L 13 VG 90/10

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
LSG Nordrhein-Westfalen
Sachgebiet
Entschädigungs-/Schwerbehindertenrecht
Abteilung
13
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 1 VG 211/09
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
L 13 VG 90/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Detmold vom 15.11.2010 wird aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Detmold zurückverwiesen. Die Kostenentscheidung bleibt dem Sozialgericht vorbehalten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Gewährung einer Entschädigung nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG).

Die am 00.00.1976 geborene Klägerin beantragte im Juni 2005 erstmals die Gewährung von Versorgungsleistungen nach dem OEG. Sie trug vor, sie sei vom dritten bis zum zwölften Lebensjahr (1979 - 1988) von ihrem leiblichen Vater sexuell missbraucht worden. Seitdem leide sie unter posttraumatischen Belastungsstörungen.

Der Beklagte zog Befund- und Behandlungsberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte bei und veranlasste eine Begutachtung durch die Psychiaterin Dr. T. Diese kam in ihrem Gutachten vom 25.02.2009 zu dem Ergebnis, als Folge der erlittenen Taten liege bei der Klägerin eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung vor, die mit einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) von 50 zu bewerten sei. Ein Nachschaden sei nicht festzustellen. Depressive Verstimmungen im Zusammenhang mit Arbeitsplatzverlust und innerhalb der Partnerschaft seien im engen Zusammenhang mit durch die Schädigung verursachten interpersonellen Schwierigkeiten im Rahmen der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung zu sehen.

Die Beklagte ließ dieses Gutachten durch die Ärztin T1 auswerten, die die Auffassung vertrat, dem Gutachten könne nur eingeschränkt gefolgt werden. Bezüglich der Diagnosen sei Frau Dr. T zuzustimmen, dass die diagnostischen Kriterien für posttraumatische Belastungsstörungen erfüllt seien. Die Kausalität sei unstrittig. Nicht gefolgt werden könne der Höhe des GdS. Die Klägerin lebe in häuslicher Gemeinschaft mit ihrem Partner und der im Januar 2007 geborenen Tochter. Sie habe regelmäßige soziale Kontakte durch den Besuch von Selbsthilfegruppen und einer Beratungsstelle, deren Mitglieder sie in schwierigen Lebenssituationen unterstützten. Sie führe ihren Haushalt und widme sich der Erziehung ihrer Tochter. Zwar sei die gelernte Diätassistentin seit 1999 nicht mehr berufstätig gewesen, eine Berentung sei jedoch 2002 durch den Rentenversicherungsträger abgelehnt worden, da eine vollschichtige Tätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Beachtung gewisser qualitativer Einschränkungen möglich sei. Dieses Leistungsbild sei bei der Begutachtung durch Dr. T nochmals bestätigt worden. Vor diesem Hintergrund sei die Annahme mittelgradiger sozialer Anpassungsstörungen infolge der Schädigung nicht gerechtfertigt. Das Versorgungsamt C habe mit Bescheid vom Februar 2002 das seelische Leiden mit einem Grad der Behinderung von 50 bewertet. Dazu sei jedoch darauf hinzuweisen, dass die Klägerin selbst darauf hingewiesen habe, ihr Zustand habe sich seit 2000 stabilisiert. Insbesondere die beiden stationären Trauma-Therapien 2002 und 2005 hätten ihr zusätzlich erheblich geholfen.

Auf der Grundlage dieser Stellungnahme lehnte der Beklagte den Antrag auf Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG mit Bescheid vom 14.04.2009 ab. Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus, das OEG sei am 01.01.1991 im Beitrittsgebiet mit den im Einigungsvertrag vereinbarten Maßgaben in Kraft getreten. Hiernach gelte für Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Beitrittsgebiet haben oder zur Zeit der Schädigung hatten, die Härtefallregelung des § 10 a OEG. Die von der Klägerin geltend gemachten Schädigungen hätten sich zwischen 1979 und 1988 in ihrem damaligen Wohnort Wittenberg ereignet. Für die Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen nach dem OEG sei somit die Vorschrift des § 10 a OEG anzuwenden. Nach den Festlegungen im Einigungsvertrag in Verbindung mit § 10 a Abs. 1 Satz 1 OEG erhielten Personen, die vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes im Beitrittsgebiet beschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie:

allein in Folge dieser Schädigung schwerbeschädigt sind und

bedürftig sind und

im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.

