S 73 KR 2306/10

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
73
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 73 KR 2306/10
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 1 KR 256/11
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Die im konkreten Einzelfall bestehende Hinweispflicht nach § 175 Abs. 4 Satz 6 SGB V über das Sonderkündigungsrecht bei Erhebung eines Zusatzbeitrages kann nicht durch ein auf allgemeine Aufklärung nach § 13 SGB I konzipiertes Medium, wie Mitgliederzeitschriften oder Internetseiten, erfüllt werden, weil die Kenntnisnahme durch ein solches Format nicht für den Regelfall zu erwarten ist. Mitgliederzeitschriften sind keine Pflichtlektüre für die Versicherten.
1. Die Bescheide der Beklagten vom 1. März 2010 und 12. März 2010 jeweils in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 24. November 2010 werden insoweit aufgehoben, als Zusatzbeiträge für die Kalendermonate Februar bis November 2010 erhoben wurden. 2. Im Übrigen werden die Klagen abgewiesen. 3. Die Beklagte hat den Klägern deren außergerichtliche Kosten des Rechtsstreites zur Hälfte zu erstatten. 4. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten jeweils über die Erhebung des einkommensunabhängigen Zusatzbeitrages durch die beklagte Krankenkasse für die Zeiträume ab Februar 2010 in Höhe von monatlich 8,00 EUR.

Die Kläger sind bei der Beklagten Mitglied, die Klägerin zu 1) nach § 5 Abs 1 Nr. 2a SGB V, der Kläger zu 2) nach Nr. 11 der Vorschrift. Mit undatiertem Schreiben vom Februar 2010 teilte die Beklagte den Klägern mit, dass ab 1. Februar 2010 ein Zusatzbeitrag von monatlich 8,00 EUR erhoben werde. Dieses Schreiben endet auf der ersten Seite "Mit freundlichem Gruß". Es folgt ein "PS". Ein Sonderkündigungsrecht findet auf dieser Seite des Schreibens keine Erwähnung. Auf der Rückseite befinden sich zwei Textblöcke. Der erste ist überschrieben: "Wir möchten Ihnen die Zahlung des Zusatzbeitrages so einfach und bequem wie möglich machen:", der zweite: "Weitere allgemeine Hinweise". Der erste Textblock weist eine kleinere Schrift als der Text der Vorderseite auf, der zweite Textblock ist in noch lesbarer, jedoch sehr deutlich kleinerer Schrift als der Text der Vorderseite und des ersten Textblocks dargestellt. Als sechster Unterpunkt im zweiten Textblock erfolgen Ausführungen, die überschrieben sind mit: "Rechtsgrundlagen (Auszüge)". Darin findet sich das wortwörtliche Zitat von § 175 Abs 4 Satz 5 SGB V.

Gegen dieses Schreiben wandten sich die Kläger. Sie erhielten daraufhin jeweils Bescheid mit der Festsetzung des angekündigten Zusatzbeitrages, die Klägerin zu 1) mit Datum vom 12. März 2010, der Kläger zu 2) vom 1. März 2010. Diese Bescheide enthielten keinen Hinweis auf ein Sonderkündigungsrecht. Die Kläger wandten sich gegen die Bescheide jeweils mit ihren Widersprüchen. Die Beklagte wies die Widersprüche mit den Widerspruchsbescheiden vom 24. November 2010 zurück. Sie erhebe von ihren Mitgliedern auf satzungsmäßiger Grundlage ab Februar 2010 einen Zusatzbeitrag unabhängig vom Einkommen der Versicherten von monatlich 8 EUR. Der Verwaltungsrat habe eine entsprechende Satzungsänderung am 28. Januar 2010 beschlossen. Diese sei durch das Bundesversicherungsamt genehmigt worden. Erhebe die Kasse Zusatzbeiträge, stehe den Mitgliedern ein Sonderkündigungsrecht zu.

