S 5 KR 97/08

Land
Nordrhein-Westfalen
Sozialgericht
SG Detmold (NRW)
Sachgebiet
Krankenversicherung
Abteilung
5
1. Instanz
SG Detmold (NRW)
Aktenzeichen
S 5 KR 97/08
Datum
2. Instanz
LSG Nordrhein-Westfalen
Aktenzeichen
-
Datum
-
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Beklagte wird unter Abänderung des Bescheides vom 06.11.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.02.2008 verurteilt, die Kosten für die Anschaffung des Hörgerätes Siemens CIC Nitro entsprechend der Rechnung der Beigeladenen vom 24.07.2008 in Höhe von 2.100,00 Euro zu erstatten. Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte verpflichtet ist, die über die Versorgungspauschale hinausgehenden Kosten für eine Hörgeräte-Versorgung zu übernehmen.

Der am 00.00.1966 geborene und bei der Beklagten gegen Krankheit versicherte Kläger leidet seit seiner Kindheit unter einer Taubheit rechts in Kombination mit einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit links. Der prozentuale Hörverlust beträgt beidseits 100 %. Seit seinem 3. Lebensjahr trägt er ein Hörgerät auf dem linken Ohr. Auf die Versorgung des schlechteren rechten Ohres wurde verzichtet. Seit seinem 18. Lebensjahr wurde er mit einem Gerät versorgt, bei dem die Elektronik in eine individuell angefertigte Hohlschale eingearbeitet und das in den Gehörgang eingeführt wird (sog. Im-Ohr-Gerät). Bereits in der Vergangenheit unternommene Versuche, das Resthörvermögen auf dem rechten Ohr zur reaktivieren, sind gescheitert, da der Kläger an das einseitige Hören gewöhnt ist.

Am 29.10.2007 stellte der Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde Dr.C eine Verordnung für eine Hörhilfe aus, da das bisher getragene Hörgerät den Hörverlust nicht mehr angemessen ausglich.

Der Kläger begab sich daraufhin zu der beigeladenen Firma für Augenoptik und Hörakustik L (im Folgenden: Beigeladene), die der Bundesinnung für Hörgeräteakustiker angeschlossen ist, und testete dort verschiedene Geräte im Rahmen einer beidohrigen Versorgung, wobei er laut Bericht der Beigeladenen vom 23.10.2007 die folgenden Ergebnisse erzielte:

Hörgerät Diskrimination ohne Störgeräusch Diskrimination mit Störgeräusch Gesamtkosten Siemens Centra S VC 100,00% 95,00% 5.400,00 EUR Oticon Syncro VC 90,00% 80,00% 4.471,00 EUR Siemens Cielo S 85,00% 75,00% 1.995,00 EUR Siemens Phoenix 213 80,00% 75,00% 828,88 EUR

Dem Kläger sind nach den Angaben der Beigeladenen ebenfalls zwei eigenanteilsfreie Geräte angeboten worden. Es handelte sich um HdO-Geräte der Firma Siemens (Infiniti Basic) und der Firma Oticon (GO Compact). Der Kläger erzielte hiermit ein Hörverstehen von 50 %, wobei die Beigeladene die Messungen hierzu erst auf Anfrage des Gerichts mitgeteilt hat. Nach der Testung empfahl die Beigeladene dem Kläger die Versorgung mit den Geräten der Fa. Siemens (Centra S VC).

Am 06.11.2007 wandte sich die Beigeladene an die Beklagte und zeigte die Versorgung des Klägers an. Mit Schreiben vom 06.11.2007 teilte die Beklagte dem Kläger mit, dass sie die vertraglich vereinbarten Kosten für die Hörgeräte i. H. v. 1.212,80 Euro übernehmen werde. Für diesen Betrag sei der Akustiker verpflichtet, dem Kläger zwei Hörgeräte entsprechend seiner Schwerhörigkeit eigenanteilsfrei anzubieten. Sofern der Kläger ein höherwertiges Gerät wähle, könne sich die Beklagte an den Mehrkosten für das Gerät oder spätere Reparaturen nicht beteiligen. Gegenüber der Beigeladenen erfolgte ebenfalls am 06.11.2007 die Genehmigung für das Hilfsmittel.