Im Ergebnis der Auswertung aller vorliegenden medizinischen Unterlagen sei festzustellen, dass die Klägerin nicht allein infolge der in ihrer Kindheit erlittenen versorgungsrechtlich geschützten Schädigungen schwerbeschädigt sei. Eine Schwerbeschädigung im versorgungsrechtlichen Sinne liege vor, wenn die gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen einer Schädigung mit einem Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 50 zu bewerten seien. Nach Einschätzung der Gutachter sei jedoch der bei der Klägerin bestehende schädigungsbedingte Leidenszustand mit einem GdS von 30 zu bewerten. Die Voraussetzungen des § 10 a Absatz 1 Nr. 1 OEG lägen somit nicht vor.

Die Klägerin legte gegen diesen Bescheid am 27.04.2009 Widerspruch ein. Zur Begründung trug sie vor, die Gutachterin Dr. T habe bei ihr einen GdS von 50 festgestellt. Diesem Gutachten sei zu folgen. Es sei zutreffend, dass sie mit einem Lebensgefährten in häuslicher Gemeinschaft lebe und eine Tochter habe. Nicht berücksichtigt sei, dass die Versorgung des Haushaltes und die Erziehung der Tochter derzeit fast ausschließlich von ihrem Lebensgefährten vorgenommen werde, da sie unter Erschöpfungszuständen leide. Sie habe so gut wie keine sozialen Kontakte. Sie versuche, soweit es ihr möglich sei, soziale Kontakte zu Selbsthilfegruppen und Beratungsstellen zu halten, da diese ihr dabei hülfen, den Leidensdruck zu mindern.

Nach Einholung einer ergänzenden Stellungnahme von Frau T1 wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 13.10.2009 als unbegründet zurück.

Hiergegen hat die Klägerin am 02.11.2009 Klage erhoben. Zur Begründung hat sie im Wesentlichen ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren wiederholt und sich wiederum auf das Gutachten von Frau Dr. T berufen.

Das angerufene Sozialgericht (SG) Detmold hat Beweis erhoben durch die Einholung eines Gutachtens der Diplom-Psychologin J sowie durch die Einholung eines Gutachtens der Psychiaterin Dr. Q.

Sodann hat es die Klage mit Gerichtsbescheid vom 15.11.2010 als unbegründet abgewiesen und ausgeführt:

"Das Gericht konnte vorliegend nach Anhörung der Beteiligten gemäß § 105 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Gerichtsbescheid entscheiden, da der Sachverhalt geklärt war und die Streitsache auch keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufwies.

Die zulässige Klage ist nicht begründet.

Die Klägerin ist durch den angefochtenen Bescheid vom 14.04.2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. 10.2009 nicht beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG, denn dieser Bescheid ist nicht rechtswidrig.

Der Beklagte hat den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Leistungen nach dem OEG zu Recht abgelehnt.

Wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes oder auf einem deutschen Schiff oder Luftfahrzeug infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, erhält wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (§ 1 Abs. 1 Satz 1 OEG).

Das am 16.05.1976 im alten Bundesgebiet in Kraft getretene OEG ist mit dem Gesetz zu dem Vertrag vom 31.08.1990 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands - Einigungsvertragsgesetz - und der Vereinbarung vom 10.08. 1990 (Einigungsvertrag) auf das Beitrittsgebiet erstreckt worden, Anlage I Kapitel VII Sachgebiet K Abschnitt 11I Nr. 18 zum Einigungsvertrag. Das OEG ist im Beitrittsgebiet am 01.01.1991 in Kraft getreten (Einigungsvertrag Nr. 18 a). nach Buchstabe c galt es zunächst nur für solche Taten, die nach dem 31.12.1990 begangen worden sind. Durch Artikel 2 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten vom 21.07.1993 (BGBI. 1261) erfolgte eine Änderung dahingehend, dass bereits Taten ab dem 03. 10. 1990 erfasst wurden. nach dem Einigungsvertrag Nr. 18 c Satz 2 und d in der Fassung durch Artikel 2 des Zweiten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes über die Entschädigung von Opfern von Gewalttaten vom 21.07.1993 ist § 10 a OEG sinngemäß auf Personen anzuwenden, die in der Zeit vom 07.10.1949 bis zum 02.10.1990 geschädigt worden sind. Nach § 10 a Satz 1 OEG erhalten auf Antrag Versorgung Personen, die in der Zeit vom 23.05.1949 bis zum 10.05.1976 geschädigt worden sind, solange sie:

allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt sind,

bedürftig sind und

im Geltungsbereich dieses Gesetzes ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.