Die Kläger verfolgen ihr Begehren mit den Klagen vom 1. Dezember 2010 weiter. Sie rügen, dass andere Kassen die Zusatzbeiträge nicht erheben würden und dies auch bei der Beklagten nicht erforderlich wäre, wenn diese ordentlich haushalten würde. Die Beklagte habe zudem nicht geprüft, ob Härtefälle vorliegen würden. Die Klägerin zu 1) erhalte Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II. Der Kläger zu 2) lebe ohne Grundsicherungsleistungen von einer Rente unter dem Existenzsicherungsniveau. Seit über einem Jahr nähmen die Kläger keine ärztlichen Leistungen mehr in Anspruch; so könnten sie die damit verbundenen Zuzahlungen und Praxisgebühren vermeiden. Der von der Beklagten geltend gemachte Zusatzbeitrag ließe sich jedoch durch selbstbestimmtes Verhalten der Kläger nicht beeinflussen und treffe die Kläger in besonders harter Weise.

Die Kläger beantragen,

1. die Bescheide der Beklagten vom 1. März 2010 und vom 12. März 2010 jeweils in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 24. November 2010 aufzuheben, 2. festzustellen, dass eine Pflicht der Kläger zur Zahlung von Zusatzbeiträgen nicht besteht.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hält ihre Entscheidung für zutreffend und verweist auf die Hinweise zum Sonderkündigungsrecht auf der Rückseite des Schreibens aus Februar 2010 und darauf, dass in der Mitgliederzeitschrift – Heft 2/2010 Seite 32 - und auf der Internetseite der Beklagten umfassend über das Sonderkündigungsrecht informiert worden sei. Zudem sei der Satzungsbeschluss ordnungsgemäß veröffentlicht worden.

Der Kammer haben außer den Prozessakten die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Sie waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der Einzelheiten des Sachverhaltes und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Schriftsätze, das Protokoll und den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die Kläger haben Anspruch auf teilweise Aufhebung der angefochtenen Bescheide. Diese verletzen Rechte der Kläger, weil sie rechtswidrig die Pflicht zur Zahlung von Zusatzbeiträgen für Zeiträume feststellen, in denen wegen unzureichenden Hinweises auf das Sonderkündigungsrecht gemäß § 175 Abs 4 Satz 7 SGB V eine solche Pflicht nicht bestand, nämlich von Februar bis November 2010. Die Satzung der Beklagten bietet über die angefochtenen Bescheide hinaus keine Grundlage für die Beitragsforderung, weil die höherrangige Einwendung aus § 175 Abs 4 Satz 7 SGB V für die genannten Zeiträume die Forderung ausschließt. Für die Folgezeiträume sind die Bescheide jedoch nicht zu beanstanden.

Rechtsgrundlage für die Erhebung des Zusatzbeitrages ist § 242 Abs 1 Satz 1 SGB V in Verbindung mit § 14 der Satzung der Beklagten. Allerdings war die Beklagte an der Erhebung des Zusatzbeitrages wegen § 175 Abs 4 Satz 7 SGB V gehindert, solange sie die Kläger nicht in gesetzeskonformer Weise auf das Sonderkündigungsrecht hingewiesen hat. Dies ist erst mit dem Widerspruchsbescheid geschehen, so dass ab dem Monat Dezember 2010 die Zusatzbeiträge auch von den Klägern zu erheben waren. Weder die Bescheide noch die zugrunde liegende Satzungsänderung sind insofern rechtswidrig. Sie begründen deshalb ab Dezember 2010 den angefochtenen Beitragsanspruch.

Nach § 175 Abs. 4 Satz 5 SGB V kann die Mitgliedschaft abweichend von den allgemeinen Regeln bis zur erstmaligen Fälligkeit der Erhebung des Zusatzbeitrages gekündigt werden, wenn die Krankenkasse ab dem 1. Januar 2009 einen Zusatzbeitrag erhebt. § 175 Abs 4 Sätze 6 und 7 SGB V treffen folgende Regelung: "Die Krankenkasse hat ihre Mitglieder auf das Kündigungsrecht nach Satz 5 spätestens einen Monat vor erstmaliger Fälligkeit hinzuweisen. Kommt die Krankenkasse ihrer Hinweispflicht nach Satz 6 gegenüber einem Mitglied verspätet nach, verschiebt sich für dieses Mitglied die Erhebung oder die Erhöhung des Zusatzbeitrags und die Frist für die Ausübung des Sonderkündigungsrechts um den entsprechenden Zeitraum."

