L 5 AS 160/09

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
5
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 5 AS 14/06
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 5 AS 160/09
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Der Kläger und Berufungskläger wendet sich gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des Beklagten.

Der am ... 1953 geborene, geschiedene Kläger stellte am 30. Oktober 2004 bei dem Beklagten einen Antrag auf Gewährung von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Im Antragsformular gab er an, bislang Arbeitslosenhilfe iHv 116,34 EUR wöchentlich bezogen zu haben. Er habe die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente beantragt. Er bewohne im Rahmen einer Wohngemeinschaft mit Frau B. P. eine 48,49 qm große Zwei-Zimmer-Wohnung; sie teilten sich die Kosten. Er habe an Miete 111,32 EUR, an Betriebskostenvorauszahlung 23,18 EUR und an Heizkosten 33,00 EUR zu tragen. In grüner Schrift ist im Antragsformular ergänzt, für die Kosten der Unterkunft (KdU) seien 222,64 EUR Kaltmiete, 46,36 EUR Heizkosten und 66,00 EUR Betriebskosten zu zahlen. Der Kläger legte einen Untermietvertrag vor, nach dem er ab November 2004 einen Betrag iHv 200,00 EUR für "die Hälfte der Miete sowie Energie und Nebenkosten" an Frau P. jeweils zum 15. eines laufenden Monats zu "überweisen" hat. Einem vorgelegten Kontoauszug vom 16. November war eine Überweisung iHv 200,00 EUR an die Mitmieterin am 15. November 2004 zu entnehmen.

Mit Bescheid vom 8. Dezember 2004 bewilligte der Beklagte dem Kläger für den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 30. Juni 2005 Grundsicherungsleistungen iHv insgesamt 657,66 EUR/Monat. Davon entfielen ausweislich des Berechnungsbogens 331,00 EUR auf die Regelleistung und 326,66 EUR auf die KdU.

Mit Schreiben vom 26. Mai 2005 hörte der Beklagte den Kläger zu einer Rücknahme des Bewilligungsbescheides wegen einer Überzahlung hinsichtlich der KdU "aufgrund eines Fehlers" an. Es seien monatliche Leistungen iHv 657,66 EUR ausgezahlt worden, ihm stünden jedoch nur 494,33 EUR monatlich zu. Er habe die Überzahlung zwar nicht verursacht, sie jedoch erkennen können. Dazu führte der Kläger unter dem 25. August 2005 aus, der Sachverhalt treffe zu. Ihm sei dies erst nach dem Hinweis des Beklagten aufgefallen. Er habe das Geld ausgegeben, eine Rückzahlung sei ihm nicht möglich. Er verweise auf § 45 Abs. 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X).

Mit Bescheid vom 19. Oktober 2005 nahm der Beklagte seine Bewilligung nach § 45 SGB X für den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 30. Juni 2005 teilweise iHv 163,33 EUR monatlich zurück und forderte den Kläger auf, die überzahlten Leistungen nach § 40 Abs. 2 SGB II iVm § 50 SGB X zu erstatten. Die Bewilligung der KdU sei von Anfang an rechtswidrig gewesen. Es seien höhere KdU als beantragt gewährt worden. Der Kläger könne sich auf Vertrauensschutz nicht berufen, da er entweder die Rechtswidrigkeit des Bescheides gekannt oder diese grob fahrlässig nicht gekannt habe. Bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt habe er erkennen können, dass die Höhe der bewilligten Leistungen unzutreffend gewesen sei.

Am 18. November 2005 legte der Kläger Widerspruch ein. Er wisse nicht, wie die Leistungen berechnet würden. Grobe Fahrlässigkeit liege nicht vor, denn er müsse nicht besser rechnen können als die Bediensteten des Beklagten.

Mit Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 2005 wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Gemäß § 45 Abs. 1 SGB X dürfe ein begünstigender, rechtswidriger Verwaltungsakt auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden, wenn der Begünstigte sich nicht auf Vertrauen im Sinne von § 45 Abs. 2 SGB X berufen könne. Der Kläger sei in der Lage gewesen, den Ablehnungsbescheid zu lesen und zu erkennen, dass ihm Leistungen für KdU iHv 326,66 EUR bewilligt worden waren, obwohl er deutlich niedrigere monatliche Mietzahlungen zu leisten gehabt habe. Bereits bei Anstellen einfachster Überlegungen hätte ihm die Überzahlung auffallen müssen.

