L 5 AS 172/10 B

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 10 AS 1673/09
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 5 AS 172/10 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Die Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens wird als unzulässig verworfen.

Die Beschwerde gegen die Ablehnung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wird zurückgewiesen.

Die Sache wird zur weiteren Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens, an das Sozialgericht Magdeburg zurückgegeben.

Gründe:

I.

Die Klägerin wendet sich gegen einen Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg, mit dem dieses ein sozialgerichtliches Klageverfahren nach § 102 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingestellt und einen Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt hat.

In der Sache wendet sich die Klägerin gegen eine Beschränkung der Grundsicherungsleistungen für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB II) auf die Kosten für Unterkunft und Heizung für die Zeit vom 1. Dezember 2008 bis 7. Januar 2009, die der Beklagte mit Bescheid vom 12. Dezember 2008 feststellte. Mit Bescheid vom selben Tag bewilligte er ihr und ihrem am ... 2003 geborenen Sohn Arbeitslosengeld II für den Zeitraum vom 7. November 2008 bis 30. April 2009, wobei er die Leistungen im Dezember 2008 um 351 EUR und im Januar 2009 um 81,90 EUR minderte.

Gegen den Sanktionsbescheid und den Bewilligungsbescheid legte die Klägerin mit Schreiben vom 13. Januar 2009 ohne nähere Begründung Widerspruch ein, den der Beklagte jeweils mit Widerspruchsbescheid vom 18. Mai 2009 als unbegründet zurückwies.

Am 18. Juni 2009 hat die Klägerin beim Sozialgericht "Klage gegen die Bescheide der Beklagten vom 12.12.08 (2) in der Gestalt der Widerspruchsbescheide (2) vom 18.5.09, Az. der Beklagten: 04502BG0033898 W 432/09 und 433/09" erhoben. Eine Begründung hat die Klage nicht enthalten.

Mit Schreiben vom 19. Juni 2009 hat das Sozialgericht die Klägerin gebeten, die Klage binnen eines Monats zu begründen und den Widerspruchsbescheid in Kopie einzureichen. Nach fruchtlosem Verstreichen dieser Frist hat es nach nochmaliger Erinnerung mit Schreiben vom 21. September 2009 unter dem 12. Oktober nochmals an die Abreichung der Klagebegründung erinnert. Bei Ausbleiben einer entsprechenden Stellungnahme innerhalb der nächsten drei Monate werde das Verfahren nach § 102 Abs. 2 SGG eingestellt. Dieses Schreiben hat es an den Prozessbevollmächtigten der Klägerin per Fax gesandt.

Am 28. Dezember 2009 hat dieser beim Sozialgericht Akteneinsicht zur Begründung der Klage beantragt, die ihm mit Schreiben vom 29. Dezember 2009 gewährt wurde. Er könne die Akten während der Dienststunden in der Geschäftsstelle des Sozialgerichts abholen. Die Rückgabe habe innerhalb von fünf Werktagen zu erfolgen. Am 13. Januar 2010 hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin die Akten ausgehändigt bekommen.

Mit Schreiben vom 20. Januar 2010 hat das Sozialgericht der Klägerin mitgeteilt, das Verfahren sei nach § 102 Abs. 2 SGG eingestellt worden. Die Verwaltungsakten sollten unverzüglich zurückgesandt werden.

Am 21. Januar 2010 hat die Klägerin die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Eine vorläufige Klagebegründung sei bereits am 4. Januar 2010 in den Hausbriefkasten des Justizzentrums Magdeburg eingeworfen worden. Das Rechtschutzinteresse für die Klage sei nicht entfallen. Zudem liege kein Hinweis auf § 102 Abs. 2 SGG vor. Dem Schreiben hat die Klägerin einen auf den 4. Januar 2010 (vorläufige Klagebegründung) datierten Schriftsatz beigefügt.