Die Erhebung von Zusatzbeiträgen ist Eingriffsverwaltung, weshalb sie nur auf gesetzlicher Grundlage erfolgen darf. Wegen § 175 Abs 4 Satz 7 SGB V ist die Erteilung des Hinweises nach Satz 6 zwingende Voraussetzung für die Erhebung des Zusatzbeitrages oder dessen Erhöhung. Der Gesetzgeber ordnet in Satz 7 der Vorschrift eine rechtshindernde Einwendung gegen das Entstehen einer Zusatzbeitragspflicht an. Denn die Erhebung oder die Erhöhung des Zusatzbeitrags verschiebt sich bei Nichterfüllung der Hinweispflicht solange, wie diese Pflicht nicht erfüllt ist. Für diese Zeiträume darf die Krankenkasse die Zusatzbeiträge nicht erheben oder erhöhen. Sofern sie diese dennoch einzieht, geschieht dies ausweislich der Formulierung der Vorschrift, die nicht etwa nur die Fälligkeit und Realisierbarkeit, sondern den Anspruch selbst betrifft, ohne Rechtsgrundlage und hat ggf. bereits erfolgte Zusatzbeitragszahlungen zu erstatten. Die rechtshindernde Einwendung ist von Amts wegen zu beachten. Subjektive Voraussetzungen oder Kausalzusammenhänge zwischen einer Verletzung der Hinweispflicht und der Ausübung oder Nichtausübung des Sonderkündigungsrechtes werden durch das Gesetz nicht normiert. Die Erfüllung der gesetzlich geforderten Hinweispflicht ist tatbestandliche Voraussetzung der Ermächtigungsgrundlage. Es kommt also unabhängig von einer tatsächlichen Kenntnis des Mitglieds über sein Kündigungsrecht oder von den konkreten Umständen des Einzelfalles ausschließlich darauf an, ob und wann die Hinweispflicht erfüllt wurde.

Eine unzureichende Umsetzung der Hinweispflicht nach Satz 6 der Vorschrift ist als Nichterfüllung zu bewerten, denn das Gesetz erwartet von der rechtsstaatlich arbeitenden Sozialverwaltung eine richtige Erfüllung der gesetzlich vorgegebenen Pflichten. Das Gesetz konkretisiert allerdings nicht ausdrücklich, in welcher Form und mit welcher Intensität die Mitglieder auf das Sonderkündigungsrecht hinzuweisen sind. Die Gesetzesmaterialien vermerken insofern lediglich: "Die Hinweispflicht soll den Mitgliedern ermöglichen, frühzeitig zu einer günstigeren Krankenkasse zu wechseln." (BT-Drs 16/3100 S. 158); den Ausschussmaterialien ist lediglich eine Wiedergabe der inhaltlichen Neuregelung zu entnehmen (BT-Drs 16/4247 S 51). Zu beachten ist insoweit allerdings, dass es der Gesetzgeber für notwendig gehalten hat, über die Pflichten nach §§ 13 bis 15 SGB I (Aufklärung, Beratung und Auskunft) hinaus den Zusatzbeiträge erhebenden Krankenkassen ausdrücklich eine Hinweispflicht über das den Mitgliedern eingeräumte Gestaltungsrecht aufzuerlegen. Weder soll die üblicherweise zu erwartende Kenntnis der gesetzlichen oder satzungsrechtlichen Vorschriften nach deren verfassungsmäßiger Publizierung noch die durch die Sozialleistungsträger und deren Verbände ohnehin zu gewährleistende Aufklärung der Mitglieder ausreichen. Vielmehr verlangt der Gesetzgeber darüber hinaus den konkreten Hinweis an das jeweilige Mitglied und er knüpft daran zwei erhebliche Rechtsfolgen, indem er das individuelle Kündigungsrecht bis zum Ablauf eines Monats nach der Erfüllung der Hinweispflicht zulässt und die Erhebung der Zusatzbeiträge oder deren Erhöhung solange unterbindet. Der Hinweispflicht wird daher auch nicht durch eine entsprechende Änderung der Satzung und deren Publizierung genügt, zumal der Hinweis nicht nur vor der Einführung sondern auch vor jeder Erhöhung des Zusatzbeitrages gegeben werden muss. Daraus, dass die Rechtsfolgen für den Einzelfall angeordnet sind, erhellt sich, dass der Hinweis konkret gegenüber dem jeweiligen Mitglied geäußert werden muss.

