L 1 R 253/11

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Rentenversicherung
Abteilung
1
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 46 R 90187/08
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 1 R 253/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 30. Juni 2011 wird aufgehoben und der Rechtsstreit an das Sozialgericht Magdeburg zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Sozialgericht vorbehalten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Beteiligten streiten über die Aufhebung eines Rentenbescheides und die Rückforderung einer Überzahlung von 24.945,78 EUR.

Die am ... 1952 geborene Klägerin beantragte am 8. März 1993 Leistungen zur Rehabilitation. Am 3. Februar 1994 beantragte sie die Gewährung einer Rente wegen Berufsunfähigkeit/Erwerbsunfähigkeit. Mit Bescheid vom 10. März 1997 bewilligte die Beklagte der Klägerin ab dem 1. März 1993 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Im Januar 1999 leitete die Beklagte ein Verfahren zur Nachprüfung der Erwerbsunfähigkeitsrente ein und holte u. a. das Gutachten des Dr. H. vom 26. September 2001 nach Untersuchung der Klägerin am 25. September 2001 ein. Mit Schreiben vom 22. November 2001 hörte sie die Klägerin zu einer beabsichtigten Aufhebung der Rentenzahlung für die Zukunft an, da sie auf den allgemeinen Arbeitsmarkt tätig sein könne. Mit Bescheid vom 8. August 2002 hob die Beklagte ihren Bescheid vom 2. März 2001 über den Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit mit Wirkung ab dem 1. Februar 2002 gem. § 48 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) auf, da die Voraussetzungen für die bewilligte Rente nicht mehr vorliegen würden. Die Klägerin arbeite in einer zumutbaren Tätigkeit als Kassiererin. Den hiergegen am 24. September 2002 eingelegten Widerspruch wertete die Beklagte als Antrag auf Überprüfung nach § 44 SGB X und lehnte mit Bescheid vom 4. November 2002 die Rücknahme ihres Aufhebungsbescheides ab. Den hiergegen am 30. November 2002 eingelegten Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 6. August 2003 zurück. Die Klägerin sei nicht berufsunfähig, da sie die zumutbare Beschäftigung als Verwaltungsangestellte (Bürohilfskraft) nach der Vergütungsgruppe IX BAT vollschichtig verrichten könne.

Aufgrund einer Beitragsänderung in der Krankenversicherung erließ die Beklagte einen Bescheid vom 15. Juni 2004. Hierin teilte sie der Klägerin mit, dass ihre "bisherige Rente wegen Erwerbsunfähigkeit" ab dem 1. Juli 2002 neu berechnet werde und zahlt die Rente ab dem 1. August 2004 zuzüglich einer Nachzahlung für den Zeitraum davor wieder aus.

Am 17. Oktober 2007 fiel der Beklagten bei der Kontenprüfung auf, dass sie die Rente ohne Rechtsgrund zahlte. Mit Schreiben vom 15. Januar 2008 hörte sie die Klägerin über eine beabsichtigte Rückforderung des überzahlten Betrages von 24.945,78 EUR an. Hierauf erwiderte die Klägerin mit Schreiben vom 30. Januar 2008, sie habe sich gewundert, dass mit dem Bescheid am 15. Juni 2004 die nicht mehr vorhandene Rente rückwirkend neu berechnet worden sei. Sie habe am 21. Juni 2004 mit der Bitte um Abklärung bei der Beklagten angerufen und man habe ihr wörtlich gesagt: "Das wird schon seine Richtigkeit haben".

