § 7 Rdnr. 13d; Valgolio in Hauck/Noftz, SGB II, 2011, K § 7 Rdnrn. 124 ff.). Der Generalanwalt Ruiz-Jarabo Colomer hielt in seinen Schlussanträgen vom 12.03.2009 in der Rechtssache Vatsouras Art. 39 Abs. 2 EG-Vertrag und die dazu im Urteil Collins entwickelten Maßstäbe für auf das deutsche Arbeitslosengeld II anwendbar (Slg. 2009, I-4585, Rdnrn. 56 bis 58), wollte jedoch eine tatsächliche Verbindung zum Arbeitsmarkt des Aufnahmemitgliedstaates im Sinne des Urteils Collins erst dann anerkennen, wenn der Arbeitsuchende dort zuvor eine wirtschaftliche Tätigkeit ausgeübt hat, die die Wahrscheinlichkeit erhöht, einen neuen Arbeitsplatz zu finden (a.a.O., Rdnrn. 60 ff.).

Für das vorliegende Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes kann die Frage, ob die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern sollen, nicht abschließend geklärt werden. Jedenfalls ist nicht auszuschließen, dass es sich um solche Leistungen handelt, weil hierfür gewichtige Argumente sprechen. Bereits der EuGH selbst hat in seinem Urteil Vatsouras angedeutet, dass die in § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGB II enthaltene Tatbestandsvoraussetzung der Erwerbsfähigkeit ein Hinweis darauf sein könnte, dass die Leistung den Zugang zur Beschäftigung erleichtern soll (a.a.O., Rdnr.43). Einen weiteren Hinweis in diese Richtung bildet der Umstand, dass gemäß Anhang X zu Art. 70 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 die Bundesrepublik Deutschland die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II nicht
als Leistungen der sozialen Fürsorge im Sinne des Art. 3 Abs. 5 Buchst. a, sondern als besondere beitragsunabhängige Geldleistung im Sinne des Art. 70 Abs. 1 der Verordnung eingestuft hat, die sowohl Merkmale der in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung genannten Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit als auch Merkmale der Sozialhilfe aufweist, worauf der Senat bereits in seinem Beschluss vom 04.05.2009, Az. L 16 S 130/09 B ER, hingewiesen hat (a.a.O., Rdnr. 25 bei juris, zur damals noch geltenden Verordnung (EWG) Nr. 1408/71). Schließlich ist nicht zu übersehen, dass der EuGH bereits einmal - nämlich in der oben zitierten Rechtssache Collins - eine Grundsicherungsleistung - nämlich die Beihilfe für Arbeitsuchende nach dem Jobseekers Act 1995 im Vereinigten Königreich - am Recht der Gleichbehandlung der Arbeitsuchenden nach Art. 39 Abs. 2 EG-Vertrag gemessen hatte, die ganz ähnlich wie die Leistungen zum Lebensunterhalt nach dem SGB II eine steuerfinanzierte Lebensunterhaltssicherung und eine arbeitsmarktorientierte Arbeitslosenhilfe zusammenfasste, und den dauerhaften Leistungsausschluss für arbeitsuchende EU-Bürger für gemeinschaftsrechtswidrig gehalten hatte (worauf das LSG BW a.a.O., Rdnr. 15 bei juris und Gerenkamp in Mergler/Zink, a.a.O., zutreffend hinweisen).

Zu Nr. 2:
Bedenklich erscheint der zeitlich unbeschränkte völlige Ausschluss von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, der durch den gleich formulierten Ausschluss von Sozialhilfe in § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII (dort eingefügt mit Wirkung vom 07.12.2006) flankiert wird, im Hinblick auf das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, das vom Bundesverfassungsgericht aus Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG abgeleitet wird (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 Az. 1 BvL 1/09, NJW 2010, 505, Rdnr. 133 bei juris m.w.N.). Da es sich bei Art. 1 Abs. 1 GG um kein Grundrecht nur für Deutsche, sondern um ein Menschenrecht handelt, gilt es auch für Ausländer, die sich in Deutschland aufhalten, vor allem wenn dieser Aufenthalt - wie im Fall der Bf. - rechtmäßig ist. Zwar gesteht das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber bei der Bestimmung der zur Gewährleistung dieses Existenzminimums zu erbringenden Leistungen einen Gestaltungsspielraum zu. Es fragt sich aber, ob nicht der zeitlich unbegrenzte Ausschluss jeglicher Leistungen für Ausländer, die sich rechtmäßig zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten, in den von Art. 19 Abs. 2 GG für unantastbar erklärten Wesensgehalt dieses Grundrechts eingreift. Ob der zeitlich unbefristete Ausschluss von Leistungen an arbeitsuchende Unionsbürger mit der Begründung gerechtfertigt werden kann, dass diese auf die Inanspruchnahme entsprechender Leistungen in ihrem Heimatland verwiesen werden könnten (so LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 26.02.2010 Az. L 15 AS 30/10 B ER Rdnr. 30), dürfte zumindest zweifelhaft sein.