Aus diesen Umständen schließt die Kammer, dass an die Hinweispflicht nicht weniger strenge Anforderungen zu stellen sind, als dies für Rechtsfolgenbelehrungen im Sozialrecht (vgl nur BSG, Urteil vom 15.12.2010, B 14 AS 92/09 R mwN) und vergleichbare Transparenz-pflichten für Sonderkündigungsrechte oder Widerspruchsrechte im Privatrecht (etwa bei Fernabsatzgeschäften, bei der Erhöhung von Preisen für Leistungen in Dauerrechtsverhältnissen, wie die Versorgung mit Wasser, Strom und Gas) gilt (vgl BGH, Urteil vom 09.02.2011, VIII ZR 295/09, RdNr 36). Dass der Gesetzgeber die Formulierung "Hinweis" und nicht "Belehrung" verwendet hat, spricht nicht gegen diesen strengen Maßstab, weil es nicht darum geht, den Mitgliedern Rechtsfolgen zu verdeutlichen, sondern Gestaltungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Dass Informationen als "Hinweis" zu vermitteln sind, schließt daher nicht aus, dass der Hinweis bestimmte Anforderungen zu erfüllen hat. Zwar muss der geforderte Hinweis nicht zusammen mit der Beitragsfestsetzung erteilt werden. Wegen der vom Gesetzgeber ersichtlich angenommenen Bedeutung des Gestaltungsrechts für den Einzelnen und das System der Krankenkassen und der an die Nichterfüllung der Hinweispflicht geknüpften Folgen ist nach Auffassung der Kammer Schrift- oder jedenfalls Textform zu verlangen. Dass der Hinweis in den von der Kammer entschiedenen Fällen mündlich erteilt worden sein könnte, ist ohnehin nicht vorgetragen. Zudem muss der Hinweis klar, vollständig, verständlich und eindeutig sowie durch seine Stellung im Text und die drucktechnische Gestaltung einem durchschnittlichen Empfänger deutlich machen, dass dieser durch einen Kassenwechsel die Zahlung des Zusatzbeitrages oder dessen Erhöhung vermeiden kann. Die bloße Wiedergabe des Gesetzeswortlauts bei der Angabe der Rechtsgrundlagen für die Zusatzbeitragserhebung ohne deutlichen Hinweis auf die besondere Gestaltungsmöglichkeit genügt diesen Ansprüchen nicht. Als ein Element der Rechtsgrundlage wäre insofern richtigerweise vielmehr zu vermerken, dass der Zusatzbeitrag ohne Hinweis auf das Sonderkündigungsrecht nicht erhoben werden darf. Dies wäre jedoch selbst nicht der gesetzlich geforderte Hinweis.

