L 2 KN 75/10 P

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
2
1. Instanz
SG Gelsenkirchen (NRW)
Aktenzeichen
S 3 KN 56/09 P
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 2 KN 75/10 P
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
B 3 P 6/11 R
Datum
Kategorie
Urteil
Bemerkung
Rev. wird zurückgewiesen
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 22.02.2010 wird zurückgewiesen. Die Beklagte trägt die Kosten des Klägers im zweiten Rechtszug zu 1/10. Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist die Leistungshöhe bei Angehörigenpflege nach § 39 Satz 4 Sozialgesetzbuch Elftes Buch - SGB XI - (häusliche Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson).

Der am 00.00.1925 geborene Kläger ist im Rahmen der gesetzlichen Pflegeversicherung Versicherter der Beklagten. Er erhält Leistungen zur häuslichen Pflege nach der Pflegestufe III. Als Beihilfeberechtigter erhält er diese Leistungen zur Hälfte. Das (ungekürzte) Pflegegeld nach der Stufe III belief sich im Jahre 2009 auf 675,00 EUR monatlich. Die ihn betreuende Pflegeperson ist seine Ehefrau O. Die Pflege erfolgt am Wohnsitz des Klägers in D ... Wegen Verhinderung seiner Ehefrau wurde der Kläger im Jahre 2009 zum einen von seinem in H. wohnhaften Sohn S. (einfache Wegstrecke zwischen D. und H. ca. 82 km) und zum anderen durch seinen in Buxtehude wohnhaften Sohn Q. (einfache Wegstrecke ca. 309 km) gepflegt.

Am 12.03.2009 beantragte der Kläger Leistungen für Angehörigenpflege nach § 39 SGB XI; für den Zeitraum 27. bis 30.01.2009 durch seinen Sohn S. vom 31.01. bis 01.02.2009 durch seinen Sohn Q. wegen Ausfall seiner Ehefrau aufgrund Katheteruntersuchung sowie vom 06. bis 08.03.2009 durch seinen Sohn Q. wegen akuter Erkrankung seiner Ehefrau. Der die Ersatzpflege nicht zur Erzielung von Erwerbseinkommen durchführende Sohn S. quittierte am 06.02.2009, für den Zeitraum der Verhinderungspflege von dem Kläger 200,00 EUR (davon 80,00 EUR für Fahrtkosten) erhalten zu haben. Der die Ersatzpflege nicht zur Erzielung von Erwerbseinkommen ausgeübt habende Sohn Q. quittierte am 20.02.2009, für den ersten Zeitraum der Verhinderungspflege von dem Kläger 250,00 EUR (davon 190,00 EUR für Fahrtkosten) erhalten zu haben. Am 08.03.2009 quittierte er, für den zweiten Zeitraum der Verhinderungspflege von dem Kläger ebenfalls 250,00 EUR (davon 190,00 EUR für Fahrtkosten) erhalten zu haben.

Mit Bescheid vom 20.03.2009 erstattete die Beklagte für die geltend gemachten Zeiträume der Verhinderungspflege Aufwendungen i.H.v. insgesamt 248,48 EUR. Dabei brachte sie pflegebedingte Aufwendungen von täglich 12,053 EUR und Fahrtkosten pro gefahrenen Kilometer von 0,10 EUR in Ansatz. Somit errechnete sie für den Zeitraum vom 27. bis 30.01.2009 einen Erstattungsbetrag von 64,61 EUR, für die Zeit vom 31.01. bis 01.02.2009 von 85,91 EUR und für den Zeitraum 06. bis 08.03.2009 von 97,96 EUR.

Zur Begründung des dagegen erhobenen Widerspruchs führte der Kläger aus, dass die von ihm seinen Verhinderungspflegepersonen gezahlten Aufwendungen in geltend gemachter Höhe zu erstatten seien. Diese beliefen sich für den Zeitraum 27. bis 30.01.2009 auf 80,00 EUR Fahrtkosten und 120,00 EUR Aufwendungen, für die Zeit vom 31.01. bis 01.02.2009 auf 190,00 EUR Fahrtkosten und 60,00 EUR Aufwendungen sowie für den Zeitraum 06. bis 08.03.2009 auf ebenfalls 190,00 EUR Fahrtkosten und 60,00 EUR Aufwendungen.

Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 04.06.2009 zurückgewiesen. Im Jahre 2009 habe der Kläger als Beihilfeberechtigter gegenüber der Beklagten Anspruch auf Pflegegeld nach der Stufe III i.H.v. monatlich 337,50 EUR gehabt. Nach dem Bundesreisekostengesetz hätten Beihilfeberechtigte Anspruch auf Erstattung von 0,10 EUR für den gefahrenen Kilometer. Der in Ansatz gebrachte Tagessatz für pflegebedingte Aufwendungen bei Verhinderungspflege durch Angehörige von 12,053 EUR sei nach der Formel Anspruchstage Verhinderungspflege x individuelles Pflegegeld: 28 Tage zu berechnen. Diese 28 Tage seien daraus abgeleitet, dass die Übernahme von Kosten für eine notwendige Ersatzpflege nach § 39 SGB XI auf längstens vier Wochen (= 28 Tage) beschränkt sei.

Zur Begründung der dagegen zum Sozialgericht Gelsenkirchen (SG) erhobenen Klage hat der Kläger sein Vorbringen wiederholt. Insgesamt seien 228,34 EUR an Aufwendungen nicht berücksichtigt worden. Davon habe die Beklagte hälftig 114,17 EUR zu erstatten.

Der Kläger hat sinngemäß beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 20.03.2009 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 04.06.2009 zu verurteilen, an ihn 114,17 EUR nebst 4 % Zinsen ab 20.03.2009 zu zahlen.

Die Beklagte hat die angefochtenen Entscheidungen verteidigt. Die Berechnung von Fahrtkosten nach dem Bundesreisekostengesetz ergebe sich aus einer entsprechenden Anwendung von § 60 Abs. 3 Nr. 4 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V). Die tagesgenaue Berechnung unter Berücksichtigung des Tagesbetrages des Pflegegeldanspruchs des Versicherten entspreche der tagesgenauen Abrechnung des Pflegegeldes nach § 37 SGB XI und berücksichtige, dass ein Anspruch auf Übernahme von Kosten für eine notwendige Ersatzpflege für längstens vier Wochen (28 Tage) kalenderjährlich bestehe.