Unter dem 21. Januar 2009 hat das Sozialgericht der Klägerin eine Frist für die Beibringung des Nachweises, dass sie die mit Schreiben vom 12. Oktober 2009 gesetzte Frist nicht schuldhaft versäumt habe, eingeräumt. Diese ließ sie ungenutzt verstreichen. Auf entsprechende Nachfrage des Sozialgerichts hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 10. März 2010 die Einstellung des Verfahrens nach § 102 Abs. 3 SGG beantragt.

Mit Beschluss vom 1. April 2010 hat das Sozialgericht das Verfahren eingestellt und den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, die Klage gelte entsprechend der Regelung des § 102 Abs. 2 SGG als zurückgenommen. Trotz der Aufforderungen des Gerichts vom 19. Juni und 21. September 2009 sowie des Hinweises auf die Rechtsfolgen bei Ausbleiben der geforderten Mitwirkung durch das Schreiben vom 12. Oktober 2009 habe die Klägerin das Verfahren ohne Angabe von Gründen länger als drei Monate nicht betrieben. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht zu gewähren gewesen. Die Behauptung, der Schriftsatz vom 4. Januar 2010 sei in den Hausbriefkasten des Justizzentrums Magdeburg eingeworfen worden, habe die Klägerin nicht glaubhaft gemacht. In der Rechtsmittelbelehrung hat das Sozialgericht auf die Möglichkeit der Beschwerde gegen die Ablehnung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand und auf dessen Unanfechtbarkeit im Übrigen nach § 102 Abs. 3 Satz 2 SGG hingewiesen.

Die Klägerin hat am 22. April 2010 gegen den Beschluss Beschwerde eingelegt und die Fortsetzung des Klageverfahrens beantragt. Sie habe durch das Akteneinsichtsgesuch angezeigt, ein Interesse an der Fortführung des Rechtsstreites zu haben. Kurz nachdem die Akten zur Einsicht übergeben worden seien, sei das Verfahren eingestellt worden. Zudem sei eine substantiierte Aufforderung des Gerichts, sich zu einzelnen Punkten zu äußern, nicht erfolgt. Den Einwurf des Schriftsatzes vom 4. Januar 2010 in den Hausbriefkasten des Justizzentrums Magdeburg hat der Prozessbevollmächtigte durch Abgabe einer Eidesstattlichen Versicherung glaubhaft gemacht.

Die Klägerin beantragt wörtlich,

den Beschluss des Sozialgerichts Magdeburg vom 1. April 2010 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Er hält die den Beschluss des Sozialgerichts tragenden Gründe für zutreffend.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Verwaltungsvorgang des Beklagten sowie auf die Gerichtsakte ergänzend Bezug genommen.

II.

Soweit sich die Klägerin gegen den Ausspruch der Einstellung des Verfahrens im Beschluss des Sozialgerichts vom 1. April 2010 wendet, ist die Beschwerde unzulässig. Sie ist nach § 102 Abs. 3 Satz 3 SGG ausgeschlossen.

Soweit sie sich gegen die Ablehnung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wendet, ist die Beschwerde zwar form- und fristgerecht (§ 173 SGG) eingelegt worden und statthaft (§ 172 Abs. 1 SGG). Sie ist jedoch unbegründet. Das Sozialgericht hat im Ergebnis zu Recht den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand abgelehnt, da er in Ermangelung eines Fristversäumnisses ins Leere geht.

Nach § 67 Abs. 1 SGG ist jemandem, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Eine gesetzliche Frist hat die Klägerin vorliegend jedoch nicht versäumt.

Nach § 102 Abs. 2 SGG wird eine Klagerücknahme fingiert, wenn der Kläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Gemäß § 102 Abs. 2 Satz 3 SGG ist der Kläger auf die eintretenden Rechtsfolgen hinzuweisen.

Die in § 102 Abs. 2 SGG verankerte gesetzliche Drei-Monats-Frist ist durch das Sozialgericht nicht in Lauf gesetzt worden. Zum einen hat es die Betreibensaufforderung dem Prozessbevollmächtigten per Fax zukommen lassen und somit keine ordnungsgemäße Zustellung bewirkt.