Die angefochtenen Bescheide der Beklagten und die drucktechnisch identischen Schreiben vom Februar 2010 erfüllen diese Anforderungen nicht. Die Bescheide enthalten keinerlei Hinweis auf das Sonderkündigungsrecht. Die Schreiben vom Februar 2010 zeigen neben allgemeinen Ausführungen zur Notwendigkeit der Erhebung des Zusatzbeitrages vor allem Angaben zur möglichst günstigen Zahlung. Das Sonderkündigungsrecht wird im eigentlichen Text des Anschreibens, also im Bereich bis zur Grußformel und vor dem "PS", nicht erwähnt. Eine entsprechende Information lässt sich erst auf der Rückseite des Schreibens im buchstäblich Kleingedruckten unter der Überschrift "Weitere allgemeine Hinweise" als eine Passage des sechsten Abschnitts unter der Überschrift "Rechtsgrundlagen (Auszüge)" durch bloße Wiedergabe des Wortlauts von § 175 Abs 4 Satz 5 SGB V entdecken. Die Hinweise sind zudem in äußerst kleiner Schriftgröße gehalten. Eine Verdeutlichung, dass ein Gestaltungsrecht eingeräumt sei, lässt sich nicht erkennen. Aufmerksamkeit für das Gestaltungsrecht wird nicht ansatzweise geweckt. Die Zuordnung der Textpassage des Normzitats zu den Rechtsgrundlagen stellt die Information in einen völlig anderen, falschen Zusammenhang. Wie ausgeführt handelt es sich beim Versäumen des Hinweises um eine rechtshindernde Einwendung gegen die Erhebung der Zusatzbeiträge, so dass zu deren Rechtsgrundlagen nicht Satz 5 der Vorschrift sondern Satz 7 zählt. Das Abdrucken des Normtextes von § 175 Abs 4 Satz 5 SGB V ohne Satz 7 der Vorschrift als Rechtsgrundlage ist daher sachlich falsch und erfolgt in einem unrichtigen Zusammenhang. Auch wenn der Beklagten zuzugeben ist, dass sie den Hinweis nicht besser formulieren braucht als der Gesetzgeber, so hat sie ihn an einer Stelle versteckt, an der ein durchschnittlicher Leser sie nicht zu erwarten hat, zumal eine Verdeutlichung als wesentliches Gestaltungsrecht gerade nicht erfolgt. Da das Schreiben vom Februar 2010 nach eigenem Vortrag der Beklagten als Massensendung den Mitgliedern zugeschickt wurde, muss die Kammer davon ausgehen, dass es sich nicht um ein zufälliges Missgeschick im Einzelfall handelt. Die Kombination von textlich-inhaltlicher und drucktechnischer Gestaltung erweckt bei der Kammer den Eindruck, dass die Beklagte trotz Widergabe der relevanten Vorschrift die gesetzlich geforderte Information über das Sonderkündigungsrecht bewusst der Aufmerksamkeit des Empfängers entziehen wollte. Die Anforderungen an die Realisierung der Hinweispflicht nach § 175 Abs 4 Satz 6 SGB V sind damit durch die angefochtenen Bescheide oder die Schreiben vom Februar 2010 nicht erfüllt.

Der Verwaltungsakte lässt sich auch kein weiterer Umstand entnehmen, der auf einen Hinweis parallel oder zeitlich versetzt zu den Bescheiden hindeutet. Sofern die Beklagte meint, dass auch durch die Mitgliederzeitschrift der Hinweispflicht Genüge getan worden sei, ist festzustellen, dass die Mitgliederzeitschrift nach Aussage des Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung jedenfalls nicht rechtzeitig für den ersten Zusatzbeitrag verschickt wurde. Denn bei Absendung frühestens am 17. Februar 2010 konnte die Monatsfrist vor erster Fälligkeit (15. März 2010) nicht gewahrt werden. Zudem befindet sich der Hinweis auf das Kündigungsrecht erst auf Seite 32, also nicht an prominenter Stelle. Schließlich kann nach Auffassung der Kammer der im konkreten Einzelfall zu erteilende Hinweis nicht durch ein auf allgemeine Aufklärung nach § 13 SGB I konzipiertes Medium gewährleistet werden, weil die Kenntnisnahme durch ein solches Format nicht für den Regelfall zu erwarten ist, erst recht nicht, wenn die notwendige Information erst auf Seite 32 (und nicht etwa auf der Titelseite) auftaucht. Anders als bei einem Bescheid, bei dem auch vom durchschnittlichen Adressaten (innerhalb angemessener Zeit) die Kenntnisnahme erwartet werden kann, gilt dies für Informationsmedien mit Servicecharakter, wie etwa auch die offizielle Internetseite der Beklagten, nicht. Mitgliederzeitschriften sind schließlich keine Pflichtlektüre für die Mitglieder. Zudem ist auch der konkrete Zugang bei den Klägern weder vorgetragen, geschweige denn belegt. Ob tatsächlich Kenntnis über das Sonderkündigungsrecht bestand, ist – wie ausgeführt – unerheblich, also auch, wie diese gegebenenfalls begründet wurde.

Da im Falle der Kläger auf das Sonderkündigungsrecht weder im Bescheid noch in gesetzeskonformer Weise durch das Schreiben vom Februar 2010 hingewiesen wurde und dies bis zur Erteilung des Widerspruchsbescheides nicht nachgeholt wurde, brauchten die Kläger insoweit die an sie gerichteten Forderungen nicht erfüllen.