Diese Härtefallregelung kommt der Klägerin jedoch nicht zugute, weil sie nicht schwerbeschädigt im Sinne des § 10 a Satz 1 Nr. 1 OEG in Verbindung mit § 31 Abs. 3 BVG ist. Schwerbeschädigt ist, wer in seiner Erwerbsfähigkeit um mindestens 45 vom Hundert gemindert ist (§ 31 Abs. 3 Satz 1 und Ab. 2 BVG). Bei der Klägerin liegt als Folge der von ihr angegebenen Gewalttaten jedoch nur ein Grad der Schädigungsfolgen (GdS; früher Minderung der Erwerbsfähigkeit - MdE) von 30 vor. Dies steht nach dem Gesamtergebnis. der im Verwaltungs- und Klageverfahren durchgeführten Ermittlungen zur Überzeugung des Gerichts fest. Das Gericht gründet seine Überzeugung im Wesentlichen auf das Gutachten der Psychiaterin Frau Dr. Q. Danach ist bei der Klägerin durch die stattgehabte sexuelle Traumatisierung in der Kindheit durch den Vater eine komplexe posttraumatische Belastungsstörung sowie anteilig auch eine redizivierend depressive Störung verursacht worden. der GdS für die Schädigungsfolgen ist mit 30 einzuschätzen (VMG), Anlage-Band zum Bundesgesetzblatt Teil I Nr. 57 vom 15.12.2008, Teil B Ziff. 3.7, Seite 42), da die psychischen Störungen als stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit einzustufen sind.

Insgesamt ist die psychische Problematik der Klägerin zwar mit einem GdB von 50 zu bewerten, es sind jedoch nicht alle psychischen Gesundheitsstörungen durch die stattgehabte Traumatisierung verursacht worden. Nach den Feststellungen von Frau Dr. Q ist es hier vielmehr erforderlich einen entschädigungsunabhängigen Anteil in Form einer rezidivierenden depressiven Störung abzugrenzen, da diese durch schädigungsunabhängige Faktoren verursacht wurde. Zu benennen sind hier die nachfolgend der Kündigung im September 1999 eingetretene lang anhaltende Arbeitslosigkeit bei einer durch das Umfeld forcierten beruflichen Ausbildung zur Diätassistentin, vom derzeitigen Partner ausgehende belastende Faktoren, die zusätzlich schädigungsunabhängigen körperlichen Beschwerden im Sinne einer Laktoseintoleranz sowie das anhaltende Wirbelsäulenschmerzsyndrom und die Belastungen durch den Tod der Mutter 2002 bei einer positiven Familienanamnese für depressive Störungen (Mutter).

Die Kammer hat keine Bedenken, die Feststellungen der Sachverständigen Frau Dr. Q der Entscheidung zu Grunde zu legen. Die Sachverständige hat die erhobenen Befunde sehr eingehend und sorgfältig ausgewertet und widerspruchsfreie und nachvollziehbare Überlegungen zur Zusammenhangsfrage und zur Höhe des GdS angestellt.

Dem Gutachten der im Verwaltungsverfahren gehörten Sachverständigen Frau Dr. T vermochte das Gericht insoweit nicht zu folgen, da von Frau Dr. T trotz der vorliegenden Berichterstattung und der hierin angeführten schädigungsunabhängigen Belastungsfaktoren mit diesbezüglichen nachweislichen psychisch/depressiven Reaktionen der Klägerin diese Anteile nicht von der schädigungsbedingten Beschwerdesymptomatik abgegrenzt wurden.

Die Einwendungen der Klägerin gegen das Gutachten von Frau Dr. Q greifen nicht durch. Soweit die Klägerin vorgetragen hat, die von der Sachverständigen angeführten Belastungsfaktoren seien nicht als sichere alternative Kausalitäten zu bezeichnen, da Kündigung und Arbeitslosigkeit, Umschulung und Wirbelsäulenbeschwerden sowie das Versterben eines Elternteils "alltägliche" Belastung darstellten, welche bei ansonsten unbelasteten Menschen in der Regel nicht zur Ausprägung einer depressiven Episode führten, ist darauf hinzuweisen, dass diese Belastungsfaktoren - wie allgemein bekannt ist - auch bei ansonsten unbelasteten Menschen zur Ausbildung einer depressiven Episode führen können und dies bei der Klägerin der Fall war, wie zur Überzeugung des Gerichts aufgrund des Gutachtens von Frau Dr. Q feststeht. "