§ 63 Abs. 1 SGG bestimmt, dass Anordnungen und Entscheidungen, durch die eine Frist in Lauf gesetzt wird - wie hier in § 102 Abs. 2 Satz 1 SGG (vgl. BR-Drs.820/07, S. 23) -, den Beteiligten zuzustellen sind. Dabei kann das Gericht zwischen den in der Zivilprozessordnung vorgesehenen Zustellarten wählen. Zwar kann eine Zustellung nach § 174 Abs. 2 ZPO auch mittels einer Telekopie an einen Rechtsanwalt (§ 174 Abs. 1 ZPO) bewirkt werden, allerdings nur zusammen mit einem Empfangsbekenntnis. Als bewirkt gilt die Zustellung, wenn der Adressat bestätigt, das ihm als Telekopie übermittelte Schriftstück erhalten und zu einem bestimmten Zeitpunkt als zugestellt entgegengenommen zu haben. Denn unabdingbares Erfordernis für eine Zustellung ist eine unzweifelhafte Äußerung des Willens, das Schriftstück zur Zustellung anzunehmen. An dieser Rechtslage hat sich die durch das Zustellungsreformgesetz von 2001 eingefügte Möglichkeit, die Zustellung auch durch Telekopie oder elektronische Mittel vorzunehmen (§ 174 Abs. 2 und 3 ZPO), nichts geändert (vgl. OLG Köln, Beschluss vom 4. Juli 2006, 6 W 81/06, Rn. 7; Juris unter Bezug auf BGH, Urteil vom 3. Mai 1994, VI ZR 248/93, Rn. 11, Juris). Das Sozialgericht hat jedoch die Betreibensaufforderung nur per Fax, nicht in Verbindung mit einem Empfangsbekenntnis an den Prozessbevollmächtigten der Klägerin versandt. Eine ordnungsgemäße Zustellung nach § 63 SGG hat es dadurch nicht bewirkt.

Dieser Zustellungsmangel wurde auch nicht geheilt. Lässt sich die formgerechte Zustellung eines Dokuments nicht nachweisen oder ist das Dokument unter Verletzung zwingender Zustellungsvorschriften zugegangen, so gilt es nach § 189 ZPO in dem Zeitpunkt als zugestellt, in dem das Dokument der Person, an die die Zustellung dem Gesetz gemäß gerichtet war oder gerichtet werden konnte, tatsächlich zugegangen ist. Für die Heilung des Zustellungsmangels genügt es nicht, dass das Schriftstück in den Herrschaftsbereich des Empfängers gelangt ist und dieser objektiv die Möglichkeit hat, es zur Kenntnis zu nehmen. Erforderlich ist vielmehr, dass ihm die Kenntnisnahme zuverlässig möglich ist, was bei einem Rechtsanwalt die Bereitschaft hierzu einschließt (vgl. Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 29. Oktober 2004, 4 Bs 392/04, Rn. 5, Juris). Das zeigt zum einen die Gesetzesbegründung. Der Gesetzgeber ist auf der Grundlage des Regierungsentwurfs für das Zustellungsreformgesetz davon ausgegangen, dass § 189 ZPO an das Vorbild des § 9 Abs. 1 Verwaltungszustellungsgesetz (VwZG) a.F. anknüpft und ein Schriftstück deshalb "als zu dem Zeitpunkt zugestellt gelten (soll), in dem es der Zustellungsadressat oder ein Empfangsberechtigter nachweislich erhalten hat" (vgl. BT-Drs. 14/4554, 24). Bei ordnungsgemäßer Zustellung gegen Empfangsbekenntnis wird das Schriftstück erst zu dem Zeitpunkt zugestellt, zu dem der Empfänger von dem Zugang Kenntnis erlangt und bereit ist, die Zustellung entgegenzunehmen (vgl. u.a. BSG, Urteil vom 21. Dezember 2009, B 14 AS 63/08 R, Rn. 13, Juris). Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hätte bei Zustellung des Schreibens vom 12. Oktober 2009 mithin die Möglichkeit gehabt, selbst den Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem er bereit ist, das Schriftstück zur Kenntnis zu nehmen. Erst wenn er hierzu bereit ist, ist der Zweck der Zustellung erreicht. Dass einem Rechtsanwalt als Organ der Rechtspflege durch die Heilungsvorschrift des § 189 ZPO diese Möglichkeit genommen werden sollte, ist nicht ersichtlich.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin hat ausgeführt, es habe keinen Hinweis auf § 102 Abs. 2 SGG gegeben. Das spricht dafür, dass keine Bereitschaft im o.g. Sinne bestand, die Betreibensaufforderung zur Kenntnis zu nehmen. Im Übrigen lässt sich der konkrete Zeitpunkt einer etwaigen Heilung des dargestellten Zustellungsmangels nicht bestimmen.