Dagegen hat der Kläger am 9. Januar 2006 beim Sozialgericht Magdeburg (SG) Klage erhoben. Er habe auf den Bestand des Bescheides vertraut und im Vertrauen auf die Rechtmäßigkeit die erbrachten Leistungen verbraucht. Er habe in der Vergangenheit gelernt, dass die Obrigkeit immer Recht habe. Deshalb habe er sich keine Gedanken gemacht und auch keine Zweifel an dem Bescheid gehabt. Zudem habe er damals "Schmerzen ohne Ende" gehabt und sich mehrmals das Leben nehmen wollen. Seine persönliche Einsichtsfähigkeit sei eingeschränkt gewesen, sodass nicht von grober Fahrlässigkeit ausgegangen werden könne. In einem auf Bitte des SG erstellten Lebenslauf gab er an, nach Abschluss der Oberschule im Jahr 1970 eine Ausbildung zum Baufacharbeiter absolviert zu haben. Später habe er sich zum Kraftfahrer und zum Schweißer qualifiziert. Im Jahr 1986 sei er zum Kesselwärter ausgebildet worden. Von 1996 bis 1999 habe er eine Ausbildung zum Altenpfleger absolviert. Seither sei er arbeitslos. Bereits 2003 habe er eine befristete Erwerbsminderungsrente bezogen.

Das SG hat die Gerichtsakten der sozialgerichtlichen Klageverfahren S 2 SB 168/05 und S 17 RJ 71/04 beigezogen.

Im Rentenverfahren (Az.: S 17 RJ 71/04) gewährte die Deutschen Rentenversicherung Mitteldeutschland dem Kläger im Vergleichsweg ab dem 1. September 2004 Rente wegen voller Erwerbsminderung gemäß § 43 Abs. 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI) bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres. Nachfolgend erhielt der Beklagte vom Rentenversicherungsträger gemäß § 103 SGB X u.a. die von ihm an den Kläger im Zeitraum vom 1. Januar bis 30. Juni 2005 erbrachten Leistungen iHv monatlich 494,33 EUR erstattet.

Mit Bescheid vom 30. November 2004 erkannte das Landesverwaltungsamt den Kläger als behinderten Menschen mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 40 ohne Merkzeichen mit Wirkung ab dem 15. Juli 2004 an wegen einer Funktionsminderung der Hals- und Lendenwirbelsäule bei degenerativen Veränderungen und Bandscheibenvorfällen sowie Nervenwurzelreizerscheinungen und Enge des Rückenmarkkanals. Dagegen legte der Kläger mit Schreiben vom 23. Dezember 2004 Widerspruch mit dem Ziel der Zuerkennung eines GdB von 50 sowie des Merkzeichens "G" ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 22. Juni 2005 zurückgewiesen wurde. Die am 27. Mai 2005 erhobene Klage (Az.: S 2 SB 168/05) hat das SG mit rechtskräftigem Gerichtsbescheid vom 16. Juli 2007 abgewiesen.

Der Facharzt für Neurochirurgie W. W. führte in einem vom Kläger vorgelegten Arztbericht an die Hausärztin vom 25. November 2004 aus, der Kläger klage über Schmerzen im LWS- und HWS-Bereich lokal sowie im linken Bein im lateralen Ober- und Unterschenkel und auch im linken Arm, besonders bis in die Finger ausstrahlend. Immer wieder komme es auch zu Kopfschmerzen, ein weiteres Problem seien Rückenschmerzen im Sinne morgendlicher Startschwierigkeiten, die auch nach Ruhepausen aufträten.