Dagegen richtet sich die rechtzeitige Berufung der Klägerin, die ihr erstinstanzliches Begehren unter Wiederholung ihres bisherigen Vorbringens in vollem Umfang aufrecht hält. Sie trägt im Wesentlichen vor, dem Gutachten von Frau Dr. Q sei insoweit nicht zu folgen, als diese annehme, dass von einem Gesamt-GdS von 50 lediglich ein GdS von 30 auf die posttraumatische Störung entfalle und der weitere GdS auf schädigungsunabhängige Anteile zurückzuführen sei. Es sei nicht im geringsten nachvollziehbar, wie die Sachverständige zu dem Ergebnis komme, dass ein schädigungsunabhängiger Anteil der Beeinträchtigung durch die Kündigung im Jahre 1990 verursacht worden sei. Es dürfe vielmehr so sein, dass es sich hierbei um einen Anteil der posttraumatischen Belastungsstörung handele. Die seinerzeitige Kündigung könne keine Nachwirkungen haben. Im nahezu selben zeitlichen Kontext (Anfang 2000) sei ihr - der Klägerin - der über Jahre andauernde Missbrauch bewusst geworden. Dies habe dazu geführt, dass sie in den Jahren 2000, 2002 und 2005 mehrere Klinikaufenthalte habe absolvieren müssen. Die Kündigung stelle überdies eine alltägliche Belastung dar, die von jüngeren Menschen grundsätzlich besser aufgefangen werden könne als von Menschen in fortgeschrittenem Lebensalter. Nicht nachvollziehbar sei zudem, weshalb die angeführten Schwierigkeiten in der Partnerschaft einen eigenen schädigungsunabhängigen Anteil enthalten sollten. Aus ihrer - der Klägerin - Sicht führe der Bereich des sexuellen Zusammenseins zwar zu vielen Belastungen in der Beziehung, die jedoch ihr Lebensgefährte und sie gemeinsam meisterten. Angesichts der Ausführungen der Sachverständigen Dr. Q dürfte unstreitig sein, dass die sexuellen Belastungen der Beziehung auf den Missbrauch zurückzuführen seien. Auch ihre massiven orthopädischen Beschwerden beruhten letztlich auf psychosomatischen Reaktionen. Die Auffassung der Sachverständigen, dass ein weiterer schädigungsunabhängiger Erkrankungsanteil durch den Krebstod der Mutter verursacht worden sei, müsse zurückgewiesen werden. Das Gutachten der Sachverständigen enthalte keinerlei Hinweise darauf, dass sie - die Klägerin - stärker durch den Tod ihrer Mutter belastet worden sei als andere Menschen. Die Sachverständige habe ihre Auffassung nicht begründet. Statt dessen habe sie ausgeführt, dass zu der Entwicklung der depressiven Störung auch der durch fehlende emotionale Zuwendung, Abwertung und hohem Leistungsdruck geprägte Erziehungsstil der Eltern beitrage. Die Sachverständige verkenne, dass gerade dieses Verhalten von Eltern bzw. den Tätern des sexuellen Missbrauchs ein Bestandteil des sexuellen Missbrauches sei und somit nicht unabhängig von dem sexuellen Missbrauch gesehen werden könne.

Die Klägerin und der Beklagte beantragen,

den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Sozialgericht Detmold zurückzuverweisen.

Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist im Sinne einer Zurückverweisung gemäß § 159 Abs. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) begründet. Eine Zurückverweisung war geboten, weil das SG den entscheidungserheblichen Sachverhalt unzureichend aufgeklärt und in falscher Besetzung bzw. in der für diesen Fall unzulässigen Form des Gerichtsbescheids entschieden hat.

Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht (LSG) die angefochtene Entscheidung durch Urteil aufheben und die Sache an die erste Instanz zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Verfahrensmangel i.S.d. Vorschrift ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift oder aber ein Mangel der Entscheidung selbst (Frehse in: Jansen, SGG, 3. Aufl. 2009, § 159 Rn. 6 m.w.N.). Die angefochtene Entscheidung des SG beruht auf solchen wesentlichen Verfahrensfehlern (hierzu unter 1.). Die Aufhebung und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das SG ist sachgerecht, denn der erkennende Senat konnte ohne die Erhebung weiterer Beweise in der Sache nicht selbst entscheiden. Eine Durchführung der erforderlichen aufwändigen Beweisaufnahme in der ersten Instanz ist unter Würdigung der Schutzinteressen der Beteiligten zweckmäßig und angemessen (hierzu unter II).