Zum anderen ist die Betreibensaufforderung nicht mit vollem Namen des Richters verfügt und unterschrieben worden und hat somit keine Wirkungen zwischen den Beteiligten entfaltet. Ein, wie hier, lediglich mit dem Zusatz "auf richterliche Anordnung" durch eine(n) Justizangestellte(n) unterzeichnetes gerichtliches Schreiben der Geschäftsstelle vermag eine Frist zum Betreiben des Verfahrens nicht in Lauf zu setzen (vgl. BSG, Urteil vom 1. Juli 2010, B 13 R 74/09 R, Rn. 48, 49, Juris).

Schließlich hat die Klägerin die Drei-Monats-Frist nicht versäumt.

Die Fiktion einer Klagerücknahme ist für die Fälle eingeführt worden, in denen Anhaltspunkte für ein Desinteresse der klägerischen Partei an der Fortführung des Rechtsstreits bestehen. Nichtbetreiben liegt vor, wenn die klägerische Partei sich gar nicht oder nur unzureichend innerhalb von drei Monaten äußert, sodass nicht oder nur unzureichend dargelegt ist, dass das Rechtsschutzbedürfnis im konkreten Fall ungeachtet der vorliegenden Indizien fortbesteht. Diese Indizwirkung kann die Partei widerlegen, indem sie binnen der Drei-Monats-Frist substantiiert darlegt, dass und warum das Rechtsschutzinteresse trotz des Zweifels an seinem Fortbestehen, aus dem sich die Betreibensaufforderung ergeben hat, nicht entfallen ist (Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Kammerbeschluss vom 19. Mai 1993, 2 BvR 1972/92, Rn. 14, Juris). Nur wenn beide Voraussetzungen vorliegen, kann von einer willkürfreien, durch Sachgründe gerechtfertigten Beschränkung des Zugangs zum weiteren Verfahren gesprochen werden.

Es kann dahinstehen, ob die Klägerin innerhalb der Drei-Monats-Frist die Forderung des Sozialgerichts erfüllt hat, die Klage zu begründen. Einerseits sieht § 92 SGG eine Klagebegründung nicht zwingend vor. Andererseits hat sie eindeutig kundgetan, ein Interesse an der Fortführung des Rechtsstreites zu haben, indem sie Einsicht in die Verwaltungsakte begehrte, um die Klage begründen zu können. Dieses tat sie mit Schreiben vom 28. Dezember 2009, mithin innerhalb der vom Gericht "gesetzten" Frist.

Der Antrag der Klägerin auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand geht mithin ins Leere.

Einer Kostenentscheidung bedurfte es nicht, da sich das Beschwerdeverfahren als unselbstständiges Zwischenverfahren erwiesen hat. Der Beschluss vom 1. April 2010 ist hinsichtlich der Einstellung des Verfahrens nur deklaratorisch. Klarstellend war deshalb im Tenor auszuweisen, dass die Rechtssache an das Sozialgericht zurückzuverweisen ist, das über den Antrag der Klägerin auf Fortsetzung des Verfahrens und im Zuge dessen auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben wird.
Rechtskraft
Aus
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