Hiergegen erhob der Kläger am 26.11.2007 Widerspruch und berief sich auf ein erläuterndes Schreiben der Beigeladenen vom 23.10.2007, worin diese ausführte, dass zwar ein Sprachverstehen mit fast allen Geräten bis zu einem gewissen Maß möglich war, sich bei der Testung aber Unterschiede ergäben hätten durch das subjektive Klang-empfinden. Probleme seien mit fast allen Geräten in geräuschvoller Umgebung entstanden. Lediglich bei Einsatz der Geräte Siemens Centra sei ein gutes Sprachverstehen auch in geräuschvoller Umgebung möglich. Es sei daher nicht als das Maß des Notwendigen und Angemessenen überschreitend zu bezeichnen, wenn der Kläger für sich in Anspruch nehme, in schwierigen akustischen Situationen genauso am Gespräch teilnehmen zu wollen, wie ein normal Hörender.

Der Widerspruch wurde ohne weitere Ermittlungen von der Beklagten mit Widerspruchs-bescheid vom 12.02.2008 zurückgewiesen. Sie führte zur Begründung aus, sie habe für eine wirtschaftliche und ausreichende Versorgung mit Hörgeräten Vertragspreise mit den Leistungserbringern vereinbart. Die Hörhilfen könnten daher lediglich im Rahmen der vereinbarten Versorgungspauschale zur Verfügung gestellt werden. Der Kläger habe die Möglichkeit, sich für eine aufwändigere Versorgung zu entscheiden, die Mehrkosten fielen dann jedoch in seinen eigenen Verantwortungsbereich.

Hiergegen richtet sich die am 10.03.2008 erhobene Klage, mit der der Kläger zunächst die Versorgung mit den Geräten Siemens Centra S VC begehrt hat. Da das alte Gerät des Klägers nicht mehr funktionstüchtig war, hat der Kläger sich im Laufe des Verfahrens von der Beigeladenen mit einem (links zu tragendem) Im-Ohr-Gerät der Firma Siemens versorgen lassen. Hierbei handelt es sich um das Gerät Siemens CIC Nitro (Hilfsmittel-nummer: 13.20.02.5053), das von der Beigeladenen zu einem Preis von 1.820,00 Euro abgegeben wurde. Es handelt sich um ein 16-kanaliges Gerät, das über eine automatische Sprach- und Situationserkennung sowie ein Störlärmmanagement verfügt und drei indi¬viduelle Hörprogramme aufweist. Die Technologie ist von den Konstruktionsmerkmalen her vergleichbar mit den ursprünglich ausgewählten Geräten Siemens Centra S VC.

Am 03.07.2008 hat die Beigeladene gegenüber der Beklagten den Abschlussbericht erstellt. Auf der Empfangsbestätigung ist angekreuzt worden, dass der Kläger kein eigenanteilsfreies Versorgungsangebot gewünscht habe. Den formularmäßigen Passus "Mit der Zahlung der Mehrkosten für das von mir ausgewählte Hörsystem und den damit verbundenen Folgekosten bin ich einverstanden." hat der Kläger durchgestrichen und hingegen vermerkt: "Mit der Zahlung der Mehrkosten bin ich nicht einverstanden." Die insoweit abgeänderte Empfangsbestätigung hat der Kläger unterschrieben. Mit der Rechnung der Beigeladenen vom 24.07.2008 ist der Kläger aufgefordert worden, einen Betrag i. H. v. 2100,00 Euro zu zahlen. Neben den Kosten für das Gerät selbst ist für die für die aufwändigere CIC-Versorgung (Complete-In-Chanel) erforderliche Otoplastik ein Betrag in Höhe von 280,00 Euro in Rechnung gestellt worden. Die Rechnung hat der Kläger mit mehreren Ratenzahlungen beglichen. Die Beigeladene hat von der Beklagten eine Versorgungspauschale in Höhe von 648,40 Euro erhalten (420,00 Euro für das Hörgerät, 33,50 Euro für eine Otoplastik und 194,90 Euro als Reparaturpauschale).

Nunmehr begehrt der Kläger die Kostenerstattung für das angeschaffte Gerät. Er führt zur Begründung aus, er habe sich von mehreren Hörgeräteakustikern beraten lassen und über einen langen Zeitraum verschiedene Geräte von unterschiedlichen Herstellern getestet. Mit dem neuen Gerät habe sich die Konzentrationsfähigkeit und Kommunikation sowie die Verständigung bedeutend verbessert. Auch sein behandelnder Arzt habe bestätigt, dass das Gerät richtig ausgewählt worden sei.

Mit Beschluss vom 06.10.2010 hat das Gericht den Hörgeräteakustiker des Klägers beigeladen.