I. Ein Verfahrensmangel im Sinne des § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG ist ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift oder aber ein Mangel der Entscheidung selbst (zu den Voraussetzungen des § 159 Abs. 1 SGG siehe Urteile des LSG NRW vom 20.02.2002 - L 10 SB 141/01 -, vom 22.01.2003 - L 10 SB 111/02 -, vom 19.03.2008 - L 8 R 264/07 - sowie vom 27.11.2008. - L 2 KN 165/08 -). Hier liegen mehrere wesentliche Verfahrensmängel vor: Zum einen hat das SG den Sachverhalt nicht ausreichend aufgeklärt und damit seiner Amtsermittlungspflicht gem. §§ 103 und 106 SGG nicht genügt (hierzu unter 1.). Ferner hat das SG durch Gerichtsbescheid ohne Beteiligung der ehrenamtlichen Richter entschieden und damit das Recht auf den gesetzlichen Richter gemäß § 12 SGG iVm Art 101 Grundgesetz (GG) verletzt. (hierzu unter 2.)

1. Das angefochtene Urteil verstößt gegen die zwingende Verfahrensvorschrift des § 103 SGG, weil das SG sich zu weiterer Beweiserhebung hätte gedrängt fühlen müssen. Nach § 103 SGG erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen; die Beteiligten sind dabei heranzuziehen. Das Gericht ist an das Vorbringen und die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. Hiernach hat das Gericht im sozialgerichtlichen Verfahren die Amtsermittlung in eigener Verantwortung durchzuführen. Der in § 103 SGG normierte Untersuchungsgrundsatz ist verletzt, wenn das Tatsachengericht Ermittlungen unterlässt, die es von seiner Rechtsauffassung ausgehend hätte anstellen müssen. Hierbei ist von sämtlichen Ermittlungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen, die vernünftigerweise zur Verfügung stehen (vgl. Kolmetz in: Jansen, SGG, 3. Aufl. 2009, § 103 Rn. 3 ff. m.w.N.). Bei einem geltend gemachten Anspruch nach dem OEG hat das Gericht konkret die angeschuldigten Handlungen nach Ort, Zeit und Art zu ermitteln und zu benennen, die es als Angriffe i.S.d. § 1 OEG ansieht (LSG NRW, Urteil vom 13.08.2008 - L 10 VG 12/08 -).

Die vage Schilderung der frühkindlichen Missbrauchserinnerungen der Klägerin ist bislang trotz sich aufdrängender Beweismöglichkeiten, insbesondere in Gestalt der Vernehmung ihres als Täter genannten Vaters nicht im Ansatz aufgeklärt. Dass die Klägerin die Anhörung ihres Vaters nicht wünscht, ist für die Ermittlungen von Amts wegen gemäß §§ 103, 106 SGG nicht maßgeblich. Das Zeugnisverweigerungsrecht wurde hier sowohl vom Beklagten wie vom SG wegen der Bitte der Klägerin, ihren Vater nicht zu hören, unzutreffend als vermeintliches Beweiserhebungsverbot gewertet. Indes steht das Zeugnisverweigerungsrecht nur dem Zeugen, nicht aber der Klägerin (Antragstellerin) zu (vgl. § 118 SGG iVm. § 383 Zivilprozessordnung). Die Klägerin hat es vielmehr über die sog. Dispositionsmaxime bzw. den Antragsgrundsatz gemäß §§ 90, 92 SGG allenfalls in der Hand, den behördlichen/gerichtlichen Ermittlungen gänzlich die Grundlage zu entziehen, indem sie ihren Antrag/die Klage zurücknimmt, was sie jederzeit ohne Begründung tun kann.

Es handelt sich bei einer Zeugenvernehmung (auch von Angehörigen) auch nicht etwa um eine mitwirkungspflichtige Handlung, die nach den Grundsätzen fehlender Mitwirkung gemäß § 60 ff des Sozialgesetzbuch Erstes Buch zu behandeln wäre (Androhung und dann Belastung mit Beweisnachteilen bis hin zur Ablehnung des Antrags). Denn der Kläger/Antragsteller muss bei einer gerichtlichen Beweiserhebung durch Zeugenvernehmung nichts selbst beitragen oder dulden, so dass eine "Mitwirkung" der Klägerin schon im rechtlichen Ansatz ausscheidet. Das SG hätte also zumindest den angeschuldigten Täter, dessen Name bekannt ist, polizeilich ermitteln und als Zeugen vernehmen müssen.