Im Abschlussbericht der Lungenklinik B. /H. gGmbH über die stationäre Behandlung vom 9. bis zum 22. Juni 2005, aus der er mit der Medikation "Metamizol 500 mg, 6 stündlich 1Tbl., Anco Brausetablette, bei Bedarf 1" entlassen wurde, wird u.a. ausgeführt:

"Hinsichtlich des chronischen Schmerzsyndroms bei bekannter zervikaler und lumbaler Bandscheibenprotrusion ist ein schmerztherapeutisches Konsil dringend anzuraten. Im ambulanten Bereich hatte der Patient bereits Diclac, Tramal, Valoron und Durogesic 25 erhalten, wobei die entsprechenden Therapien dann jeweils wegen Nebenwirkungen in Form von Blutdruckabfall, Schwindel, Bauch- und Kopfschmerzen abgebrochen wurden."

In der mündlichen Verhandlung beim SG hat der Kläger erklärt, er habe in der Zeit der Bekanntgabe des Bescheides vom 8. Dezember 2004 wegen seiner Schmerzen überhaupt nichts mitbekommen. Vielleicht wäre es seine Pflicht gewesen, sich den Bewilligungsbescheid anzusehen. Dazu sei er jedoch nicht in der Lage gewesen.

Mit Urteil vom 26. Februar 2009 hat es die Klage abgewiesen. Der Bewilligungsbescheid sei teilweise rechtswidrig, denn der Kläger habe nur einen Anspruch auf SGB II-Leistungen iHv 492,53 EUR/Mt. gehabt. Der Bescheid könne auch gemäß § 45 Abs. 1 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit teilweise zurückgenommen werden, weil sein Vertrauen nicht schutzwürdig sei. Denn er habe die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts in Folge grober Fahrlässigkeit nicht gekannt. Er sei nach seinem individuellen Verständnishorizont in der Lage gewesen, die Rechtswidrigkeit des Bescheides zu erkennen. Ihm hätten die zu hohen KdU-Leistungen auffallen müssen. Nach der Überzeugung der Kammer habe keine schmerzbedingte Einschränkung der geistigen Fähigkeiten des Klägers vorgelegen. Hinweise darauf ergäben sich weder aus seinem Verhalten im Prozess noch aus den vorliegenden ärztlichen Unterlagen. Insbesondere sei er in der Lage gewesen, am 29. Dezember 2004 gegen die Entscheidung des Versorgungsamtes über seine Schwerbehinderung Widerspruch einzulegen. Dass er nicht alles glaube, was eine Behörde entscheide, zeigten schon die von ihm geführten Gerichtsverfahren.

Gegen das ihm am 19. März 2009 zugestellte Urteil hat der Kläger am 16. April 2009 Berufung eingelegt. Das SG habe seinen Zustand in der damaligen Zeit nicht berücksichtigt. Er habe sich zweimal das Leben nehmen wollen und sei deswegen ins Krankenhaus A. eingeliefert worden. Dort habe man ihn "mit Tabletten vollgestopft, auch nach der Entlassung, wobei man gar nicht mehr klar denken konnte noch überhaupt gross etwas mitbekommen hat". Die Schmerzen hätten ihm den Verstand geraubt. Weiter leide er an Schlaflosigkeit. Dadurch könne er sich weder konzentrieren noch sich etwas merken. Sein Gesundheitszustand habe sich verschlechtert; die Schmerzen hätten sich stark verschlimmert. Dies sei aus den Krankenakten ersichtlich.

Auf Frage der Berichterstatterin zum Umfang der Medikamenteneinnahme im Dezember 2004 hat der Kläger die Medikamente "Tramal" und "Tilidalor" genannt, aber keine Angaben zur Dosis gemacht. Auf Nachfrage, wann genau die Suizidversuche mit anschließenden Krankenhausbehandlungen erfolgt seien, hat der Kläger erklärt, er glaube, es handle sich um die Aufenthalte im Kreiskrankenhaus A. im Juli und Oktober 2005. Er habe nach der Entlassung aus der Lungenklinik B. im Juni 2005 neben den verordneten noch andere Schmerzmittel eingenommen. Er wisse jedoch nicht mehr welche. Er habe auch Schlafmittel genommen.