Der Kläger beantragt,

die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 06.11.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.02.2008 zu verurteilen, die Kosten für die Anschaffung des Gerätes Siemens Nitro CIC in Höhe von 2.100,00 Euro zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung führt sie aus, der angefochtene Bescheid vom 06.11.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.02.2008 entspreche der Sach- und Rechtslage und sei daher nicht zu beanstanden. Nach dem Versorgungsvertrag, den die Bundesinnung den Krankenkassen abgeschlossen hat, sei der Leistungserbringer grundsätzlich verpflichtet, dem Versicherten zwei Hörsysteme zum vereinbarten Vertragspreis anzubieten. Diese Systeme müssten geeignet sein, den individuellen Hörverlust auszugleichen. Im Falle des Klägers seien Hörgeräte der Festbetragsgruppe 03 (Hilfsmittelnummer: 13.20.03) beantragt worden. Mit der Zahlung des Vertragspreises habe die Beklagte ihren Ermessensspielraum zu Gunsten des Klägers ausgeschöpft. Eine weitergehende Kostenübernahme sei nicht möglich.

Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. Sie vertritt die Auffassung, sie habe ihre vertraglichen Verpflichtungen erfüllt, indem dem Kläger im November 2007 zwei eigenanteilsfreie HdO-Geräte zur Verfügung gestellt worden seien. Das vom Kläger ausgewählte Gerät Siemens Nitro sei nicht leistungsstärker als die eigenanteilsfreien Geräte, habe aber gegenüber diesen erhebliche Vorteile im normalen Alltag, weil Geräusche allgegenwärtig seien und das Sprach/Störlärm-Management des ausgewählten Gerätes das Sprachverstehen verbessere.

Auf Anfrage des Gerichts hat die Beigeladene einen weiteren Anpassbericht für das Gerät Siemens CIC Nitro übersandt. Danach hat der Kläger mit Gerät einen Hörgewinn von 50 Prozent erreicht. Eine Messung im Störschall erfolgte offenbar nicht, jedenfalls enthält der Bericht keinen Hinweis darauf, wie sich die Diskrimination im Störschall darstellte.

Das Gericht hat zur Aufklärung des Sachverhalts den bei der Beigeladenen seinerzeit tätigen Hörgeräteakustikermeister K E zu der Versorgung des Klägers als Zeugen vernommen und einen Befund- und Behandlungsbericht des HNO-Arztes Dr. C beigezogen. Auf die Sitzungsniederschrift vom 11.11.2009 und den ärztlichen Bericht vom 19.04.2010 wird Bezug genommen.

Sodann hat das Gericht auf die Ausführungen der Beigeladenen hin Beweis erhoben durch Einholung von Gutachten eines Hörgeräteakustikermeisters sowie eines HNO-Facharztes. Auf Inhalt und Ergebnisse der am 24.01.2011 und 26.01.2011 bei Gericht eingegangenen Ausführungen der Sachverständigen wird verwiesen.

Im Verhandlungstermin vom 05.10.2011 hat das Gericht den Hörgeräteakustikermeister I als Sachverständigen zur Erläuterung seines Gutachtens vernommen. Wegen seiner Ausführungen wird auf den Inhalt der Sitzungsniederschrift verwiesen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes im Übrigen nimmt die Kammer Bezug auf den Inhalt der Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungs-vorgang der Beklagten. Dieser war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

Entscheidungsgründe:

Die Kammer konnte den Rechtsstreit trotz Abwesenheit der Beigeladenen entscheiden. Die Beteiligten wurden in der Ladung vom 08.09.2011 auf diese Möglichkeit hingewiesen (§ 110 Abs. 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz - SGG - ).

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zulässig. Streitgegenstand ist der Bescheid vom 06.11.2007 in der Fassung, die er durch den Widerspruchsbescheid erhalten hat. Unabhängig davon, ob die Beklagte mit dem Bescheid vom 06.07.2011 bereits über die die Vertragspauschale überschreitenden Kosten eine Entscheidung getroffen hat, stand für sie spätestens mit Einlegung des Widerspruchs fest, dass das Sachleistungsbegehren des Klägers über die bewilligte Versorgungspauschale hinausgeht. Somit enthält jedenfalls der Widerspruchsbescheid vom 12.02.2008 inzident die Entscheidung, dass unabhängig von den konkreten gesundheitlichen Bedürfnissen des Klägers ein Verweis auf die Versorgungspauschale möglich und zulässig ist.

Die Klage ist auch begründet.

