L 34 AS 2050/11 B PKH

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Grundsicherung für Arbeitsuchende
Abteilung
34
1. Instanz
SG Cottbus (BRB)
Aktenzeichen
S 4 AS 1092/11
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 34 AS 2050/11 B PKH
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 2. November 2011 aufgehoben. Der Klägerin wird für das bei dem Sozialgericht Cottbus anhängige Klageverfahren mit dem Aktenzeichen S 4 AS 1092/11 mit Wirkung ab dem 26. Oktober 2011 Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt T L, R. Straße , G beigeordnet. Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe:

Die am 11. November 2011 beim Landessozialgericht Berlin-Brandenburg eingegangene Beschwerde der Klägerin gegen den ihrem Prozessbevollmächtigten am 8. November 2011 zugestellten Beschluss des Sozialgerichts Cottbus vom 2. November 2011, mit dem dieses es abgelehnt hat, ihr Prozesskostenhilfe (PKH) für das Verfahren S 4 AS 1092/11 zu bewilligen, ist gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthaft, zulässig und auch begründet. Die Klägerin hat Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe.

Gemäß § 73a Abs. 1 Satz 1 SGG im Verbindung mit § 114 Zivilprozessordnung (ZPO) erhält ein Beteiligter auf Antrag Prozesskostenhilfe, wenn er nach seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht, nur zum Teil oder nur in Raten aufbringen kann, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint. Eine Rechtsverfolgung hat dann hinreichende Aussicht auf Erfolg, wenn das Gericht nach vorläufiger summarischer Prüfung den Rechtsstandpunkt des Klägers zumindest für vertretbar und unter Berücksichtigung auch des gegnerischen Vorbringens den Prozesserfolg für möglich hält. Dies ist vorliegend der Fall, denn die Frage, ob sich eine Behörde bei ihrer Entscheidung über einen Überprüfungsantrag auf die Bindungswirkung des zur Überprüfung gestellten Bescheides berufen und es ablehnen darf, die Rechtmäßigkeit des Bescheides zu prüfen, wenn der Antragsteller - wie hier - weder im Verwaltungs- noch im Widerspruchsverfahren auch nur ansatzweise dargelegt hat, aus welchen Gründen der zur Überprüfung gestellte Bescheid rechtswidrig sein soll, und weder neue Tatsachen oder Erkenntnisse vorgetragen noch neue Beweismittel benannt hat, ist nicht unumstritten.

Im Sozialleistungsrecht ist die Überprüfung und Aufhebung auch bestandskräftiger Verwaltungsakte aufgrund der Vorschrift des § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) möglich. Nach dieser Vorschrift ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Nach der Rechtsprechung jedenfalls des 9. Senats des Bundessozialgerichts (BSG; Urteil vom 3. Februar 1988, Az.: 9/9a RV 18/86, BSGE 63, 33 = SozR 1300 § 44 Nr. 33, zitiert nach Juris) und des 4. Senats des BSG (Urteil vom 3. April 2001, Az.: B 4 RA 22/00 R, BSGE 88,75 = SozR 3-2200 § 1265 Nr. 20, zitiert nach Juris) verlangt § 44 SGB X, dass vor einer erneuten Sachprüfung zwei Prüfungsabschnitte durchlaufen werden. Auf der ersten Stufe hat die Behörde zu entscheiden, ob sie trotz der Bestandskraft des früheren Verwaltungsakts überhaupt in eine sachliche Prüfung der Voraussetzungen seiner Rücknahme eintreten darf oder dies sogar muss. Bei nachträglicher Änderung der Sach- oder Rechtslage, beim Vorliegen neuer günstiger Beweismittel oder bei Wiederaufnahmegründen muss die Behörde die Aufhebbarkeit des früheren Verwaltungsakts in der Sache prüfen und bescheiden. Ergibt sich im Rahmen eines Antrags auf einen Zugunstenbescheid allerdings nichts, was für die Unrichtigkeit der Vorentscheidung sprechen könnte, darf sich die Verwaltung ohne jede Sachprüfung auf die Bindungswirkung berufen. Denn sie soll nicht durch aussichtslose Anträge, die beliebig oft wiederholt werden können, wieder zu einer neuen Sachprüfung gezwungen werden. Werden zwar neue Tatsachen oder Erkenntnisse vorgetragen und neue Beweismittel benannt, ergibt aber die Prüfung, dass die vorgebrachten Gesichtspunkte nicht tatsächlich vorliegen oder für die frühere Entscheidung nicht erheblich waren, darf sich die Behörde ebenfalls auf die Bindungswirkung stützen. Nur wenn die Prüfung zu dem Ergebnis führt, dass ursprünglich nicht beachtete Tatsachen oder Erkenntnisse vorliegen, die für die Entscheidung wesentlich sind, ist ohne Rücksicht auf die Bindungswirkung erneut zu entscheiden. Dieser Rechtsprechung haben sich mehrere Instanzgerichte und ein Teil der Literatur angeschlossen (u. a. Landessozialgericht [LSG] Berlin-Brandenburg, Urteil vom 29. September 2011, Az.: L 29 AS 728/11; Schleswig-Holsteinisches LSG, Urteil vom 7. Oktober 1999, Az.: L 5 U 11/99, und Urteil vom 12. Juli 2007, Az.: L 2 VS 55/06; LSG Hamburg, Urteil vom 9. Februar 2010, Az.: L 3 U 50/08, LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18. Februar 2010, Az.: L 10 B 9/09 VG, alle Juris; Dörr/Francke, Sozialverwaltungsrecht, 2. Auflage 2006, Kapitel 7, Rn 73a; Merten, in: Hauck/Noftz, SGB X, Lfg. 2/11, K § 44, Rn 37 ff.). Der erkennende Senat neigt dieser Auffassung zu.