Die behandelnde Hausärztin Dr. med. K. I. hat im Befundbericht vom 21. Dezember 2010 zu den Beschwerden in der ersten Jahreshälfte 2005 ausgeführt: "Schwindel, Kopfschmerz unter Analgetikatherapie, ständiges Brennen im HWS-Bereich, Schmerzausstrahlung bis li Hand, Schmerz LWS mit Ausstrahlg in beide Beine li ) re, li Bein "knickt weg", Belastungsluftnot". Zu den verordneten Schmerzmitteln und der Dosierung hat sie angegeben, sie habe "Durogesic 25 µg/h, Wechsel 3 tägig, im Verlauf ersetzt durch Tramagit 100-200 mg/d, Ancogranulat bis 3 x 1 Btl., Analgin bis 3 x1 Tbl." verordnet. Ihr sei nicht bekannt, ob der Kläger weitere Schmerzmittel eingenommen habe. Schlafmittel habe sie nicht verordnet; erhebliche Schlafprobleme aufgrund der Schmerzsymptomatik seien ihr aber bekannt und auch in der Lungenklinik B. beobachtet worden. Auf Frage zur Steuerfähigkeit hat sie ausgeführt: "Insgesamt verlangsamt (in) Bewegungsmuster und Artikulation, subj. Schwindel, Bewusstseinsklarheit war gegeben".

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 26. Februar 2009 und den Bescheid des Beklagten vom 19. Oktober 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Dezember 2005 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er führt aus, aus den beigebrachten Zeugnissen und der bis zum Jahr 1999 absolvierten dreijährigen Umschulung zum Altenpfleger ergebe sich, dass der Kläger über mindestens durchschnittliche intellektuelle Fähigkeiten verfüge. Die von ihn benannten Schmerzmittel Tramal und Tilidalor führten nur in seltenen Einzelfällen zu verschwommener Sicht oder Schläfrigkeit. Dem Bewilligungsbescheid seien die Leistungen für KdU unschwer zu entnehmen, sodass er durchaus in der Lage gewesen sei, die Fehlerhaftigkeit zu erkennen. Dem Berufungsschriftsatz sei zu entnehmen, dass der Kläger auch in der Lage sei, seine finanzielle Situation zu überschauen. Eine eingeschränkte Wahrnehmungs- und Verständnisfähigkeit sei nicht ausreichend dargelegt. Jedenfalls sei es ihm noch möglich gewesen, einfachste Überlegungen anzustellen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Verwaltungsakte des Beklagten, der beigezogenen Gerichtsakten der Verfahren S 17 RJ 71/04 und S 2 SB 168/05 sowie das Protokoll der mündlichen Verhandlung ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere form- und fristgerecht gemäß § 151 Abs. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) erhoben worden. Sie ist auch statthaft iSv § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG in der seit dem 1. April 2008 geltenden Fassung. Danach ist die Berufung ohne Weiteres zulässig, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes bei einer Klage, die auf eine Geld-, Dienst- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 750,00 EUR übersteigt. Hier ist eine Erstattungsforderung iHv 979,98 EUR im Streit.

Die Berufung ist unbegründet. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Denn der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des Beklagten vom 19. Oktober 2005 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Dezember 2005 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

Rechtsgrundlage des Aufhebungsbescheides ist § 45 Abs. 1 SGB X iVm § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB II und § 330 Abs. 2 Drittes Buch Sozialgesetzbuch – Arbeitsförderung (SGB III). Danach ist ein Leistungen bewilligender Verwaltungsakt, der schon im Zeitpunkt seines Erlasses rechtswidrig gewesen ist (rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt) auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, wenn die Voraussetzungen des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X vorliegen.

Der angegriffene Bescheid ist formell rechtmäßig. Der Kläger ist mit Schreiben vom 26. Mai 2005 vor Erlass des angegriffenen Bescheides angehört worden. Er hat mit Schreiben vom 25. August 2005 Stellung genommen. Die Jahresfrist gemäß § 45 Abs. 4 Satz 2 SGB X ab Kenntnis der die Rücknahme rechtfertigenden Tatsachen ist gewahrt.

Der Bescheid ist auch materiell rechtmäßig. Gemäß § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X ist ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, sofern das Vertrauen des Begünstigten auf den Bestand des Verwaltungsaktes nicht schutzwürdig ist, weil der die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte, oder er diese in Folge grober Fahrlässigkeit nicht kannte. Bei fehlendem Vertrauensschutz nach § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X handelt es sich gemäß § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB II iVm § 330 Abs. 2 SGB III um eine gebundene Entscheidung, d.h. die Behörde ist zur Aufhebung des Bewilligungsbescheides verpflichtet und darf keine Ermessenserwägungen anstellen.

Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der Bewilligungsbescheid des Beklagten vom 8. Dezember 2004, mit dem Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1. Januar bis zum 30. Juni 2005 gewährt worden waren, war bezogen auf die Bewilligung von KdU für alle Monate des Bewilligungszeitraumes teilweise rechtswidrig. Denn dem Kläger standen aufgrund des Umstandes, dass die Wohnung von zwei Personen als Wohngemeinschaft bewohnt wurde, die ihm gewährten Leistungen für die vollständigen Unterkunftskosten nicht in voller Höhe zu.

Der Kläger hatte im streitgegenständlichen Zeitraum vom 1. Januar bis zum 30. Juni 2005 keinen Anspruch auf Berücksichtigung der Miete zur Gänze im Rahmen der KdU gemäß § 22 SGB II. Denn er schuldete seiner Mitbewohnerin aus dem Untermietvertrag die Hälfte der Miete, also 167,50 EUR.

Nach der mit der Vermieterin, der Wohnungsgenossenschaft "Einigkeit" eG am 21. Oktober 2004 abgeschlossenen "Zusatzvereinbarung zum Nutzungsvertrag vom 01.12.1999" war der Kläger ab dem 1. November 2004 in das bereits mit der Mitbewohnerin Bettina Pschorn bestehende Nutzungsverhältnis als gleichrangiger "Mitnutzungsberechtigter" eingetreten. Dementsprechend war von einem hälftigen Kostenanteil auszugehen – wie er selber es im SGB II-Leistungsantrag auch erklärt hatte.

Höhere KdU ergeben sich nicht daraus, dass der Kläger mit seiner Mitbewohnerin unter dem 25. Oktober 2004 einen "Untermietvertrag" abgeschlossen hat, nachdem er verpflichtet war, monatlich 200,00 EUR an seine Mitbewohnerin zu zahlen.

Es ist dem Wortlaut der Vereinbarung nicht eindeutig zu entnehmen, dass mit dem monatlichen Betrag nur solche Aufwendungen für die Wohnung abgegolten werden sollten, die auch im Rahmen der KdU zu berücksichtigen wären. Die Formulierung "die Hälfte der Miete sowie Energie und Nebenkosten in Höhe von 200,00 EUR" legt nahe, dass neben den direkten Aufwendungen für die Unterkunft (Kaltmiete, Betriebs- und Heizkosten) als Energie auch der Haushaltsstrom erfasst sein sollte. Dieser gehört jedoch nicht zu den KdU und wäre vom vereinbarten Betrag abzuziehen. Zum Inhalt des Untermietvertrages vermochte der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf Befragen des Senats jedoch keine genaueren Angaben zu machen. Er hat auch nicht belegt, dass im streitigen Zeitraum vom 1. Januar bis zum 30. Juni 2005 die Kostenverteilung nach "Untermietvertrag" praktiziert worden wäre. Auch diesbezüglich hat er im Termin keine ergänzenden Angaben gemacht und auch die vom Senat angeforderten Belege (Kontoauszüge o.ä.) nicht beigebracht. Der in der Verwaltungsakte befindliche Kontoauszug belegt lediglich eine (erste) Überweisung am 15. November 2004 und liegt außerhalb des streitigen Zeitraums.

Der Senat geht daher von den Angaben aus, die der Kläger persönlich in seinem Leistungsantrag gemacht hatte (167,50 EUR/Mt.).

Unter Berücksichtigung der hälftigen Wohnungskosten ergibt sich ein KdU-Anspruch des Klägers iHv 161,53 EUR monatlich. 50 % der Kaltmiete betragen 111,32 EUR. Hinzu kommt die hälftige Betriebskostenvorauszahlung iHv 33,00 EUR. Von der hälftigen Heizkostenvorauszahlung (23,18 EUR) ist ein Betrag iHv 17,21 EUR zu berücksichtigen. Denn vom Anteil des Klägers ist ein Betrag iHv 5,97 EUR für die im Regelsatz enthaltenen Anteile für die Kosten der Wassererwärmung abzuziehen (vgl. BSG, Urteil vom 27. Februar 2008, Az.: B 14/11b AS 15/07 R, FEVS 59, 537). Addiert man hierzu die für den Kläger maßgebliche Regelleistung iHv 331,00 EUR, gelangt man zu einem Betrag von 492,53 EUR, der gemäß § 41 Abs. 2 SGB II gerundet einen monatlichen Leistungsanspruch iHv 493,00 EUR ergibt.