Der Kläger ist durch den angefochtenen Bescheid vom 06.11.2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.02.2008 insoweit beschwert im Sinne des § 54 Abs. 2 Satz 1 SGG, als die Beklagte die Übernahme von Mehrkosten für die erforderliche Hörgeräteversorgung abgelehnt und die Versorgung auf einen Betrag i. H. v. 648,40 Euro begrenzt wurde.

Dem Kläger steht ein Kostenerstattungsanspruch gegenüber der Beklagten in Höhe von 2.100,00 Euro auf der Grundlage des § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V zu.

Das vom Sachleistungsprinzip geprägte System der gesetzlichen Krankenversicherung erlaubt eine Kostenerstattung nur in den vom Gesetz vorgesehenen Fällen. Nach § 13 Abs. 3 Satz 1 Sozialgesetzbuch, 5. Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Erstattung der Kosten, die ihnen für die Selbstbeschaffung einer Leistung entstanden sind, wenn die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen konnte oder sie eine Leistung zu Unrecht abgelehnt hat.

Eine unaufschiebbare Leistung i. S. d. § 13 Abs. 3 Satz 1 erste Alternative SGB V lag ersichtlich nicht vor. Die Versorgung mit einem Hörgerät stellt sich nicht als Notfall dar, allerdings sind die Voraussetzungen der zweiten Alternative des § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V erfüllt, da die Beklagte die Leistung zu Unrecht abgelehnt hat.

Nach § 33 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen, soweit die Hilfsmittel nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens anzusehen oder nach § 34 Abs. 4 SGB V ausgeschlossen sind. Der Anspruch umfasst darüber hinaus auch die notwendige Änderung, Instandsetzung und Ersatzbeschaffung von Hilfsmitteln, die Ausbildung in ihrem Gebrauch und soweit zum Schutz der Versicherten vor unvertretbaren gesundheitlichen Risiken erforderlich, die nach dem Stand der Technik zur Erhaltung der Funktionsfähigkeit und der technischen Sicherheit notwendigen Wartungen und technischen Kontrollen (§ 33 Abs. 1 Satz 4 SGB V). Wählen Versicherte Hilfsmittel oder zusätzliche Leistungen, die über das Maß des Notwendigen hinausgehen, haben sie die Mehrkosten und die dadurch bedingten höheren Folgekosten selbst zu tragen (§ 33 Abs. 1 Satz 5 SGB V). Die Gesetzliche Krankenkasse (GKV) ist nämlich lediglich im Rahmen des Wirtschaftlich¬keitsgebots nach § 12 SGB V zur Leistung verpflichtet. Danach müssen die Leistungen ausreichend sein, zweckmäßig und wirtschaftlich. Sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Sofern für eine Leistung ein Festbetrag festgesetzt wurde, erfüllt die Krankenkasse ihre Leistungspflicht mit der Zahlung des Festbetrages (§ 12 Abs. 2 SGB V).

Für Hörgeräte haben die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen als Vorgänger des Spitzenverbandes Bund Festbeträge festgesetzt (Beschluss der GKV-Spitzenverbände über die Festsetzung von Festbeträgen von Hörhilfen vom 23.10.2006, zum 01.01.2007 in Kraft getreten). Ferner hat der Verband der Angestellten-Krankenkassen e. V. und der Arbeiter-Ersatzkassen-Verband e. V. (VdAK/AEV) mit der Bundesinnung der Hörgeräte-Akustiker (BIHA) mit Wirkung ab dem 01.02.2007 einen Versorgungsvertrag gem. § 127 Abs. 1 SGB V geschlossen. Unter Berücksichtigung der Festbeträge wurden Vertragspreise vereinbart. Nach § 3 des Vertrages erhält der Versicherte mindestens zwei eigenanteilsfreie Versorgungsangebote mit analogen, digital programmierbaren oder volldigitalen Hörsystemen der Produktgruppen 13.20.01, 13.20.02 und 13.20.03 entsprechend dem festgestellten Hörverlust einschließlich der erforderlichen Otoplastik. Hierzu hat der Leistungserbringer eigenanteilsfreie Angebote zum "angemessenen Ausgleich des Hörverlustes bei allen Schwerhörigkeitsgraden" vorzusehen. In § 6 des Vertrages ist bestimmt, dass Qualität und Wirksamkeit dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen haben. Unter Berücksichtigung dieser Vereinbarungen sowie der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (Urteil vom 17.12.2009, B 1 KR 20/08 R) hat der Leistungserbringer dem Versicherten ein Hörgerät anzubieten, dass den Hörverlust so weitgehend wie möglich ausgleicht; die Krankenkassen müssen abzüglich der gesetzlichen Zuzahlung in Höhe von 10,00 Euro für die Kosten aufkommen.