Ferner ist im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) zweifelhaft, ob eine durch sachliche Gründe zu rechtfertigende Ungleichbehandlung darin liegt, dass Ausländer, die vollziehbar ausreisepflichtig sind, wenigstens das "reduzierte" Existenzminimum nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) erhalten (§ 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG), dagegen Ausländer, die die Unionsbürgerschaft besitzen und sich legal in Deutschland aufhalten, gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II und § 23 Abs. 3 Satz 1 SGB XII ohne zeitliche Begrenzung von jeglichen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen sind.

2. Anordnungsgrund

Der Anordnungsgrund, d. h. die drohende Verletzung von Rechten oder Interessen der Bf. in dem Fall, dass der Anordnungsanspruch besteht, aber keine einstweilige Anordnung ergeht, besteht darin, dass sie - da sie über keinerlei finanzielle Ressourcen verfügt - gezwungen wäre, nach Polen zurückzukehren, wobei ungeklärt ist, wie sie diese Rückkehr finanzieren sollte. Selbst wenn in Polen ihr Existenzminimum gesichert wäre, hat sie dort nach dem glaubhaften Vorbringen sowohl der Bf. als auch ihrer Mutter niemanden, der die Einnahme ihrer Medikamente überwachen und bei beginnender psychischer Dekompensation frühzeitig eine psychiatrische Behandlung einleiten könnte. Damit bestünde die konkrete Gefahr erneuter Entgleisungen der psychischen Erkrankung, die - insbesondere wenn sie zu Suizidversuchen führen - jederzeit für die Bf. tödlich enden können.

Weiter ist im Rahmen des Anordnungsgrundes zu berücksichtigen, dass die vorläufige Zahlung von Arbeitslosengeld II dazu beitragen kann, die ambulante medizinische Versorgung der Bf. sicherzustellen. Die gesetzliche Krankenkasse, die Beigeladene zu 2, hat die Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 13 SGB V unter Hinweis auf den Ausschlusstatbestand des § 5 Abs. 11 SGB V verneint. Dieser Ausschlusstatbestand spielt jedoch bei der Versicherungspflicht nach § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V, die durch den Bezug von Arbeitslosengeld II ausgelöst wird, keine Rolle.

3. Folgenabwägung

Die unter Nr. 3 dargestellte existenzielle Bedeutung der beantragten Leistungen für die Bf. ist gegen das fiskalische Interesse der Bg. abzuwägen, die vorläufig erbrachten Leistungen im Falle eines Obsiegens in der Hauptsache möglicherweise nicht zurück zu erhalten. Angesichts in beide Richtungen offener Erfolgsaussichten der Hauptsache führt die Abwägung der Interessen beider Parteien dazu, eine einstweilige Anordnung zugunsten der Bf. zu erlassen.

Hierbei wird auch berücksichtigt, dass nach dem Bild, das sich dem Gericht aufgrund der in dem Erörterungstermin erfolgten ausführlichen Befragung der Bf. sowie ihrer Mutter bietet, eine Absicht, Sozialleistungen in Deutschland in Anspruch zu nehmen, nicht das prägende Motiv für den Zuzug der Bf. nach Deutschland darstellte. Die medizinische Versorgung der Bf. war in Polen gesichert. Die dortige Sozialhilfe war zwar wesentlich geringer als in Deutschland, jedoch stand als Motiv eindeutig die nur in Deutschland mögliche Betreuung durch die Mutter im Vordergrund, die sowohl die Einnahme der Medikamente durch die Bf. überwachen als auch bei psychischen Entgleisungen frühzeitig eine ärztliche Behandlung einleiten wollte. Im Übrigen erscheint die Absicht der Bf., in Deutschland arbeiten und ihren Lebensunterhalt selbst verdienen zu wollen, glaubwürdig und bei optimaler medizinischer Betreuung sowie zusätzlicher Überwachung durch die Mutter auch nicht von vornherein unrealistisch.

