S 37 AS 24431/11 ER

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
SG Berlin (BRB)
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
37
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 37 AS 24431/11 ER
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 17.8.2011 gegen den Darlehens-Bescheid vom 5.8.2011 wird festgestellt 2. Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, der Antragstellerin ab September 2011 die Leistungen nach dem SGB II ohne Einbehaltung von Tilgungsbeträgen für die Mietkaution auszuzahlen. 3. Der Antragsgegner hat die außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Die 1980 geb. Antragstellerin (Ast.) wird nach Auslaufen der Jugendhilfe (§ 19 SGB VIII) mit Maßnahmen nach §§ 67, 68 SGB XII unterstützt. Seit Juni 2011 bezieht sie Alg II. Für eine vom SGB XII-Hilfeträger vermittelte Wohnung war eine Kaution in Höhe von 840 EUR zu zahlen. Mangels eigener Leistungsfähigkeit gewährte das Jobcenter (der Antragsgegner – Ag.) der Ast. ein Kautionsdarlehen nach § 22 Abs. 6 SGB II, das direkt an den Vermieter überwiesen wurde.

Sowohl mit Darlehensvertrag vom 4.8.2011 als auch Bewilligungsbescheid vom 5.8.2011 verpflichtete der Ag. die Ast., das Darlehen ab September 2011 mit 10% des maßgebenden Regelbedarfs zu tilgen.

Am 17.8.2011 erhob die Ast. Widerspruch gegen den Bescheid vom 5.8.2011, mit dem sie geltend machte, eine Kürzung der laufenden Leistung über 23 Monate hinweg sei nicht rechtens.

Trotz Widerspruch zahlt der Ag. seit September 2011 nur eine um 10% gekürzte Leistung. Er beruft sich auf die getroffene Vereinbarung und den Kautions-Bescheid.

Gegen die Kürzung hat die Ast. am 14.9.2011 beim Sozialgericht Berlin um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht. Der Widerspruch gegen den Kautions-Bescheid habe aufschiebende Wirkung, das Alg II müsse daher ungekürzt ausgezahlt werden. Der Darlehensvertrag sei wegen Umgehung von § 42a Abs. 2 Satz 2 SGB II nichtig. Zumindest könne die darin erklärte Zustimmung zur Aufrechnung nach § 46 SGB I widerrufen werden, was konkludent mit dem Widerspruch gegen den Darlehensbescheid geschehen sei.

Der Ag. hat den Vorschlag des Gerichts, anstelle des Kautionsdarlehens eine Kautions-bürgschaft zu stellen, falls der Vermieter dem zustimmt, abgelehnt. Die Tilgung des Darlehens mit 10% des Regelbedarfs folge aus § 42a SGB II. Verfassungsrechtliche Bedenken bestünden hiergegen nicht.

II.

Einstweiliger Rechtsschutz gegen die im Kautionsbescheid vom 5.8.2011 erklärte Aufrechnung ist eigentlich schon mit dem Widerspruch gegeben. Denn die Aufrechnung ist nach § 42a Abs. 2 Satz 2 SGB II ein Verwaltungsakt, der nicht der Regelung des § 39 SGB II unterfällt, d. h. der Widerspruch hat aufschiebende Wirkung.

Da aber nicht klar ist, ob der Ag. die Leistung seit September 2011 wegen Missachtung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs kürzt oder sich dabei auf den Darlehensvertrag vom 4.8.2011 stützt, war entsprechend § 86b Abs. 1 SGG vorsorglich durch Beschluss festzustellen, dass der Widerspruch aufschiebende Wirkung hat.

Die Aufrechnung kann auch nicht auf den Darlehensvertrag vom 4.8.2011 gestützt werden. Denn sofern man dem Vertrag überhaupt eine eigenständige Bedeutung neben dem Kautions-bescheid beimisst, wird man die Tilgungsvereinbarung angesichts der seit 1.4.2011 geltenden Regelung des § 42a SGB II zwar nicht als unwirksam ansehen können, die Ast. hat sich jedoch kraft Widerruf gemäß § 46 SGB I von dieser Regelung gelöst. Sie hat damit einen Anordnungsanspruch gemäß § 86b Abs. 2 SGG auf ungekürztes Alg II glaubhaft gemacht.

Die Ast. war zu einem Widerruf berechtigt, weil ihr bei Würdigung der Gesamtumstände ein Darlehen als Zuschuss oder auf sonstige, den laufenden Regelbedarf unberührt lassende Weise hätte gewährt werden müssen. § 22 Abs. 6 SGB II ("soll als Darlehen erbracht werden") lässt eine Abweichung vom Regelfall zu, die hier verfassungsrechtlich geboten ist (s. dazu auch Hölzer, info also 2011, S. 163). Denn nach den zum Vergabezeitpunkt des Darlehens überschaubaren Umständen war nicht erkennbar, dass die Ast. in einem angemessenen Zeitraum die Möglichkeit der Darlehensrückzahlung ohne Gefährdung ihres Existenz-minimums haben wird. Seitdem haben sich keine Änderungen für diese Beurteilung ergeben.

