S 5 R 2494/11

Land
Baden-Württemberg
Sozialgericht
SG Stuttgart (BWB)
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Stuttgart (BWB)
Aktenzeichen
S 5 R 2494/11
Datum
2. Instanz
LSG Baden-Württemberg
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Leitsätze
Bei der Erhebung von Beitragsnachforderungen gegenüber dem Insolvenzverwalter nach einer Betriebsprüfung sind die von der Bundesagentur für Arbeit im Rahmen der so genannten Gleichwohlgewährung von Arbeitslosengeld an freigestellte Arbeitnehmer (§ 143 SGB III) getragenen Beiträge zur Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung in Abzug zu bringen, weil der Insolvenzverwalter insoweit von der Pflicht zur Entrichtung befreit ist (§ 335 Abs. 3 Satz 2, Abs. 5 SGB III). Hieran ändert auch das Ergebnis einer Besprechung der Spitzenverbände der Krankenkassen, der Deutschen Rentenversicherung Bund und der Bundesagentur für Arbeit vom 25./26.09.2008 nichts.
Der Bescheid vom 07.12.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.03.2011 wird aufgehoben. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen eine aufgrund einer Betriebsprüfung erhobene Nachforderung von Gesamtsozialversicherungsbeiträgen.

Der Kläger ist Insolvenzverwalter der Firma F., über deren Vermögen am 02.10.2006 das Insolvenzverfahren eröffnet wurde. Der Kläger kündigte angesichts der - von ihm angezeigten und bekannt gemachten (Bl. 11 SG-Akte) - Massunzulänglichkeit den beschäftigten Arbeitnehmern und stellte sie zugleich von der Arbeitsleistung frei. Die Arbeitsverhältnisse endeten - je nach Kündigungsfrist - spätestens zum 31.08.2007. Hinsichtlich der Beendigungszeitpunkte im Einzelnen wird auf die vom Kläger vorgelegte Liste Bl. 19 SG-Akte Bezug genommen. Da nach der Insolvenzeröffnung kein Lohn gezahlt wurde, bezogen die Arbeitnehmer von der Bundesagentur für Arbeit Arbeitslosengeld (so genannte Gleichwohlgewährung) und die Bundesagentur entrichtete entsprechend Beiträge zur Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung für den jeweiligen Leistungsempfänger. Im Februar 2011 zahlte der Kläger - zwischenzeitlich war die Masseunzulänglichkeit überwunden - an die für den jeweiligen Arbeitnehmer zuständige Einzugsstelle die von ihm aus der Differenz der tatsächlich zu zahlenden Sozialversicherungsbeiträge und der von der Bundesagentur getragenen Beiträge errechneten restlichen Sozialversicherungsbeiträge in Höhe von insgesamt 177.522,97 EUR. Hinsichtlich der Aufteilung der einzelnen Zahlungen wird auf Bl. 141 und hinsichtlich der Berechnung auf Bl. 142 ff. SG-Akte verwiesen.

Auf Grund einer am 18.11.2010 durchgeführten Betriebsprüfung über den Zeitraum vom 02.10.2006 bis 31.08.2007 erhob die Beklagte mit Bescheid vom 07.12.2010 und Widerspruchsbescheid vom 28.03.2011 eine Nachforderung in Höhe von insgesamt 698.528,24 EUR über ausstehende Beiträge zur Kranken-, Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversichrung, aufgeschlüsselt für jeden Arbeitnehmer und die für ihn zuständige Krankenkasse (Einzugsstelle). Die von der Bundesagentur für Arbeit geleisteten Beiträge brachte sie nicht in Abzug. Die Einwände des Klägers, es sei durch die Zahlung des Arbeitslosengeldes auch zur Zahlung von Beiträgen zur Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung durch die die Bundesagentur für Arbeit gekommen, die er der Bundesagentur für Arbeit zu erstatten habe, hielt die Beklagte auf Grund des Ergebnisses einer Besprechung der Spitzenverbände der Krankenkassen, der Deutschen Rentenversicherung Bund und der Bundesagentur für Arbeit vom 25./26.09.2008 (Bl. 7 VA) für nicht durchschlagend. Sie führte im Widerspruchsbescheid aus, der Kläger müsse die von der Bundesagentur geltend gemachte Erstattungsforderung den Einzugsstellen melden, die dann das Beitragskonto zu berichtigen hätten.

Am 26.04.2011 hat der Kläger beim Sozialgericht Stuttgart Klage erhoben. Er meint, durch die Beitragsfestsetzung ohne Abzug der von der Bundesagentur für Arbeit geleisteten Beiträge werde er, weil gegenüber der Bundesagentur für Arbeit erstattungspflichtig, doppelt in Anspruch genommen. Im Übrigen wälze die Beklagte nur Arbeitsaufwand auf ihn ab, wobei er im Verhältnis zu den Einzugsstellen auch noch die Beweislast für den Erstattungsanspruch der Bundesagentur für Arbeit trage.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 07.12.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.03.2011 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Beteiligtenvorbringens wird auf die Prozessakten sowie die von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsakten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:

Gegenstand des Rechtsstreits ist der Bescheid vom 07.12.2010 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 28.03.2011 und damit die von der Beklagten gegenüber dem Kläger zur Zahlung festgestellten Beiträge zur Sozialversicherung für die Zeit vom 02.10.2006 bis 31.08.2007. Allein zulässige Klageart ist daher die Anfechtungsklage. Denn mit Aufhebung der angefochtenen Bescheid entfällt die Beschwer des Klägers.