Wenn es nämlich darum geht, eine ausgefallene oder beeinträchtigte Körperfunktion selbst auszugleichen, gilt das Gebot eines möglichst weitgehend Ausgleichs des Funktionsdefizits und zwar unter Berücksichtigung des aktuellen Stands des medizinischen und technischen Fortschritts. In diesem Zusammenhang ist unerheblich, ob ein Grundbedürfnis des täglichen Lebens betroffen ist, weil sich die unmittelbar auszugleichende Funktions¬beeinträchtigung selbst immer schon auf ein Grundbedürfnis bezieht, denn die Erhaltung bzw. Wiederherstellung einer Körperfunktion ist als solche ein Grundbedürfnis. Die Krankenkassen können daher die Versorgung mit einem fortschrittlichen, technisch weiterentwickelten Hilfsmittel nicht mit der Begründung ablehnen, der bisher erreichte Versorgungsstandard sei ausreichend, solange ein Ausgleich der Behinderung nicht vollständig im Sinne des Gleichziehens mit einem nicht behindertem Menschen erreicht ist (BSG, SozR 4 – 2500 § 33 Nr. 8).

Das vom Kläger begehrte Hörgerät ist vor diesem Hintergrund erforderlich, da es unter Berücksichtigung des Standes der Medizintechnik den Hörverlust so weitgehend wie möglich ausgleicht. Der technische Sachverständige hat bei dem Kläger festgestellt, dass sein Hörverlust die besondere technische Ausstattung, wie sie das ausgewählte Gerät der Firma Siemens aufweist, erfordert. Im Verhandlungstermin konkretisierte er seine Ausführungen dahingehend, dass auch er im Falle einer Versorgung des Klägers diese technische Ausstattung ausgewählt hätte, da nur eine solche Technik, d. h. Mehrkanaligkeit und automatisches Sprach- und Störlärm-Management, eine optimale Angleichung an das Hörvermögen Gesunder erlaubt. Die von der Beigeladenen ausgewählten eigenanteils¬freien Geräte erfüllen hingegen diese Anforderungen nicht. Zunächst ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass eine eindeutige Aussage darüber, welche Diskriminationswerte mit den eigenanteilsfreien Geräten durch den Kläger erzielt wurden, nicht möglich ist. Während die Beigeladene im Rahmen der unmittelbar nach Ausstellung der Hörgeräte-Verordnung erfolgten Anpassungen die eigenanteilsfreien Geräte nicht erwähnt hat, hat sie mit Schreiben vom 19.10.2010 darauf hingewiesen, dass die eigenanteilsfreien, jeweils zweikanaligen Geräte Siemens Infinti Basic und Oticon GO Compact ebenso leistungsstark sind wie das ausgewählte Gerät Siemens Nitro. Der Diskriminationsgewinn hätte in ruhiger Umgebung 50 Prozent betragen. Dieser Wert wird gleichfalls mit dem Gerät Siemens Nitro erzielt, wie der HNO-Sachverständige Dr. W im Rahmen seiner Untersuchung ermittelt hat. Die Beigeladene führt aber selbst aus, dass das Siemens Nitro erhebliche Vorteile im normalen Alltag d. h. unter Berücksichtigung von Störlärm mit sich bringt. Durch das Sprach-Störlärm-Management wird das Sprachver¬stehen deutlich verbessert.

Selbst wenn man davon ausgeht, dass mit den eigenanteilsfreien Geräten ein Diskriminationswert von 50 Prozent erreicht wird, ergibt sich aus den Ermittlungen des HNO-ärztlichen Sachverständigen, dass auch ohne Störschall der Hörverlust mit dem Gerät Siemens CIC Nitro besser ausgeglichen werden kann. So beträgt das Einsilberverstehen im freien Schallfeld bei 65 dB 60 % und bei 80 dB 70 %. Im Störschall hingegen fällt nach den Feststellungen von Dr. W das Einsilberverstehen bei 65 dB von 60 % auf 20 % herab und bei 80 dB von 70 % auf 50 %. Diese Feststellungen stimmen mit den allgemeinen Ausführungen der Beigeladenen überein und verdeutlichen, dass mit dem eingesetzten Gerät eine bessere Angleichung an das Hörvermögen Gesunder ermöglicht wird.