Mit Urteil vom 22.02.2010 ohne mündliche Verhandlung hat das SG unter Abänderung der angefochtenen Entscheidungen die Beklagte verurteilt, an den Kläger weitere 11,52 EUR zu zahlen; die darüber hinausgehende Klage hat es abgewiesen. Die Berufung hat es wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Die Methode der Beklagten zur Berechnung des Anspruchs des Klägers auf Erstattung seiner Kosten für Verhinderungspflege sei rechtsfehlerhaft. Für diese fehle es an einer Rechtsgrundlage. § 39 SGB XI regele den Höchstbetrag des jährlichen Aufwendungsersatzes und den maximalen zeitlichen Rahmen (höchstens 28 Tage pro Jahr). Eine Leistungseinschränkung in Form eines Tageshöchstsatzes regele das Gesetz nicht. So könne für einen einzigen Tag Verhinderungspflege im Jahr Anspruch auf Aufwendungsersatz i.H.v. 1.470,00 EUR bestehen. Im Falle des Klägers beschränke sich bei der Pflegestufe III der Höchstbetrag für den Aufwendungsersatz für Verhinderungspflege im Jahre 2009 auf 675,00 EUR. Die zusätzliche Einschränkung auf einen Tagessatz i.H.v. 1/28 der Pflegestufe sei der gesetzlichen Regelung nicht zu entnehmen. Dies habe das Bundessozialgericht (BSG) mit Urteilen vom 17.05.2000 (B 3 P 8/99 R und B 3 P 9/99 R) bereits für die erwerbsmäßige Ersatzpflege im Rahmen der privaten Pflegeversicherung entschieden. Diese Rechtsprechung sei auch auf den Fall der Verhinderungspflege durch Angehörige in der gesetzlichen Pflegeversicherung anwendbar. Ein grundsätzlicher Unterschied sei nicht zu erkennen. Hinzu komme Aufwendungsersatz, der nach § 39 Abs. 6 SGB XI bis zur Höhe des Differenzbetrages zwischen dem Pflegegeld nach der Stufe III und dem gesetzlichen Höchstbetrag von 1.470,00 EUR begrenzt sei. Aufwendungen seien insbesondere die Fahrtkosten von Pflegepersonen. Die von dem Kläger seinen Söhnen gezahlten Kosten für Besorgungsfahrten seien als Kosten der Ersatzpflege zur hauswirtschaftlichen Versorgung ohne Nachweis zu erstattende notwendige Aufwendungen. Die als Kosten der Ersatzpflege insgesamt geltend gemachten 240,00 EUR seien ungekürzt in Ansatz zu bringen, da der Höchstbetrag der Pflegestufe III nicht erreicht werde. Darüber hinaus seien als nachgewiesene notwendige Aufwendungen Fahrtkosten für insgesamt 1400 Kilometer nach Maßgabe des Bundesreisekostengesetzes von 0,20 EUR für den Kilometer, zusammen 280,00 EUR in Ansatz zu bringen. Aus der Summe von 520,00 EUR daraus habe der beihilfeberechtigte Kläger einen Anspruch auf die Übernahme von 260,00 EUR. Da die Beklagte ihm bereits 248,48 EUR erstattet habe, stünden ihm noch 11,52 EUR zu. Für einen Anspruch auf Zinsen fehle es an der gesetzlichen Grundlage.

Zur Begründung ihrer Berufung wiederholt die Beklagte ihr Vorbringen. Einer nicht erwerbsmäßig tätigen Pflegeperson werde grundsätzlich nur das übliche Pflegegeld nach § 37 Abs. 1 SGB XI in Höhe der jeweils festgestellten Pflegestufe tagesgenau gezahlt. Bei Verhinderung dieser Pflegeperson seien grundsätzlich nur die Aufwendungen zu erstatten, die notwendigerweise im Zusammenhang mit der Ersatzpflege stünden, wobei diese Aufwendungen bei der Ersatzpflege aufgrund familienhafter Bindung nicht höher sein könnten, als die Aufwendungen für die ersetzte dauerhafte Pflege. Deswegen sei in diesen Fällen der Anspruch in der Höhe auf den für die jeweilige Pflegestufe festgelegten Pflegegeldbetrag beschränkt, der den Pflegekassen auch für die übrige Zeit der ersetzten dauernden Pflege zu leisten sei. Da der Gesetzgeber die Leistungen bei Verhinderungspflege an den § 37 SGB XI gekoppelt habe, komme auch dessen Abs. 2 Satz 1 zur Anwendung. Mithin seien bei Verhinderungspflege die Kosten der notwendigen Ersatzpflege auch nur anteilig zu übernehmen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 22.02.2010 zu ändern und die Klage abzuweisen.

Der Bevollmächtigte des Klägers beantragt,

die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.

Der Kläger verteidigt die angefochtene Entscheidung.