Die Beweisaufnahme war auch nicht wegen eines bereits erwiesenen Sachverhalts entbehrlich, denn die eingeholten Gutachten sind angesichts der auch dort nur vage bleibenden Beschreibungen der Taten, die sich im Wesentlichen in der Benennung des Straftatbestands erschöpfen, ebenfalls für die nach dem § 1 OEG zu treffenden Feststellungen unzureichend. Es bleibt danach unklar, inwieweit überhaupt unter § 1 OEG fallende konkrete Handlungen vorlagen (die als Straftaten zudem nach dem am damaligen Tatort geltenden DDR-Strafrecht zu überprüfen wären). Dass sich ein Vater beim Mittagsschlaf zu einem Kind ins Bett legt, war (und ist) selbst nach dem in der Bundesrepublik Deutschland geltenden Strafrecht nicht ohne weitere besondere Umstände strafbar und kann auch ein harmloses Zu-Bett-Bringen sein. Ebenso wenig ist eine strenge und leistungsbetonte Erziehung mit - retrospektiv als solchen empfundenen - "Machtspielen" automatisch strafbar. Es fehlt mithin bislang an einer strafrechtlich exakten Feststellung der fraglichen Taten als rechtswidrige Angriffe i.S.d. § 1 OEG.

Die Herangehensweise des SG war auch nicht ausnahmsweise dadurch zulässig, dass es von gesicherten Erkenntnissen zu Art und Qualität von Ereignissen ausgehen konnte, die als sog. "Nachschaden" zeitlich nach dem unter § 1 OEG fallenden Angriff lagen und die in der haftungsausfüllenden Kausalität zu Lasten der Klägerin berücksichtigt werden müssen. Denn auch hier fehlt es an exakten Feststellungen über die genaue Art und die Qualität der betreffenden Ereignisse und ihrer genauen Auswirkung. Zudem ist ihre Verschränkung mit der angeschuldigten schädigungsbedingten psychischen Schädigung in der Kindheit bislang nicht aufgeklärt. Das beginnt mit der Frage, ob sich der behauptete sexuelle Missbrauchs auf die Partnerschaft der Klägerin ausgewirkt haben kann. Dies ist zumindest ohne genaue (sachverständige) Aufklärung nicht auszuschließen. Diese Frage ist auch entscheidungserheblich. Denn bei Auswirkung des angeschuldigten sexuellen Missbrauchs auf die Partnerschaft wäre auch diese Folge noch u.U. ganz oder zum Teil schädigungsbedingt iSd OEG.

Das gilt ferner für die vom SG als schädigungsunabhängig bewertete Bewältigung der Krebserkrankung der Mutter der Klägerin. Auch hier ist ohne nähere sachverständige Aufklärung nicht auszuschließen, dass die Beziehung der Klägerin zu ihrer Mutter aufgrund der angeschuldigten Missbrauchserfahrung sowie den damit verbundenen Vorwurf an die Mutter, sie habe die Klägerin als Kind nicht vor dem Vater beschützt, schuldbeladen sein und der Umgang mit der Krebserkrankung in der Familie damit schädigungsbedingt erheblich erschwert worden sein könnte.

Derselbe Einwand trifft schließlich auch für die von der Klägerin geschilderten Probleme am Arbeitsplatz zu, die das SG ebenfalls als schädigungsunabhängig bewertet hat, ohne insoweit zur Kausalität exakte Feststellungen getroffen zu haben. Denn jedenfalls dann, wenn sich in diesen Schwierigkeiten eine schädigungsbedingt erlittene besondere Verwundbarkeit der Klägerin verwirklicht haben sollte, wäre eine Verursachung oder richtunggebend wesentliche Verschlimmerung durch den angeschuldigten sexuellen Missbrauch nicht ohne weiteres zu verneinen. Hierzu verhält sich das vom SG tragend herangezogene Gutachten von Dr. Q nicht bzw. allenfalls in einer pauschalen, für den erkennenden Senat mangels detaillierter Begründung nicht nachvollziehbaren Behauptung.