Mit Bescheid vom 6. Februar 2008 stellte die Beklagte für die Zeit von Juli 2002 bis Oktober 2007 eine Überzahlung in Höhe von 24.945,78 EUR fest, die von der Klägerin zu erstatten sei. Auch die vorzunehmende Ermessungsausübung führe zu keinem anderen Ergebnis. Hiergegen legte die Klägerin am 21. Februar 2008 Widerspruch ein und führte aus, sie habe am 21. Juni 2004 bei der Beklagten angerufen und ihr sei mitgeteilt worden, dass es seine Richtigkeit haben würde. Da es sich bei dem Bescheid vom 15. Juni 2004 um ein amtliches Schreiben gehandelt habe und sie die positive Auskunft am Telefon erhalten habe, habe sie darauf vertraut, dass alles seine Richtigkeit hätte. Mit Ergänzungsbescheid zum Bescheid vom 6. Februar 2008 vom 11. April 2008 nahm die Beklagte den Bescheid vom 15. Juni 2004 mit Wirkung ab dem 1. Juli 2002 nach § 45 SGB X zurück. Da kein neuer Rentenantrag gestellt worden sei, sei für die Klägerin erkennbar gewesen, dass der Rentenbescheid und die Rentennachzahlungen ohne Rechtsgrund erfolgt seien. Auch im Wege des Ermessens sei die Bescheidrücknahme gerechtfertigt. Die offensichtliche Fehlerhaftigkeit des Bescheides sei für die Klägerin dadurch erkennbar gewesen, dass im Bescheid die Aussage über die erneute Anerkennung eines Rentenanspruches völlig fehle. Mit einem Erläuterungsschreiben vom 23. Mai 2008 stellte die Beklagte den Sachverhalt nochmals dar und fragte an, ob der Widerspruch aufrechterhalten bleiben solle.

Mit Widerspruchsbescheid vom 29. Oktober 2008 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin zurück. Der Rentenbescheid sei ohne Rechtsgrund erlassen worden und die Klägerin habe dies erkennen können. Zwar liege ein eigenes Mitverschulden vor, dieses trete aber hinter dem Verschulden der Klägerin (Empfang einer Leistung ohne Antrag) zurück.

Die Klägerin hat am 1. Dezember 2008 Klage vor dem (ehemaligen) Sozialgericht Stendal erhoben (nunmehr Sozialgericht Magdeburg –SG–). Die Aufhebung des Rentenbescheids sei nicht zulässig, da sie sich nichts vorzuwerfen habe. Sie habe schließlich bei der Beklagten angerufen. Sie habe sich auch nicht gewundert, dass die Rente ohne weitere medizinische Überprüfung bewilligt worden sei, denn dies sei bisher auch so gewesen. Daher habe sie habe auf die Richtigkeit der Rentenbescheide vertrauen dürfen. Das SG hat mit Schreiben vom 7. Juni 2011 den Beteiligten mitgeteilt, dass es eine Entscheidung durch Gerichtsbescheid in Betracht ziehe, und ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme binnen drei Wochen gegeben. Mit Gerichtsbescheid vom 30. Juni 2011 hat das SG die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es insbesondere ausgeführt, der Klägerin sei grobe Fahrlässigkeit vorzuwerfen. Sie habe mitgeteilt, dass sie sich über den Bescheid vom 15. Juni 2004 gewundert habe. Damit habe sie selbst ihre Bösgläubigkeit vorgetragen. Der etwaige Anruf bei der Beklagten und der Inhalt des Gespräches seien nicht nachgewiesen. Insoweit trage die Klägerin die Beweislast. Aber selbst wenn man ihren Vortrag als wahr unterstelle, ändere dies im Ergebnis nichts, denn man habe ihr die Antwort gegeben, dass alles schon seine Richtigkeit haben werde. Dies sei gerade keine Auskunft, auf die man sich berufen könne. Sich mit dieser Antwort zufrieden zu geben und nichts weiter zu veranlassen, erfülle den Tatbestand der groben Fahrlässigkeit. Ferner hätte es für sie völlig unverständlich sein müssen, dass man ihr ohne weitere Begutachtung wieder Rente bewilligte, obwohl man sie vorher abgelehnt habe. Ihre Angabe, dass dies bei der Beklagten bisher auch so war, sei falsch, da sowohl die Bewilligung als auch die Rentenentziehung jeweils aufgrund eines Gutachtens erfolgt seien.

Gegen den am 11. Juli 2011 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 9. August 2011 Berufung eingelegt. Aus dem Rentenbescheid vom 15. Juni 2004 hätten sich für sie keine erkennbaren Mängel ergeben, sodass dessen Unrichtigkeit für ihr Einsichtsvermögen nicht ohne Weiteres erkennbar gewesen sei, zumal ihre Zweifel durch das geschilderte Telefonat zerstreut worden seien.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 30. Juni 2011 und die Bescheide der Beklagten vom 6. Februar 2008 und vom 11. April 2008 in der Gestalt ihres Widerspruchsbescheides vom 29. Oktober 2008 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 30. Juni 2011 zurückzuweisen.