Für die Einzelheiten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichts- sowie der Verwaltungsakten der Beklagten für den Kläger Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung der Beklagten ist nicht begründet. Die von der Beklagten ange-wandte Methode zur Berechnung der Höhe des Anspruchs des Klägers aus § 39 Satz 1 und Satz 4 SGB XI entspricht nicht den gesetzlichen Vorgaben. Nach § 39 Satz 1 SGB XI übernimmt in den Fällen, in denen eine Pflegeperson an der Pflege gehindert ist, die Beklagte die Kosten einer notwendigen Ersatzpflege für längstens vier Wochen je Kalenderjahr. Nach § 39 Satz 4 SGB XI dürfen bei einer Ersatzpflege durch Pflegepersonen im Rahmen der Angehörigenpflege die Aufwendungen der Pflegekasse regelmäßig den Betrag des Pflegegeldes nach § 37 Abs. 1 SGB XI nicht überschreiten. Eine Begrenzung der Leistung auf 1/28 des Pflegegeldes der jeweiligen Pflegestufe ist dem Gesetz nicht zu entnehmen. Der Senat nimmt insoweit zur Vermeidung von Wiederholungen auf die Entscheidungsgründe des Urteils des SG vom 22.02.2010 Bezug, denen er sich anschließt (§ 153 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG -).

Ergänzend weist er darauf hin, dass das Vorbringen der Beklagten hinsichtlich der Verweisung in § 39 Satz 4 SGB XI auf § 37 SGB XI nicht die von ihr für gegeben erachtete Rechtsfolge begründet. § 39 Satz 4 SGB XI enthält lediglich den Verweis auf die Regelung des § 37 Abs. 1 SGB XI und bestimmt somit lediglich den Höchstbetrag der Kosten einer notwendigen Ersatzpflege für längstens vier Wochen je Kalenderjahr. Da eine Verweisung auf § 37 Abs. 2 SGB XI nicht erfolgt, ergibt sich jedoch nicht die Möglichkeit zur tagesgenauen Quotelung entsprechend der Regelung des § 37 Abs. 2 SGB XI. Diese Begrenzung findet bei der Bestimmung der zu übernehmenden Kosten einer notwendigen Ersatzpflege bei häuslicher Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson im Rahmen der Angehörigenpflege vielmehr keine Berücksichtigung (so auch Udsching in: Udsching, SGB XI, 3. Aufl., 2010, § 39 Rdnrn. 5 und 10). Dies hat bereits auch das BSG mit Urteil vom 17.05.2000 (B 3 P 8/99 R) entschieden. § 37 Abs. 2 SGB XI bestimmt, dass das Pflegegeld für selbst beschaffte Pflegehilfen dann tagesgenau zu kürzen ist, wenn der Pflegegeldanspruch nicht für den vollen Kalendermonat besteht. Jedoch kann diese Regelung auch nicht entsprechend auf die Verhinderungspflege mit der Folge übertragen werden, dass sich daraus der von der Beklagten angenommene Tageshöchstsatz ergibt. Die anteilige Kürzung beim Pflegegeld ist Ausdruck des Grundgedankens, dass nur solche Tage vergütet werden, an den Pflege geleistet wird. Die Regelung ist dort erforderlich, weil das Pflegegeld im Übrigen pauschal ohne Kostennachweis gezahlt wird. Die Verhinderungspflege verlangt demgegenüber den Nachweis für die jeweils entstandenen Aufwendungen, so dass die Ausgangslage nicht vergleichbar ist (BSG, a.a.O., Juris Nr. 23). Zwar betraf der vom BSG entschiedene Fall die private Pflegeversicherung und eine erwerbsmäßige Pflegekraft, jedoch gelangt der Senat zu der Auffassung, dass entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten eine Differenzierung nicht zu erfolgen hat. Der Gesetzgeber hat durch die eingeschränkte Verweisung auf Abs. 1 von § 37 SGB XI vielmehr deutlich gemacht, dass die für die Pflegegeldzahlung geltende (kalendertägliche) Beschränkung für den Aufwendungsersatz bei der Verhinderungspflege gerade nicht gelten soll. Dem unter Berücksichtigung des Wirtschaftlichkeitsgebotes gebotene Schutz der Träger der Pflegeversicherung vor übermäßiger finanzieller Belastung ist bereits dadurch genüge getan, dass in zeitlicher Hinsicht (28 Tage) und in finanzieller Hinsicht (Jahreshöchstbetrag) eine Begrenzung erfolgt ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Revision war zuzulassen, da die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 160 Abs. 2 SGG).
Rechtskraft
Aus
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