Die Anfechtungsklage ist zulässig und begründet. Die Beklagte hätte die Forderung nicht ohne weitere Sachaufklärung zur Pflicht des Klägers, Beiträge zur Sozialversicherung abzuführen, feststellen dürfen. Die Kammer macht daher von ihrer Befugnis nach § 131 Abs. 5 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gebrauch, wonach der Bescheid und der Widerspruchsbescheid aufgehoben werden kann, wenn eine weitere Sachaufklärung erforderlich ist, die weiteren Ermittlungen erheblich sind und die Aufhebung auch unter Berücksichtigung der Belange der Beteiligten sachdienlich ist.

Zwar ist der Arbeitgeber - auf Grund der Eröffnung des Insolvenzverfahrens an seiner Stelle der Kläger als Insolvenzverwalter - nach § 28e Abs. 1 Satz 1 Viertes Buch Sozialgesetzbuch (SGB IV) zur Zahlung des sich aus Beiträgen zur Kranken-, Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung zusammensetzenden (§ 28d SGB IV) Gesamtsozialversicherungsbeitrages an die jeweiligen Krankenkassen als Einzugsstellen (§ 28h SGB IV) verpflichtet. Entsprechende Betriebsprüfungen führt die Beklagte als Träger der Rentenversicherung gemäß § 28p SGB IV durch. Sie ist auf Grund der durchgeführten Betriebsprüfung auch befugt, über die Höhe der Beiträge in einem Verwaltungsakt zu entscheiden (§ 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV). Hiervon gehen auch die Beteiligten aus. Soweit der Kläger vorträgt, die Beklagte habe wegen der anfänglichen Masseunzulänglichkeit und eines entsprechenden Vollstreckungsverbotes keinen Bescheid erteilen dürfen, kann sich der Kläger nicht auf ein Vollstreckungsverbot nach § 210 der Insolvenzordnung (InsO) berufen. Diese Vorschrift nimmt Bezug auf § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO und der Kläger meint, die Zahlungspflicht nach § 28h SGB IV sei eine von § 209 Abs. 1 Nr. 3 InsO erfasste "übrige" Masseverbindlichkeit, weil sie nicht unter die von § 209 Abs. 2 erfassten und als vorrangige Masseverbindlichkeiten nach § 209 Abs. 1 Nr. 2 InsO geltenden Verpflichtungen aus gegenseitigen Verträgen falle. Dabei übersieht der Kläger, dass die Zahlungspflicht nach § 28h SGB IV nicht auf den von ihm in den Vordergrund dieser Argumentation gestellten Arbeitsverträgen beruht, sondern auf einer "Inanspruchnahme privater Dritter" (BSG, Urteil vom 29.04.1976, 12/3 RK 66/75 in SozR 2200 § 1399 Nr. 4). Damit geht der Vortrag des Klägers, wegen der Freistellung der Arbeitnehmer seien Forderungen aus diesen Dauerschuldverhältnissen nachrangige Masseverbindlichkeiten, für die ein Vollstreckungsverbot bestehe, an der Sache vorbei.

Hier entschied die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden über die Höhe der vom Kläger für die freigestellten Arbeitnehmer zu zahlenden Gesamtsozialversicherungsbeiträge. Allerdings kann die Beklagte eine Zahlungspflicht nur so weit feststellen, wie der Arbeitgeber - hier der Kläger an seiner Stelle - auch zur Entrichtung der Beiträge verpflichtet ist. Dies ist für die von der Bundesagentur für Arbeit geleisteten Beiträge gerade nicht der Fall.

Die Bundesagentur für Arbeit zahlte gemäß § 143 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch (SGB III) den freigestellten Arbeitnehmern der Gemeinschuldnerin Arbeitslosengeld, weil diese zwar nach der Eröffnung des Insolvenzverfahrens bis zum jeweiligen Ablauf der Kündigungsfrist Anspruch auf Arbeitsentgelt hatten, der Kläger diese Ansprüche aber wegen der anfänglichen Masseunzulänglichkeit nicht befriedigen konnte (so genannte Gleichwohlgewährung). Dem entsprechend leistete die Bundesagentur für Arbeit für die Arbeitnehmer auch Beiträge zur Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung, die sie vom Kläger als Insolvenzverwalter erstattet verlangen kann. Denn nach § 335 Abs. 3 Satz 1 SGB III hat der Arbeitgeber - im Falle der Insolvenz also der Insolvenzverwalter - der Bundesagentur für Arbeit die im Falle des § 143 Abs. 3 SGB III (Gleichwohlgewährung) geleisteten Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung zu ersetzen, soweit er für dieselbe Zeit Beiträge zur Kranken- und Rentenversicherung des Arbeitnehmers zu entrichten hat (Satz 1). Gleiches gilt für die Beiträge zur Pflegeversicherung (§ 335 Abs. 5 SGB III).

