L 8 KR 326/11 B

Land
Hessen
Sozialgericht
Hessisches LSG
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
8
1. Instanz
SG Kassel (HES)
Aktenzeichen
S 5 KR 77/09
Datum
2. Instanz
Hessisches LSG
Aktenzeichen
L 8 KR 326/11 B
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Beschluss
Leitsätze
Eine Untätigkeitsbeschwerde ist nicht etwa deshalb unzulässig, weil es dafür (noch) keine gesetzliche Rechtsgrundlage gibt. Ausnahmsweise ist eine Untätigkeitsbeschwerde dann statthaft, wenn das Ausgangsgericht die aktuelle Bearbeitung des Verfahrens ohne sachlichen Grund verzögert oder gar verweigert (Anschluss an OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 9. Juni 2011 - 1 W 30/11 -).
Die Untätigkeitsbeschwerde des Klägers und Beschwerdeführers vom 24. Oktober 2011 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Gründe:

I.

Das vorliegende Verfahren betrifft eine Untätigkeitsbeschwerde.

Der Kläger hat am 24. Oktober 2011 zu dem bei dem Sozialgericht Kassel anhängigen Verfahren - S 5 KR 77/09 - "die Abhilfe der Untätigkeit des Gerichts angemahnt und eine umgehende Entscheidung beantragt." Streitgegenstand dieses Verfahrens ist die am 3. April 2009 erhobene Untätigkeitsklage gegen die Beklagte mit dem Antrag,

die Beklagte zu verurteilen, über die Widersprüche vom 27. Juni 2008 zum Hausarztmodell sowie vom 13. September 2008 zur Befreiung von der gesetzlichen Zuzahlung Widerspruchsbescheide zu erteilen.

Die Untätigkeitsklage zum "Hausarztmodell", bei der noch eine Entscheidung zu dem von dem Kläger eingelegten Widerspruch vom 27. Juni 2008 ausstand, hat sich durch Abhilfebescheid der Beklagten vom 8. September 2010 erledigt. Zur Frage der Befreiung von der gesetzlichen Zuzahlung hat die Beklagte vorgetragen (Schriftsatz vom 24. November 2009), dass der Kläger am 7. Oktober 2008 bei ihr, der Beklagten, die Befreiung von der Zuzahlung beantragt habe. Mit Bescheid vom 13. Oktober 2008 sei der Kläger über die Höhe der Belastungsgrenze (77,20 EUR) sowie über die Höhe der zu berücksichtigenden Zuzahlungen (85,00 EUR) informiert worden. Als Zuzahlung seien Zuzahlungen zu Arznei- und Verbandmitteln in Höhe von 65,00 EUR sowie die Praxisgebühr für das 1. und 2. Quartal 2008 zu berücksichtigen gewesen. Weitere Unterlagen habe der Kläger nicht vorgelegt. Da die gewünschte Erstattung des die Belastungsgrenze übersteigenden Betrages in Höhe von 7,80 EUR per Scheck nicht möglich gewesen sei, habe sie um Angabe einer Bankverbindung gebeten. Da die Versicherung des Klägers zu jenem Zeitpunkt bereits beendet gewesen sei, habe die Befreiungskarte von der neuen Krankenkasse ausgestellt werden müssen. Deshalb sei der Kläger gebeten worden, den Bescheid dort vorzulegen. Die Überweisung der Zuzahlungserstattung sei am 10. November 2008 auf das Konto von Frau EA. vorgenommen worden. Deshalb sei eine Entscheidung über den Widerspruch zur Befreiung von der gesetzlichen Zuzahlung nicht mehr möglich. Dies habe sie bereits in ihrer Stellungnahme zu der Untätigkeitsklage ausgeführt (Schriftsatz vom 24. November 2009).

Nach Vorlage des Abhilfebescheides hat das Sozialgericht mit Verfügung vom 19. Januar 2011 bei dem Kläger angefragt, ob es "eventuell damit sein Bewenden haben könne"? Hierauf hat der Kläger dem Sozialgericht mitgeteilt:

"Da dem Gericht so sehr daran gelegen ist, kein Urteil sprechen zu müssen, rege ich an, einen Vergleich auszuarbeiten. Meine Bedingung: Folgende Kosten hat die Beklagte neben eventuellen Gerichtskosten zu erstatten: 1 unnötige Fahrt vom September 2008 vom Zweitwohnsitz A-Stadt nach N-Stadt und zurück (Befreiungsantrag wurde nicht auf- und Belege nicht angenommen) über insgesamt 90 km sowie Porto- und Materialkosten für Klage und weitere 6 Schriftsätze. Die Gesamtkosten bezifferte ich pauschal auf 35,00 EUR. Sollte dieser Vorschlag nicht binnen 1 Monat die Klage erledigen, werde ich mich künftig anwaltlich vertreten lassen, um dem meines Erachtens einseitigen Drängen des Gerichts entgegen wirken zu können. Auf das diffuse Vorbringen der Beklagten vom 12. Januar 2011 will ich nicht eingehen."

Mit Verfügung vom 10. März 2011 hat das Sozialgericht dem Kläger und Beschwerdeführer mitgeteilt, dass das Verfahren zur Sitzung verfügt sei. Ein genauer Termin könne noch nicht mitgeteilt werden.

Hiergegen richtet sich die von dem Kläger erhobene "Untätigkeitsbeschwerde".

II.

Die Untätigkeitsbeschwerde hat keinen Erfolg, weil das Sozialgericht nicht die aktuelle Bearbeitung des Verfahrens verzögert oder verweigert hat.