Der Senat hat die Beteiligten im Hinblick auf eine beabsichtigte Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung und eine Zurückverweisung an das SG nach § 159 Sozialgerichtsgesetz (SGG) angehört.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichts- und Verwaltungsakten Bezug genommen, die dem Senat bei der Beratung vorgelegen haben.

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Berufung ist im Sinne einer Zurückverweisung begründet. Hierüber konnte der Senat gemäß §§ 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil sich die Beteiligten hiermit einverstanden erklärt haben.

Der Gerichtsbescheid des SG vom 30. Juni 2011 war aufzuheben und der Rechtsstreit an das SG zurückzuverweisen. Nach § 159 Abs. 1 Nr. 2 SGG kann das Landessozialgericht durch Urteil die angefochtene Entscheidung aufheben und die Sache an das Sozialgericht zurückverweisen, wenn das Verfahren an einem wesentlichen Mangel leidet. Ein Verfahrensmangel im Sinne dieser Norm ist gegeben, wenn ein Verstoß gegen eine das Gerichtsverfahren regelnde Vorschrift vorliegt. Wesentlich ist dieser Verfahrensmangel, wenn die Entscheidung des SG darauf beruhen kann (Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Aufl. 2008, § 159 Rdnr. 3, 3 a m.w.N.).

Die Entscheidung des SG leidet an einem wesentlichen Verfahrensmangel, denn es hat verfahrensfehlerhaft durch Gerichtsbescheid entschieden. Diese Entscheidungsform setzt gem. § 105 Abs. 1 Satz 1 SGG voraus, dass die Sache keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Hier kommt es unter anderem auf den subjektiven Tatbestand der groben Fahrlässigkeit an, der nicht hinreichend geklärt ist. Die Klägerin muss unter Berücksichtigung ihrer individuellen Einsicht- und Urteilsfähigkeit ihre Sorgfaltspflichten in außergewöhnlich hohem Maß, das heißt in einem das gewöhnliche Maß an Fahrlässigkeit erheblich übersteigendem Ausmaß verletzt haben. Ob ein Kennenmüssen zu bejahen ist, ist unter Berücksichtigung aller Umstände, insbesondere der Persönlichkeit des Betroffenen und seines Verhaltens zu entscheiden. Ausschlaggebend für die zu beurteilende Erkennbarkeit eines Fehlers ist der individuelle Verständnishorizont des Begünstigten, auf dessen Ermittlung nicht verzichtet werden darf (Schütze in: von Wulffen, SGB X Kommentar, 7. Aufl. 2010, § 45 Rdnr. 58). Im vorliegenden Fall ist es zur Aufklärung des subjektiven Tatbestandes unumgänglich, vor einer Entscheidung in einem Gerichtstermin einen persönlichen Eindruck von der Klägerin zu gewinnen. Soweit das erstinstanzliche Gericht die grobe Fahrlässigkeit bereits daraus geschlossen hat, dass die Klägerin schriftlich vorgetragen habe, sie habe sich über den Bescheid vom 15. Juni 2004, mit dem ihr wieder Rente bewilligt worden war, gewundert, reicht dies nicht zur Feststellung einer groben Fahrlässigkeit. Die grobe Fahrlässigkeit kann dann auch nicht – wie das SG meint – im Wege einer Beweislastentscheidung angenommen werden. Soweit sich das SG auf den schriftlichen Vortrag der Klägerin bezieht, man habe ihr telefonisch mitgeteilt, dass alles "schon seine Richtigkeit haben" werde, reicht dies ebenfalls nicht zur Feststellung des subjektiven Tatbestandes.

In einem solchen Fall ist das SG verpflichtet durch Urteil, d. h. in der Besetzung mit einem hauptamtlichen Richter und zwei ehrenamtlichen Richtern, zu entscheiden. Da das SG dies verkannt hat, liegt zugleich eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Prinzips des gesetzlichen Richters vor. Zudem dürfte auch die vorgeschriebene Anhörung zu dem Gerichtsbescheid fehlerhaft und somit zugleich auch der Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt worden sein.

Der Senat hat sich im Rahmen seines Ermessens gemäß § 159 SGG entschieden, die angefochtene Entscheidung aufzuheben und die Sache an das SG zurückzuverweisen, weil das Verfahren erst kurze Zeit in der Berufungsinstanz anhängig ist.

Das Sozialgericht wird auch über die Kosten zu entscheiden haben.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG bestehen nicht.
Rechtskraft
Aus
Saved