Da dem Kläger monatlich 657,66 EUR bewilligt worden waren, hat er jeweils 164,66 EUR zu viel erhalten. Bezogen auf den sechsmonatigen Bewilligungszeitraum handelt es sich um einen Gesamtbetrag der Überzahlung von 987,96 EUR. Da der Beklagte vom Kläger nur einen monatlichen Betrag iHv 163,33 EUR, d.h. insgesamt 979,88 EUR zurückfordert, ist der geltend gemachte Erstattungsanspruch der Höhe nach nicht zu beanstanden.

Die übrigen Voraussetzungen von § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 und Abs. 3 SGB X iVm § 40 Abs. 1 Nr. 1 SGB II und § 330 Abs. 2 SGB III für die Rücknahme des Bewilligungsbescheides lagen vor.

Insbesondere ist der Tatbestand des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X erfüllt. Der Senat ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass der Kläger entweder die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes kannte, oder er diese in Folge grober Fahrlässigkeit nicht kannte, sodass er sich auf Vertrauen nicht berufen kann.

Nach der Zielsetzung der Regelung soll sich nicht auf Vertrauensschutz berufen können, wer die Rechtswidrigkeit des Bescheides kennt oder kennen muss und deshalb mit einer Rücknahme ohnehin zu rechnen hat. Voraussetzung ist entweder die positive Kenntnis der Rechtswidrigkeit des Bewilligungsbescheides oder – bei Unkenntnis – mindestens grobe Fahrlässigkeit der fehlenden Kenntnis. Maßgeblich ist, ob der Begünstigte weiß oder wissen muss, dass die ihn begünstigende Regelung im Bescheid vom geltenden Recht nicht gedeckt ist.

Dabei liegt grobe Fahrlässigkeit nach der Legaldefinition in Absatz 2 Satz 3 Nr. 3 2. Halbsatz vor, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt im besonders schweren Maß verletzt hat. Maßgeblich ist ein subjektiver Sorgfaltsmaßstab. Die erforderliche Sorgfalt in einem besonders schweren Maß hat danach derjenige verletzt, der schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht anstellt und daher nicht beachtet, was im gegebenen Fall jedem einleuchten muss.

Objektiv war hier bei Lektüre des Bescheides leicht zu erkennen, dass offensichtlich zu hohe Leistungen für KdU bewilligt worden waren. Aus dem Berechnungsbogen des Bescheides ergab sich unschwer eine KdU-Bewilligung iHv 326,66 EUR. Dass dieser Betrag etwa doppelt so hoch war wie die geltend gemachten (hälftigen) Wohnungskosten, muss sich zwangsläufig jedem aufdrängen, der den Bescheid in Kenntnis der tatsächlichen Unterkunftskosten liest.

Auch nach subjektiven Maßstäben lag grobe Fahrlässigkeit vor. Der Kläger hat nach seinem Bekunden im Verfahren den Bescheid des Beklagten nicht gelesen. Indes ist von jedem Leistungsempfänger zumindest zu erwarten, dass er den Bescheid, mit dem ihm die beantragten Leistungen gewährt werden, sorgfältig durchliest. Zwar besteht in der Regel kein Anlass, einen Bescheid intensiv auf seine rechtliche Richtigkeit hin zu überprüfen. Andererseits sind die Beteiligten im Sozialrechtsverhältnis verpflichtet, sich gegenseitig vor vermeidbaren Schäden zu bewahren. Entsprechend ist der Bescheidadressat rechtlich gehalten, den für ihn günstigen Bescheid auch zu lesen und damit zur Kenntnis zu nehmen. Hätte der Kläger den Bewilligungsbescheid gelesen und inhaltlich zur Kenntnis genommen, hätte sich ihm aufgrund einfachster und naheliegender Überlegungen aufgedrängt, dass der zuerkannte Betrag für die KdU deutlich zu hoch war. Für diese Erkenntnis des Fehlers im Bescheid waren keine besonderen Kenntnisse der Rechtslage erforderlich, denn es liegt auf der Hand, dass die Leistungen für die KdU bei der Grundsicherung für Arbeitsuchende nicht ohne Weiteres (annähernd) doppelt so hoch sein können wie die tatsächlich zu zahlende Miete. Diese leichte Erkennbarkeit des Fehlers senkt die Anforderungen an den individuellen Verständnishorizont des Begünstigten.