Als Konsequenz dieser Pflicht des Klägers zur Erstattung der von der Bundesagentur für Arbeit geleisteten Beiträge regelt § 335 Abs. 3 Satz 2 SGB III ausdrücklich, dass der Arbeitgeber insoweit von seiner Verpflichtung befreit ist, Beiträge an die Kranken- und Rentenversicherung zu entrichten; entsprechendes gilt für die Beiträge zur Pflegeversicherung (§ 335 Abs. 5 SGB III). Wird aber der Arbeitgeber somit von der durch § 28e Abs. 1 Satz 1 SGB IV begründeten Pflicht zur Zahlung des Gesamtsozialversicherungsträgers in Höhe dieser, von der Bundesagentur für Arbeit gezahlten Beiträge frei, können diese Beiträge auch nicht nach § 28e Abs. 1 Satz 1 SGB IV vom Arbeitgeber zur Zahlung verlangt werden. Ein Freiwerden bedeutet Wegfall der Pflicht. Gerade diese Beiträge aber verlangt die Beklagte in den angefochtenen Bescheiden auch. Dies wäre nur dann rechtmäßig, wenn im Zeitpunkt des Zahlungsverlangens noch keine Beitragszahlungen erfolgt wären. Davon kann nicht ausgegangen werden.

Hier forderte die Beklagte mit Bescheid vom 07.12.2010 und Widerspruchsbescheid vom 28.03.2011, also weit mehr als drei Jahre nach Ablauf der längsten Kündigungsfrist und damit auch Ende der Gleichwohlgewährung durch die Bundesagentur für Arbeit, die gesamten Beiträge zur Abführung. Dabei muss davon ausgegangen werden, dass im Zeitpunkt der Bescheiderteilung - maßgebender Zeitpunkt ist der Widerspruchsbescheid als letzte Behördenentscheidung - die Bundesagentur auch die Beiträge bereits geleistet hatte. Dies bestätigt der Vortrag des Klägers: Er errechnete und bezahlte im Februar 2011 - vor Erlass des Widerspruchsbescheides - die Differenz aus dem Gesamtbetrag der abzuführenden Beiträge und der von der Bundesagentur für Arbeit auf Grund der geleisteten Beiträge geltend gemachte Erstattungsforderung. Der Kläger war somit nach § 335 Abs. 3 Satz 2, Abs. 5 SGB III im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung über die Höhe der abzuführenden Beiträge nicht mehr zur Abführung der von der Bundesagentur für Arbeit geleisteten Beiträge verpflichtet. Die Beklagte hätte dies bei der Bescheiderteilung berücksichtigen und das Nähere aufklären müssen.

Auf das erwähnte Ergebnis einer Besprechung zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen, der Deutschen Rentenversicherung Bund und der Bundesagentur für Arbeit vom 25./26.09.2008 kann sich die Beklagte nicht berufen. Unabhängig davon, dass die Beklagte selbst an diesem Gespräch nicht beteiligt war, können derartige Gesprächsergebnisse an der Rechtslage nichts ändern. Insbesondere können sie keine Verpflichtungen unbeteiligter Dritter, hier des Klägers, begründen, schon gar nicht entgegen einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung.

Zu ermitteln sind somit die von der Bundesagentur für Arbeit für die jeweiligen Arbeitnehmer im Prüfzeitraum gezahlten Beiträge. Dabei handelt es sich schon insoweit angesichts der Zahl der Arbeitnehmer und der unterschiedlichen Arbeitsagenturen um erhebliche Ermittlungen. Anschließend sind diese Zahlungen von den auf Grund der Betriebsprüfung festgestellten Forderungen - bezogen auf den einzelnen Arbeitnehmer, die Beitragsart und ggf. die Zeiträume - in Abzug zu bringen und ist so die verminderte Nachforderung, ggf. unter Berücksichtigung der vom Kläger vorgenommenen weiteren Zahlung (ebenfalls bezogen auf den einzelnen Arbeitnehmer, die Beitragsart und ggf. die Zeiträume) zu errechnen. Für derartige Ermittlungen und Berechnungen ist die Beklagte mit ihrer auf Betriebsprüfungen ausgerichteten personellen und sachlichen Ausstattung bei Weitem eher in der Lage, als die Kammer, die weder über entsprechend ausgebildetes Unterstützungspersonal noch über die entsprechenden Datenverarbeitungsprogramme verfügt, sodass eine Aufhebung zwecks weiterer Ermittlungen sachdienlich ist (Keller in Meyer-Ladewig, SGG, 9. Auflage, § 131 Rdner. 19a m.w.N. zur Rechtsprechung). Die Sechs-Monatsfrist des § 131 Abs. 5 Satz 4 SGG ist eingehalten, weil die Verwaltungsakten am 11.05.2011 bei Gericht eingegangen sind.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a SGG i.V.m. § 154 Abs. 1 VwGO.
Rechtskraft
Aus
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