Im Widerspruchsbescheid vom 24. November 2010 wurde im zweiten Absatz der Gründe der Entscheidung (auf Seite 2) ein aus Sicht der Kammer ausreichender Hinweis durch Widergabe der Regelungsinhalte von § 175 Abs 4 Sätze 5 und 6 SGB V gegeben. Die rechtshindernde Einwendung des § 175 Abs 4 Satz 7 SGB V kann daher für den Zusatzbeitrag Dezember 2010, der am 15. Januar 2011 fällig wurde, nicht mehr wirksam werden.

Der Erhebung der ab Januar 2011 fällig werdenden Zusatzbeiträge stehen auch andere rechtliche Aspekte nicht entgegen. Ein Ausnahmetatbestand nach § 242 Abs 5 SGB V liegt nicht vor. Eine Härtefallregelung musste der Gesetzgeber nicht vorsehen, weil mit der Möglichkeit des Kassenwechsels die zusätzliche Belastung durch die Kläger abgewendet werden konnte. Es gab und gibt mehrere Kassen, die, wie die Kläger selbst vortragen, den Zusatzbeitrag nicht erheben.

Die Erhebung des Zusatzbeitrages ab Dezember 2010 kann sich auf die Satzungsänderung der Beklagten stützen. Diese ist unzweifelhaft rechtmäßig, soweit sie die Ausgestaltung der Rechtsfolge angeht. Eine vertiefte Prüfung der Voraussetzungen der Entscheidung der Selbstverwaltungsgremien der Beklagten hält die Kammer für entbehrlich. Weder sind insofern formelle Fehler bislang erkennbar. Noch bestehen ernsthafte Zweifel daran, dass die Beklagte keinen ausreichenden Finanzbedarf für die Erhebung des Zusatzbeitrags hatte.

Zum Einen ist zu berücksichtigen, dass die Selbstverwaltungsgremien wegen der Erhebung der Zusatzbeiträge eine gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbare Prognoseentscheidung zu treffen haben. Insofern sprechen die Ausführungen des Bundesversicherungsamtes im Schreiben vom 27. Dezember 2010 an das SG Speyer klar dafür, dass den Selbstverwaltungsgremien der Beklagten im Rahmen dieser Prognoseentscheidung keine justiziablen Fehler unterlaufen sind. Solche Fehler sind auch von den Klägern nicht substantiiert behauptet worden.

Zum anderen teilt die Kammer die Auffassung des Sozialgerichtes Dresden in dessen Beschluss vom 16. August 2010 (S 18 KR 327/10 ER), in welchem dieses zutreffend ausführte, dass gesetzlich Versicherte nicht befugt seien, durch Rechtsbehelfe gegen einen Beitragsbescheid die eigenverantwortliche Haushalts- und Wirtschaftsführung der Krankenkassen im Wege einer inzidenten Kontrolle der in § 242 Abs 1 Satz 1 SGB V genannten Voraussetzungen gerichtlich prüfen zu lassen. Selbst wenn die Unterdeckung vermeidbar gewesen wäre, müsse der Versicherte die satzungsmäßige Entscheidung der Selbstverwaltungsorgane der Krankenkasse, dass ein Zusatzbeitrag erhoben werde, hinnehmen. Der Schutz der Mitglieder vor unnötiger Belastung mit Beiträgen werde vielmehr durch den gesetzlich vorgesehenen Wettbewerb zwischen den Krankenkassen und die Möglichkeit des Kassenwechsels gewährleistet. (so auch SG Freiburg/Breisgau, Urteil vom 21.09.2010, S 14 KR 3396/10) Diese aus Sicht des Gesetzgebers wirksamen Instrumente stehen neben den Möglichkeiten der Mitglieder im Rahmen der demokratischen Selbstverwaltung der Versicherungsträger auf die Satzungsorgane mit dem Ziel allgemein wirtschaftlicher Haushaltsführung einzuwirken.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Sie berücksichtigt den anteiligen Erfolg der Rechtsverteidigung durch die Kläger.

Die Berufung war wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache zugunsten aller Beteiligten zuzulassen (§ 144 Abs 2 Nr 1 SGG).
Rechtskraft
Aus
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