Der Senat konnte sich – auch nach dem von der Person des Klägers in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindruck – nicht von der von ihm geltend gemachten "eingeschränkten Einsichtsfähigkeit" im maßgeblichen Zeitpunkt des Zugangs des Bescheides im Dezember 2004 überzeugen.

Soweit der Kläger erstmals in der mündlichen Verhandlung ausgeführt hat, Probleme mit dem Rechnen zu haben, vielfach bereits mit Operationen in der Grundrechenarten überfordert zu sein und die Prozentrechnung nicht begreifen zu können, stellt dies – die diesbezüglichen Angaben als wahr unterstellt – die Bewertung des Senats nicht in Frage. Selbst wenn den Kläger bereits einfachere Subtraktionen überfordern sollten, konnte er gleichwohl die Fehlerhaftigkeit des Bescheides erkennen, denn dazu bedurfte es keiner Rechenoperationen. Es war lediglich ein Vergleich der tatsächlichen und der bewilligten Wohnkosten erforderlich. Dieser war dem Kläger möglich. Denn er hat auf Befragen in der mündlichen Verhandlung erklärt, trotz seiner Rechenschwäche bei einem Vergleich zweier Zahlen erkennen zu können, welche mehr und welche weniger ist. Daher war er in der Lage, die Höhe der Beträge zu vergleichen.

Der Senat geht davon aus, dass der Kläger aufgrund seiner chronischen Schmerzsymptomatik im maßgeblichen Zeitraum erheblich belastet war – zumal trotz der Einnahme starker Analgetika offensichtlich Beschwerdefreiheit nicht erreicht werden konnte, und dass die eingenommenen Schmerzmittel erhebliche Nebenwirkungen auslösten. Die Bewältigung des täglichen Lebens erforderte vom Kläger in der damaligen Zeit erhebliche Anstrengungen. Der Senat verkennt nicht, dass diese den Kläger bis zur Grenze seiner persönlichen Belastungsfähigkeit gefordert haben dürften. Indes ergeben sich insgesamt aus den dem Senat zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel keine Anhaltspunkte für eine Einschränkung der geistigen Fähigkeiten oder eine Herabsetzung der Einsichtsfähigkeit.

Die Einschätzung seiner Hausärztin Dr. I. im Befundbericht vom 21. Dezember 2010, wonach er in Bewegungsabläufen und Artikulation insgesamt verlangsamt, jedoch bewusstseinsklar gewesen sei, deckt sich mit den übrigen vorliegenden ärztlichen Begutachtungen, die ihm uneingeschränkte geistige Fähigkeiten (Konzentrations- und Merkfähigkeit, Ausdauer, Wendigkeit, Anpassungsfähigkeit) bestätigten – wie der des Facharztes für Chirurgie Dr. med. P. B. in seinem Befundbericht vom 27. August 2004 (Bl. 49 ff. der GA S 17 RJ 71/04), der angibt, die geistigen Fähigkeiten bestünden ohne Einschränkungen. Soweit dieser – wie auch die Lungenklinik B. im Entlassungsbericht vom 28. Juni 2005 – einen Verdacht auf Analgetika-Abusus äußert, lässt dies – im Zusammenhang mit der Angabe, auch nicht ärztlich verordnete Schlafmittel unbekannter Bezeichnung eingenommen zu haben – möglicherweise auf eine wenig verantwortungsvolle Tabletteneinnahme schließen. Dies ist jedoch für sich gesehen kein Anhaltspunkt für eine Bewusstseinstrübung oder eine herabgesetzte Einsichtsfähigkeit. Insgesamt ergeben sich aus den vorliegenden Unterlagen keine konkreten Anhaltspunkte für eine im Dezember 2004 (bei Zugang des Bewilligungsbescheides) verminderte Einsichts- oder Steuerungsfähigkeit aufgrund der Analgetikaeinnahme oder der Schmerzsymptomatik. Ob der Kläger sich wegen Suizidversuchen im Krankenhaus A. befand, kann offen bleiben. Denn er war dort vom 6. bis 8. Juli und vom 10. bis 13. Oktober 2005 – und damit außerhalb des maßgeblichen Zeitraums – behandelt worden.