Diese Verbesserung wirkt sich auch im täglichen Leben insgesamt aus und betrifft nicht nur Randbereiche, denn geräuschintensive Situationen treten ständig und in sämtlichen Bereichen des täglichen Lebens auf. Sowohl im Straßenverkehr als auch bei Einkäufen wie in größeren Gesprächsrunden ist das Ohr darauf angewiesen, sich auf bestimmte Geräusche zu konzentrieren. Dies erfordert die möglichst weitgehende Eliminierung von störenden Nebengeräuschen, die - je größer der Hörverlust ist - durch eine bessere Ausstattung des Hörgerätes erreicht werden kann. Darüber hinaus sind auch keine Anhaltspunkte dafür erkennbar, dass es sich um eine Luxusausstattung handelt.

Dieser Versorgungsbedarf gilt auch im Rahmen der Festbetragsregelung. Diese stellt sich als besondere Ausprägung des Wirtschaftlichkeitsgebots dar, entbindet nach der Recht-sprechung des Bundessozialgerichts (BSG, Urteil vom 17.12.2009, B 3 KR 20/08 R, SozR 4-2500 § 36 Nr. 2) die Krankenkasse aber nicht von ihrer Sachleistungs-verantwortung.

Seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der GKV (GKV-WSG v. 26.03.2007, BGBl I, 378) wirken die Festbeträge nach § 127 Abs. 4 SGB V beschränkend auf die Vergütungen im Rahmen der seit dem 01.04.2007 für die Hilfsmittelversorgung mit Leistungserbringern nach § 127 Abs. 1 bis 3 SGB V abzuschließenden Verträge, wonach Preise höchstens bis zur Höhe des Festbetrags vereinbart werden können, wenn für das Hilfsmittel ein Festbetrag festgesetzt worden ist. Rechtsgrundlage der preisbegrenzenden Wirkung ist § 36 SGB V. Ziel dieser Regelungen ist es, einen wirksamen Preiswettbewerb auszulösen, wobei Wirtschaftlichkeitsreserven ausgeschöpft werden sollen.

Allerdings berechtigen diese Befugnisse nicht zu Einschränkungen des GKV-Leistungskatalogs, sondern nur zu Leistungsbegrenzungen im Hinblick auf die Kostengünstigkeit der Versorgung. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seiner Entscheidung vom 17.12.2002 (BVerfGE 106, 275) keine grundsätzlichen verfassungs-rechtlichen Bedenken gegen die Festbetragsregelungen erhoben. Es wurde allerdings darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber das Sachleistungsprinzip nicht aufgegeben habe und der Gesetzestext keine Stütze für die in den Gesetzesmaterialien zum Ausdruck gebrachte Annahme biete, dass Versicherte insbesondere in der Anfangsphase der Regelung notwendige Leistungen nur mit Zuzahlung erhalten könnten. Sofern der Gesetzgeber den Versicherten an notwendigen Leistungen mit Eigenanteilen beteiligen will, muss er dies selbst regeln, mit der Folge, dass ein Festbetrag für ein Hilfsmittel dann keine Leistungsbegrenzung bewirkt, soweit für den Ausgleich der konkret vorliegenden Behinderung das für den Festbetrag erhältliche Hilfsmittel nicht ausreicht (BSG SozR 4 – 2500 § 33 Nr. 1 Rd. Nr. 13).

Nach den Ausführungen des BSG ist die Festsetzung eines Festbetrages objektiv ausreichend, wenn die Vergütung - von atypischen Ausnahmefällen abgesehen - die erforderliche Versorgung prinzipiell jedes betroffenen Versicherten abdeckt (SozR 4-2500 § 36 Nr. 2).

Auch wenn vorliegend die Festbetragsfestsetzung, die sich rechtlich als Allgemein-verfügung darstellt, nicht der unmittelbaren Überprüfung des Gerichts unterliegt, kann für den hier anzuwendenden Versorgungsvertrag nichts anderes gelten. Die Vertragsparteien sind auf der Basis des § 127 SGB V gehalten, die gesetzlichen Bestimmungen so umzusetzen, dass keine Einschränkungen im Leistungskatalog auftreten. Der Versicherte darf folglich nicht dadurch schlechter gestellt werden, dass die Krankenkassen mit den Leistungserbringern eine Versorgungspauschale für alle Schwerhörigkeitsgrade vereinbart haben, wenn entweder der Leistungserbringer für die Hörstörung des Versicherten ein unzureichendes eigenanteilsfrei erhältliches Gerät auswählt, obgleich er ein solches aus seinem Sortiment zur Verfügung hätte stellen können, oder die vorgesehene Versor¬gungspauschale objektiv nicht ausreicht, um dem Versicherten das erforderliche technisch hochwertige Gerät zum weitestgehenden Ausgleich seiner Behinderung zur Verfügung zu stellen.