Vor Inkrafttreten der Regelung des § 42a SGB II war einhellig anerkannt, dass Kautions-darlehen nicht mit der laufenden Regelleistung getilgt werden dürfen (SG Lüneburg vom 16.6.2005 – S 25 AS 251/05 ER; LSG Hessen vom 19.6.2006 – L 7 AS 150/06 ER; LSG Baden-Württemberg vom 6.9.2006 – L 13 AS 3108/06 ER B; LSG NRW vom 28.9.2007 – L 1 B 37/07 AS; LSG Hessen vom 5.9.2007 – L 6 AS 145/07 ER; vom 16.1.2008 – L 9 SO 121/07 ER; LSG Schleswig-Holstein vom 25.11.2009 – L 6 AS 24/09; zur Rechtlage unter Geltung des BSHG: OVG Lüneburg vom 25.7.2002 - 4 LA 145/02; vom 27.3.2003 - 12 ME 52/03).

Ein Argument gegen die Soforttilgung des Darlehens war die meist zu lange Dauer der Tilgung bzw. die Verringerung der Hilfeleistungen über einen unzumutbar langen Zeitraum hinweg (s. dazu auch Weth, info also 2007, S. 104 ff).

Das BVerfG hat in seiner Entscheidung vom 9.2.2010 das Darlehenskonzept des § 23 SGB II a.F. bestätigt, ist dabei aber ebenfalls vom Regelfall einer nur vorübergehenden Tilgung ausgegangen:

"Es ist verfassungsrechtlich grundsätzlich nicht zu beanstanden, dass das Sozialgesetzbuch Zweites Buch dazu übergegangen ist, einmaligen Bedarf, der nur in unregelmäßigen Abständen, etwa zur Anschaffung von Winterkleidung, entsteht, durch Anhebung der monatlichen Regelleistungen in der Erwartung zu decken, dass der Hilfebedürftige diesen erhöhten Anteil für den unregelmäßig auftretenden Bedarf zurückhält. Eine verfassungswidrige Unterdeckung einmaligen Bedarfs hat der Gesetzgeber mit § 23 Abs. 1 SGB II zu vermeiden versucht. Danach können Hilfebedürftige ein Darlehen erhalten, wenn ein unvermutet auftretender und unabweisbarer einmaliger Bedarf durch angesparte Mittel nicht gedeckt werden kann. Das Darlehen wird zwar in den nachfolgenden Monaten dadurch getilgt, dass der Grundsicherungsträger 10 % von der Regelleistung einbehält. In Anbetracht der Ansparkonzeption des Gesetzgebers ist diese vorübergehende [Hervorhebung vom erkennen-den Gericht] monatliche Kürzung der Regelleistung jedoch im Grundsatz nicht zu beanstanden"

(BVerfG vom 9.2.2010 - 1 BvL 1/09, Rn. 150).

Eine Leistungskürzung über 23 Monate hinweg ist mit dem Ansparkonzept des SGB II nicht zu vereinbaren. Die seit Januar 2011 geltenden Regelbedarfe sind auch nicht im Hinblick auf starre Darlehenstilgungen in Höhe von 10% (§ 42a SGB II) aufgestockt worden. Bedarfs-positionen, die zu § 22 SGB II gehören, wie die Kaution, sind überhaupt nicht im Regelbedarf nach § 20 SGB II enthalten.

Die Kürzung des Regelbedarfs um 10% kann schließlich auch nicht als Bagatelle abgetan werden. In seiner Entscheidung zu einem Sonderbedarf wegen einer HIV-Infektion hat das BSG einen Betrag von 20,45 EUR als erheblich gewertet (Urteil vom 19.08.2010 - B 14 AS 13/10 R). Der Betrag von 36,40 EUR, ab Januar 2012 voraussichtlich 37,40 EUR, liegt deutlich oberhalb der in BSG vom 26.5.2011- B 14 AS 146/10 R angedeuteten Bagatelle-Schwelle von 20 EUR Gesamtstreitwert.

Die Kürzung des Regelbedarfs um 10% über einen nicht nur vorübergehenden Zeitraum hinweg setzt den Empfänger eines Kautionsdarlehens, der weder über Zusatzeinkommen noch zukunftsnahe Erwerbschancen verfügt, einer Situation aus, die das BVerfG bewogen hatte, einen Sonderbedarf als unabdingbare Zusatzleistung zum Regelbedarf vorzusehen (vom Gesetzgeber mit § 21 Abs. 6 SGB II umgesetzt); es ist daher nicht verfassungsgemäß, die Ast. über 20 Monate hinweg auf ein Leistungsniveau zu drücken, das Ansparungen vom oder Ausgleiche im Regelbedarf ausschließt. Eine Sicherung ihres Existenzminimums wäre dann nur mit Regelbedarfs-Darlehen nach § 24 SGB II möglich, was den Zustand der Bedarfsunter-deckung auf unabsehbare Zeit verlängerte.

Kann ein Leistungsberechtigter nicht darauf verwiesen werden, längere Zeit 10% des Regelbedarfs zu entbehren, steht der Erfolgsaussicht des Eilantrags (Anordnungsgrund) erst recht nicht entgegen, dass Streitgegenstand des Verfahrens "lediglich" weitere 10 % Grund-sicherungsleistungen sind (s. dazu LSG Baden-Württemberg vom 6.9.2006 - L 13 AS 3108/06 ER-B; LSG NRW vom 19.11.2008 - L 19 B 178/08 AS; vom 10.9.2009 - L 7 B 269/09 AS ER; LSG Hessen vom 16.1.2008 - L 9 SO 121/07 ER).

Dem Antrag musste daher in vollem Umfang stattgegeben werden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Rechtskraft
Aus
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