Der beabsichtigten Rechtsverfolgung kann eine hinreichende Erfolgsaussicht dennoch nicht gänzlich abgesprochen werden, da in der Literatur und in der Rechtsprechung teilweise auch eine andere Auffassung vertreten wird. Die Gegenmeinung sieht in dem geschilderten Verfahren des 9. und des 4. Senats des BSG eine den Rechtsschutz verkürzende Vorgehensweise, für die es keine gesetzliche Grundlage gebe (Waschull, in: Diering/Timme/Waschull, SGB X, 3. Auflage 2011, § 44, Rn 40), bzw. äußert Bedenken, dass dadurch der von § 44 SGB X eingeräumte Anspruch auf Durchsetzung der dem Versicherten zustehenden materiellen Rechtsposition begrenzt werden könnte (Schütze, in: von Wulffen, SGB X, 7. Auflage 2010, § 44, Rn 39). Nach der Rechtsprechung des 2. Senats des BSG (Urteil vom 5. September 2006, Az.: B 2 U 24/05 R, Juris) soll das oben dargestellte gestufte Prüfverfahren nur bezogen auf die Frage gelten, ob der ursprüngliche Verwaltungsakt wegen neuer Tatsachen oder Beweismittel aufzuheben ist. Bezogen auf die Frage der falschen Rechtsanwendung soll eine umfassende Prüfung unabhängig vom Vorbringen des Antragstellers vorzunehmen sein. Zur Begründung weist der 2. Senat des BSG darauf hin, dass das Ziel des § 44 SGB X darin bestehe, die Konfliktsituation zwischen der Bindungswirkung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts und der materiellen Gerechtigkeit einseitig zugunsten Letzterer aufzulösen (vgl. dazu BSG, Urteil vom 5. September 2006, a. a. O., Rz. 12). In seinem Urteil vom 11. November 2003 (Az.: B 2 U 32/02 R, Juris) hat der 2. Senat des BSG ausgeführt, dass das SGB X, anders als das allgemeine Verwaltungsverfahrensrecht, bei Ansprüchen auf Sozialleistungen dem Grundsatz folge, dass der materiellen Gerechtigkeit auch für die Vergangenheit Vorrang vor der Rechtssicherheit gebühre. Es kenne daher keine dem § 51 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) vergleichbare Regelung, die es der Behörde erlaube, ein Wiederaufgreifen des abgeschlossenen Verwaltungsverfahrens unter Berufung auf die Bindungswirkung früherer Bescheide abzulehnen, wenn sich die Sach- und Rechtslage nicht geändert habe und der Antragsteller keine neuen Beweismittel vorlegen könne. Nach § 44 Abs. 1 SGB X sei der Leistungsträger vielmehr verpflichtet, auch bei wiederholten Anträgen über die Rücknahme der entgegenstehenden Verwaltungsakte und die Gewährung der beanspruchten Sozialleistung zu entscheiden.

Die Klägerin ist nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen auch nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung aufzubringen. Es war ihr daher unter Beiordnung ihres Bevollmächtigten Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung zu bewilligen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 73a SGG in Verbindung mit § 127 Abs. 4 ZPO.

Dieser Beschluss ist nicht mit der Beschwerde zum Bundessozialgericht anfechtbar (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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