Nach § 172 Abs. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) findet die Beschwerde gegen Entscheidungen der Sozialgerichte mit Ausnahme der Urteile und gegen Entscheidungen der Vorsitzenden der Sozialgerichte statt. Eine anfechtbare Entscheidung des Sozialgerichts liegt hier nicht vor. Der Antragsteller rügt vielmehr eine von ihm gesehene Untätigkeit des Sozialgerichts mit einer sogenannten "Untätigkeitsbeschwerde". Solche Untätigkeitsbeschwerden sind bisher nach allgemeiner Auffassung als unzulässig erachtet worden, weil es hierfür (noch) keine Rechtsgrundlage in Gesetzesform gibt (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 8. April 2011 – L 19 AS 566/11 B -, in juris.de, unter Hinweis auf Beschluss des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, Große Kammer vom 08.06.2006 - 75529/01 -; BSG Beschluss vom 19.01.2010 - B 11 AL 13/09 C -, Beschlüsse des LSG NRW vom 30.01.2008 - L 19 B 16/08 AS ER -, vom 04.03.2010 - L 6 AS 304/10 B ER -, vom 29.03.2010 - L 20 AS 324/10 B - und vom 06.12.2010 - L 19 AS 1995/10 B ER; Beschluss des LSG Berlin-Brandenburg vom 30.06.2010 - L 13 SB 49/10 B -; offengelassen im Beschluss des Bayerischen Landessozialgerichts vom 28.04.2010 - L 1 R 132/10 B -). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist verfassungsrechtlich erforderlich, dass Rechtsbehelfe in der geschriebenen Rechtsordnung geregelt und in ihren Voraussetzungen für die Bürger erkennbar sind. Es verstößt daher gegen die verfassungsrechtlichen Anforderungen an die Rechtsmittelklarheit, wenn von der Rechtsprechung außerordentliche Rechtsbehelfe außerhalb des geschriebenen Rechts geschaffen werden, um tatsächliche oder vermeintliche Lücken im bisherigen Rechtsschutzsystem zu schließen (Plenumsbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02 -; Kammerbeschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16.01.2007 - 1 BvR 2803/06).

Gleichwohl sieht der Senat mit einer aus verfassungsrechtlichen Gründen im Vordringen befindlichen Auffassung eine Untätigkeitsbeschwerde bei Vorliegen besonderer Umstände prozessrechtlich als an sich statthaft an (so auch OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 9. Juni 2011 – 1 W 30/11 -, in juris.de). Dies setzt aber voraus, dass eine Untätigkeit des erstinstanzlichen Gerichts im Sinne einer Nichtbearbeitung oder verzögerten Bearbeitung des Verfahrens anzunehmen ist und deshalb Veranlassung besteht, "auf eine Beschleunigung des Verfahrens hinzuwirken, um einer Verzögerung für die Zukunft möglichst entgegen zu wirken" (OLG Frankfurt am Main, a.a.O.).

Diese Voraussetzungen sind hier aber nicht gegeben. Nach dem unter I. beschriebenen Ablauf des Verfahrens ist derzeit ersichtlich nicht feststellbar, dass das Sozialgericht ohne sachlichen Grund untätig geblieben ist oder die am 3. April 2009 erhobene Klage dilatorisch behandelt hat. Soweit es zu Verzögerungen gekommen ist, beruhen diese allein auf einer nach Klageerhebung fehlenden Entscheidung der Beklagten zu einem Widerspruch, der dann aber über einen Abhilfebescheid partiell für den Kläger erfolgreich war. Es bestehen für das vorliegende Verfahren jedenfalls keine verwertbaren Anhaltspunkte dafür, dass das Sozialgericht "untätig" geblieben ist. Der Hinweis des Sozialgerichts an den Kläger, dass das Verfahren "zur Sitzung verfügt" sei und ein "genauer Termin" noch nicht mitgeteilt werden könne, steht im Einklang mit den gesetzlichen Vorgaben. Grundsätzlich obliegt die zeitliche Gestaltung eines Verfahrens im Rahmen der maßgeblichen prozessrechtlichen Bestimmungen in erster Linie dem mit der Sache befassten Gericht. Dazu gehört auch die Steuerung des Verfahrensablaufs, die im Ermessen des Gerichts liegt (so Staatsgerichtshof des Landes Hessen, Beschluss vom 14. April 2011 – P.St. 2301 -, in juris.de).

Der Gesetzgeber hat mittlerweile ein Instrumentarium zur Ermöglichung eines effektiven Rechtsschutzes bei überlangen Gerichtsverfahren geschaffen. Danach ist eine Verzögerungsrüge, die bei dem mit dem Rechtsstreit befassten Gericht erhoben werden kann, vorgesehen. Die Erhebung einer solchen Verzögerungsrüge ist Grundvoraussetzung für eine etwaige spätere Geltendmachung einer Entschädigung wegen unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens (§ 198 Abs. 3 Gerichtsverfassungsgesetz - GVG – in Verbindung mit § 202 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz – SGG -, jeweils in der Fassung des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011, gültig ab 03.12.2011, BGBl. 2011 Teil I Nr. 60, Seite 2302 ff.).

Die hier bis zum Inkrafttreten des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren aufrechterhaltene Untätigkeitsbeschwerde kann zwar als eine beim Ausgangsgericht, dem Sozialgericht Kassel, erhobene Verzögerungsrüge gewertet werden. Allerdings kann diese nicht in die hiesige Entscheidung einbezogen werden. Die Gesetzesneuregelung sieht nämlich keine Entscheidung über eine Verzögerungsrüge, auch nicht eine solche des Ausgangsgerichts, vor. Die Verzögerungsrüge hat nur die Funktion, die Möglichkeit zur späteren Geltendmachung von Entschädigungsansprüchen wegen überlanger Verfahrensdauer zu wahren.

Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann mit der Beschwerde nicht angefochten werden (§ 177 SGG).
Rechtskraft
Aus
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