Letztlich kann dahingestellt bleiben, ob die Beigeladene den Versorgungsvertrag zutreffend ausgelegt und entsprechend ihren Verpflichtungen die Versorgung des Klägers unter Berücksichtigung seiner Bedürfnisse durchgeführt hat. Denn die Beklagte ist bereits deshalb zur Kostenerstattung verpflichtet, weil sie ihre Sachleistungsverantwortung nicht erkannt und wahrgenommen hat und die Versorgung mit einem eigenanteilsfreien Gerät, wie es von der Beigeladenen angeboten worden ist, den Bedürfnissen des Klägers nicht entsprach.

Gegen die zutreffende Vertragsauslegung durch die Beigeladene spricht, dass zunächst eine beidohrige Versorgung angedacht wurde, die – dies ergibt sich aus den Feststellungen des Sachverständigen – für den Kläger nicht geeignet war. Darüber hinaus lässt die Dokumentation erkennen, dass nicht sorgfältig geprüft und getestet wurde, ob der Kläger tatsächlich mit eigenanteilsfreien Geräten versorgt werden kann. Wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte die Beigeladene auch schon während der Erprobung, die im Herbst 2007 begonnen hat, auf die entsprechende Testung und deren Ergebnisse hingewiesen. Die Beigeladene kann sich in diesem Zusammenhang auch nicht darauf berufen, dass sie nach dem Versorgungsvertrag lediglich zu einer "angemessenen und ausreichenden" Versorgung verpflichtet ist. Die Auslegung dieser unbestimmten Rechtsbegriffe haben die Leistungserbringer unter Berücksichtigung der leistungsrechtlichen Verpflichtungen der Krankenkassen im Rahmen des unmittelbaren Behinderungsausgleichs vorzunehmen. Sie dürfen sich nicht auf den Standpunkt zurückziehen, eine geeignete Versorgung im Sinne der vertraglichen Bestimmungen sei bereits dann gegeben, wenn die Diskrimination mit Hörgerät gegenüber derjenigen ohne Hilfsmittel um 20% ansteigt, wie dies in den Hilfsmittelrichtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses als Eignungsvoraussetzung einer Hörgeräteversorgung formuliert wird (§ 21 Abs. 2 S. 2 Hilfsmittel-RL). Damit trifft den Leistungserbringer, der für die GKV die notwendige Versorgung durchführt, die Verpflichtung zur Auswahl eines Hilfsmittels, das den Hörverlust möglichst weitgehend ausgleicht. Er fungiert als Gehilfe der GKV, die ihre Verpflichtung aus § 33 SGB V gegenüber dem Versicherten zu erfüllen hat, und steht damit im Lager der Krankenkasse, die sich etwaiges fehlerhaftes Verhalten zurechnen lassen muss. Dieses Prinzip ist dem Recht der GKV nicht unbekannt. So ist in der Rechtsprechung des BSG anerkannt, dass es sich nicht zum Nachteil des Versicherten auswirken darf, wenn beispielsweise eine ärztliche Feststellung von Arbeitsunfähigkeit allein aus Gründen unterbleibt, die dem Verantwor¬tungsbereich des Vertragsarztes oder der sonstigen zur Sicherstellung der vertragsärzt¬lichen Versorgung berufenen Personen oder Einrichtungen zuzuordnen sind (BSG, SozR 2200 § 182 Nr. 84; SozR 4-2500 § 46 Nr. 1) Entsprechendes muss gelten, wenn der Leistungserbringer durch seine unzutreffende Vertragsauslegung den Leistungsanspruch des Versicherten faktisch verkürzt. Ob und unter welchen Voraussetzungen der Leistungserbringer einem Rückforderungsanspruch der Krankenkasse ausgesetzt sein kann und wann sich der Versicherte auf der Grundlage des zivilrechtlichen Auftrags¬verhältnisses bei dem Leistungserbringer z.B. wegen fehlerhafter Beratung schadlos halten kann, hängt davon ab, ob die Krankenkasse in die Versorgung bereits eingebunden war und Gelegenheit hatte, ihre Sachleistungsverantwortung wahrzunehmen. Wenn dies wie vorliegend der Fall ist, muss sie sich die fehlerhafte Auswahl bei der Konkretisierung des Hilfsmittelanspruchs zurechnen lassen. Schaltet sie sich hingegen in die Versorgung ein, ermittelt in eigener Zuständigkeit und legt gegenüber dem Versicherten und dem Leistungserbringer die Notwendigkeit einer hochwertigeren Versorgung im Rahmen der Pauschale dar, könnten diese (berechtigten) Einwände auch bei einem späteren gerichtlichen Verfahren gegenüber dem Versicherten geltend gemacht werden, da dieser die Möglichkeit gehabt hätte, entweder den bisherigen Vertragspartner um weitere Versorgungsvorschläge zu bitten oder sich bei einem anderen Leistungserbringer zu erkundigen. Hatte die Krankenkasse hingegen keine Kenntnis von der Erforderlichkeit einer Versorgung oberhalb der vereinbarten Pauschalen, kann die Rückzahlung des bereits gezahlten Eigenanteils an den Versicherten in Betracht kommen, wenn der Leistungserbringer seinen Beratungspflichten, hierzu kann auch der Hinweis auf eine gezielte Antragsstellung bei der Krankenkasse zur Versorgung mit Hörgeräten oberhalb der Pauschale gehören, nicht ordnungsgemäß nachkommt. Nach Auffassung der Kammer kann nur auf diese Weise der vom Gesetzgeber gewünschte Wettbewerb einerseits mit den berechtigten Sachleistungsansprüchen der Versicherten andererseits in Einklang gebracht werden.