Der vom SG ergänzend herangezogene vermeintlich allgemeine Erfahrungssatz, "dass diese Belastungsfaktoren - wie allgemein bekannt ist - auch bei ansonsten unbelasteten Menschen zur Ausbildung einer depressiven Episode führen können" ist nicht wissenschaftlich belegt, im Urteil auch nicht mit einer Quelle versehen und dem erkennenden Senat auch sonst nicht bekannt.

Da die Sachverständige Dr. Q den Gesamt-GdS im Ergebnis jedoch auf 50 schätzt und damit in den Bereich einer potentiell entschädigungspflichtigen Höhe gelangt, ist selbst wenn, wie es das SG getan hat, die Frage nach dem schädigenden Ereignis als Vorfrage ausgeklammert und ausschließlich auf den Grad der Schädigungsfolgen abgestellt wird, die exakte Abgrenzung zwischen Vorschaden, Hauptschaden und einem eventuellen schädigungsunabhängigem Nachschaden entscheidungserheblich. Denn nur durch eine solche Feststellung könnten die ggf. entschädigungspflichtigen OEG-Anteile (potentiell) auf unter 50 abgesenkt sein.

2. Das SG durfte ferner nicht durch Gerichtsbescheid entscheiden. Wie der 10. Senat des LSG NRW schon mit Urteil L 10 VG 12/08 vom 13.08.2008 zutreffend klargestellt hat, ist der Erlass eines Gerichtsbescheids auch nach der Neufassung des § 105 SGG solange nicht zulässig, wie der entscheidungserhebliche Sachverhalt nicht geklärt ist. Da die erforderlichen Feststellungen zum Sachverhalt fehlen, hat das SG der Klägerin die zur Entscheidung mit berufenen ehrenamtlichen Richtern unter Verletzung des § 12 SGG iVm Art 101 GG entzogen.

II. Mangels ausreichender Feststellungen konnte der erkennende Senat nicht ohne weitere aufwändige Beweiserhebung abschließend über den geltend gemachten Anspruch entscheiden.

Hierbei handelt es sich um umfangreiche Ermittlungen, die entsprechend dem auch für die Auslegung des § 159 SGG heranzuziehenden Rechtsgedanken des § 130 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung sowohl unter dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie als auch des Erhalts beider Tatsacheninstanzen die Aufhebung und Zurückverweisung an das SG als ermessensgerecht gebieten (so auch LSG NRW, Urteil vom 19.03.2008 - L 8 R 264/07-). §159 SGG stellt ein wesentliches Instrument der verfahrensmäßigen Qualitätssicherung dar. In der Rechtsprechung ist mit guten Gründen anerkannt, dass der Inhalt einer gerichtlichen Entscheidung im Interesse der Rechtsuchenden gewissen Minimalanforderungen genügen muss (hierzu Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), Urteil vom 28.11.2002 - 2 C 25/01 -; Bundesfinanzhof (BFH), Urteile vom 01.02.2001 - 111 R 11/98 - und 07.11.2000 - VII R 24/00 -; Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 15.11.1988 - 4/11 a RA 20/87 -; BGH, Urteil vom 21.12.1962 - I B 27/62 -; LSG NRW, Urteile vom 23.01.2002 - L 10 SB 150/01 -, 05.09.2001 - L 10 SB 70/01 -, 20.02.2002 - L 10 V 41/01 - und 14.05.1998 - L 7 SB 146/97 -). Wird dem - wie hier - nicht Rechnung getragen und sprechen keine sonstigen besonderen Gründe der Verfahrensgerechtigkeit dagegen, ist mithin eine Zurückverweisung nach § 159 SGG geboten.

Der Senat hat daher von dem ihm in § 159 SGG eingeräumten Ermessen unter Abwägung der Interessen der Beteiligten an einer baldigen Sachentscheidung und dem Grundsatz der Prozessökonomie einerseits sowie dem Verlust einer Tatsacheninstanz andererseits im entschiedenen Sinne Gebrauch gemacht. Es überwiegen die Schutzinteressen der Beteiligten, die ebenfalls die Zurückverweisung und damit den Erhalt aller Tatsacheninstanzen beantragt haben.

Die Kostenentscheidung war mangels endgültiger Entscheidung in der Hauptsache gemäß § 193 SGG dem SG vorzubehalten.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 SGG bestanden nicht.
Rechtskraft
Aus
Saved