4. Inhalt der einstweiligen Anordnung

Dauer und Höhe der zuzusprechenden Leistungen liegen gemäß § 86b Abs. 1 Satz 4 SGG i.V.m. § 938 Abs. 1 ZPO im Ermessen des Gerichts. Das Gericht übt dieses Ermessen bezüglich der Dauer dahingehend aus, Leistungen nicht über den Januar 2011 hinaus zuzusprechen, da derzeit die begründete Aussicht besteht, dass die Bundesagentur für Arbeit eine Arbeitsgenehmigung für einen der von der Bf. vorgelegten Arbeitsverträge erteilt und die Bf. dann Einkommen erzielt, das auf die Leistungen anzurechnen ist.

Der Höhe nach beschränkt das Gericht die vorläufig monatlich zu erbringende Regelleistung auf den Betrag, der ihr nach dem Asylbewerberleistungsgesetz außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen als Grundleistung zustünde, nämlich einen Betrag von 360 DM als Haushaltsvorstand gemäß § 3 Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 AsylbLG zuzüglich des Barbetrags nach § 3 Abs. 1 Satz 4 Nr. 2 AsylbLG in Höhe von 80 DM, umgerechnet 184,07 EUR + 40,90 EUR = 224,97 EUR, gerundet 225 EUR. Hinzu kommen Kosten für Unterkunft und Heizung nach § 22 SGB II in Höhe von 233 EUR, entsprechend dem Drittel der Kosten, das auch ihre Mutter nach dem Bescheid der Bg. vom 28.06.2010 erhält. Für die Zeit vom 09. bis zum 31.08.2010 werden die Ansprüche gemäß § 41 Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB II anteilig für 22 von 30 Tagen berechnet, das sind für die Regelleistung 22/30 - 224,97 EUR = 164,98 EUR, gerundet 165 EUR und für die Kosten für Unterkunft und Heizung 22/30 - 233 EUR = 170,87 EUR, gerundet 171 EUR.

Maßgeblich für diese Bemessung der Leistungshöhe ist, dass einerseits das Bestehen des Anordnungsanspruchs nicht völlig sicher ist, andererseits die Bf. zumindest nicht schlechter als ein Ausländer gestellt werden soll, der vollziehbar ausreisepflichtig ist.

Soweit sich der Hauptantrag auf höhere Leistungen und Leistungen für einen längeren Zeitraum bezieht, ist die Beschwerde unbegründet.

Da das Rechtsmittel teilweise zurückgewiesen wird, ist auch über den Hilfsantrag zu entscheiden. Auch insoweit ist die Beschwerde unbegründet, weil ein Anspruch der Bf. gegen die Bg. auf Sicherstellung der Krankenversicherung nicht besteht. § 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V stellt einen gesetzlichen Pflichtversicherungstatbestand dar, dessen Voraussetzungen bei Zweifeln im Verhältnis zwischen der gesetzlichen Krankenkasse und der Bf. zu klären ist. Der Anspruch auf Übernahme von Krankenversicherungsbeiträgen nach § 26 SGB II setzt das Bestehen einer Krankenversicherung voraus, gibt jedoch keinen Anspruch auf Sicherstellung einer solchen.

Bezüglich des Hilfsantrags kommt auch die alternative Verpflichtung der Beigeladenen nach § 75 Abs. 5 SGG nicht in Betracht, weil bezüglich der Erbringung von Leistungen der Krankenversorgung keine Anspruchsalternativität im Verhältnis der Beigeladenen zur Bg. besteht, vielmehr die Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II von vornherein unter keinen denkbaren Umständen zur Erbringung der Krankenversorgung verpflichtet sind (vgl. BSG, Urteil vom 23.09.2003 Az. B 12 RA 3/02 R, SozR-2400 § 28h Nr. 1, Rdnrn. 25 ff. bei juris; BSG, Urteil vom 26.05.2004 Az. B 12 AL 4/03 R, SozR 4-2500 § 5 Nr. 2, Rdnrn. 18 - 20 bei juris; BSG, Urteil vom 08.05.2007 Az. B 2 U 3/06 R, SozR 4-2700 § 136 Nr. 3).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Bewilligung von Prozesskostenhilfe unter Anwaltsbeiordnung beruht auf § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. §§ 114 ff. ZPO.
Dieser Beschluss ist gemäß § 177 SGG unanfechtbar.
Rechtskraft
Aus
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