Vielmehr ergibt sich aus den übrigen Fakten des Falles, dass der Kläger durchaus den Anforderungen des täglichen Lebens gewachsen war.

So war er etwa in der Lage, sich im Juli 2005 per Internet ein behindertengerechtes Auto zu suchen, allein mit dem Zug nach Cuxhaven zu fahren und das Auto schließlich allein zurückzufahren.

Er war auch in der Lage sich mit Behörden auseinanderzusetzen: Er selbst hat am 2. März 2004 Klage gegen die Ablehnung des Rentenantrags erhoben, sich einen Prozessvertreter gesucht und in der Folge mit dessen Unterstützung das Klageverfahren betrieben.

Er hat am 19. November 2004 den SGB II–Leistungsantrag gestellt und – auch nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung – selbst die dazu erforderlichen Antragsformulare korrekt ausgefüllt sowie die erforderlichen Belege beigebracht. Den am 25. Oktober 2004 geschlossenen "Untermietvertrag" hat er nach den Vorgaben seiner Mitbewohnerin formuliert und am Computer geschrieben. Pünktlich hat er am 15. November 2004 die erste Mietzahlung an sie überwiesen. Anhaltspunkte für eine geistige oder psychische Überforderung ergeben sich insoweit nicht.

Von maßgeblicher Bedeutung ist insoweit der bereits in der erstinstanzlichen Entscheidung zu Recht aufgeführte Umstand, dass der Kläger unter dem 23. Dezember 2004 einen Widerspruch gegen den am 30. November 2004 vom Landesverwaltungsamt erlassenen (und später im Klageverfahren S 2 SB 168/05 angegriffenen) Bescheid über die Anerkennung als behinderter Mensch verfasst und eingelegt hat.

Auch wenn der Kläger in der mündlichen Verhandlung bekundet hat, in wichtigen Behördendingen regelmäßig seinen Bruder zu Rate gezogen und Schreiben mit seiner Hilfe formuliert zu haben, da er sich mit Gesetzen nicht auskenne, zeigt dies, dass er im fraglichen Zeitraum entgegen seinen Angaben im Verfahren in der Lage war, Behördenschreiben und Bescheide zu lesen, sie nach Wichtigkeit einzuordnen, sich mit deren Inhalt auseinanderzusetzen, ggf. den Bruder um Hilfe zu bitten und – soweit er mit dem Inhalt des Schreibens nicht einverstanden war – den zulässigen Rechtsbehelf einzulegen.

Entsprechend wäre es ihm auch möglich gewesen, den Bewilligungsbescheid des Beklagten vom 8. Dezember 2004 zu lesen und seinen Inhalt zur Kenntnis zu nehmen. Soweit er dies nicht getan und deshalb die teilweise Rechtswidrigkeit des Bescheids nicht erkannt hat, liegt nach den vorstehenden Ausführungen jedenfalls grobe Fahrlässigkeit iSv § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X vor.

Die Beklagte war daher berechtigt, den Bewilligungsbescheid vom 8. Dezember 2004 teilweise mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben.

Die Rückforderung des überzahlten Betrags iHv insgesamt 979,88 EUR ist nicht zu beanstanden. Denn gemäß § 50 Abs. 1 Satz 1 SGB X sind, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, die bereits erbrachten Leistungen zu erstatten. Die Ausnahmevorschrift des § 40 Abs. 2 Satz 1 SGB II findet hier wegen des Eingreifens von § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X keine Anwendung.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision liegen nicht vor. Es handelt sich um eine Einzelfallentscheidung auf gesicherter Rechtsgrundlage.
Rechtskraft
Aus
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