Für den Fall des Klägers steht fest, dass die Beklagte ihre Sachleistungsverantwortung trotz Kenntnis nicht wahrgenommen hat und dass das letztlich ausgewählte Hörgerät den Hörverlust deutlich besser ausgleicht als die eigenanteilsfreien Geräte. Bereits deshalb stellt sich die angefochtene Entscheidung als rechtswidrig dar, so dass der Kläger den Weg der Selbstbeschaffung beschreiten durfte. Die Frage, ob sich aus dem Versuch einer beidohrigen Versorgung und der lückenhaften und teilweise falschen Dokumentation ein Rückforderungsanspruch der Beklagten gegenüber der Beigeladenen ergibt, hatte die Kammer nicht zu prüfen.

Die Beklagte kann sich auch nicht darauf berufen, der Kläger habe offensichtlich von Beginn an keine eigenanteilsfreie Versorgung gewünscht mit der Folge, dass die Mehrkosten der Versorgung nunmehr von ihm zu tragen sind. Der Kläger hat bereits mit dem Widerspruch deutlich gemacht, einen möglichst weitgehenden Ausgleich seines Hörverlustes erreichen zu wollen. Dieses Begehren ist vor dem Hintergrund der bereits zitierten Rechtsprechung des BSG berechtigt und kann nicht dazu führen, dass der Leistungsanspruch des Versicherten deshalb verneint wird, weil auf der Empfangs-bestätigung angegeben wird, dass eine Versorgung oberhalb der Vertragspauschale gewünscht wird, um entsprechend der Verpflichtung der Beklagten den Leistungsanspruch sachgerecht zu erfüllen. Die Beklagte verkennt bei dieser Argumentation, dass der Versicherte, der auf eine möglichst zeitnahe Versorgung mit Hörgeräten angewiesen ist, nicht beurteilen kann, ob der Akustiker in seinem Fall die eigenanteilsfreie Versorgung lediglich falsch ausgewählt hat oder ob die Versorgung seiner Schwerhörigkeit so komplex ist, dass mit der Versorgungspauschale geeignete Geräte nicht vorgehalten werden können. Indem der Kläger mit dem handschriftlichen Vermerk eindeutig zu erkennen gegeben hat, mit einer Zahlung der Mehrkosten nicht einverstanden zu sein, hat er seinem berechtigten Begehren, im Rahmen des § 33 SGB V möglichst weitgehend nach dem Stand der Technik versorgt zu werden, Ausdruck verliehen. Hieraus kann ihm im Nachhinein kein Nachteil erwachsen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG. Eine Verurteilung der Beklagten zur Erstattung außergerichtlicher Kosten der Beigeladenen kam nicht in Betracht. Anlass zur Klageerhebung hatte der Kläger nicht nur durch die Entscheidung der Beklagten. Hieran beteiligt war ebenso die Beigeladene, die irrtümlich von einer weniger umfangreichen Verpflichtung im Rahmen des § 33 SGB V ausging.
Rechtskraft
Aus
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