L 6 U 58/11

Land
Sachsen-Anhalt
Sozialgericht
LSG Sachsen-Anhalt
Sachgebiet
Unfallversicherung
Abteilung
6.
1. Instanz
SG Magdeburg (SAN)
Aktenzeichen
S 46 U 163/10
Datum
2. Instanz
LSG Sachsen-Anhalt
Aktenzeichen
L 6 U 58/11
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Streitig ist im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens, ob dem Kläger wegen der Folgen eines Arbeitsunfalls Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um mindestens 20 vom Hundert (vH) zu gewähren ist.

Der 1948 geborene Kläger erlitt am 30. Juni 1971 als Fahrer eines LKW´s einen Verkehrsunfall. Nach der hierzu erstellten Unfallanzeige hatte er den Auftrag, Formereisand zu transportieren. Auf der Landstraße sei ihm ein Bus mit Anhänger entgegengekommen. Dieser habe bremsen müssen, so dass der Anhänger zur Fahrbahnmitte ausgeschert sei. Um einen Zusammenstoß zu vermeiden, habe er seinen "Kipper" nach rechts gezogen, wodurch er gegen einen Baum gefahren und aus dem Wagen geschleudert worden sei. Hierbei habe er Prellungen an Hüfte und Hinterkopf erlitten, die im Krankenhaus Altstadt M. behandelt worden seien. Nach seinen späteren Angaben sei der Kläger noch am selben Tag entlassen und am nächsten Tag durch den Werksarzt eine 14tägige Arbeitsunfähigkeit festgestellt worden. Therapien seien nicht erfolgt.

Mit einem am 19. März 2004 eingegangenen Schreiben wandte sich der Kläger an die – damalige – Berufsgenossenschaft für Fahrzeughaltungen (BGF), die den Vorgang zuständigkeitshalber an die Rechtsvorgängerin der Beklagten (nachfolgend: die Beklagte) abgab. Der Kläger berichtete in seinem Schreiben über den Unfall sowie in der Folge auftretende Schlafstörungen mit Träumen vom Unfallgeschehen und Angstgefühlen. Da das Unternehmen für ihn zunächst keinen neuen LKW gehabt habe, sei er vorerst zu Hilfsarbeiten eingeteilt worden. Nach einem Dreivierteljahr habe man ihn als Zweitfahrer für einen Schwerlasttransport eingesetzt. Wenige Minuten nach erstmaliger Übernahme des Fahrzeugs sei es zu einem stetig zunehmenden Gefühl der Unsicherheit und Angst gekommen, so dass er die Fahrt habe unterbrechen müssen. Einige Zeit später sei ihm ein LKW im Fernverkehr anvertraut worden. Anfänglich habe es keine Probleme gegeben, jedoch sei es nach einigen Monaten wieder zu Gefühlen der Unsicherheit und Angst gekommen. Er habe dann einen Parkplatz aufgesucht und nach einigen Minuten seine Fahrt fortsetzen können. Da sich diese Episoden verstärkt hätten, habe er 1978 beschlossen, nicht mehr im Fernverkehr, sondern im M.er Umland erneut Kipper zu fahren. Anfänglich sei es ihm besser gegangen; er habe aber auch hier Tage gehabt, an denen er kaum zu fahren in der Lage gewesen sei. Nach der Abwicklung des Unternehmens 1989 sei er einige

Monate arbeitslos gewesen und habe dann eine Anstellung im Fernverkehr gefunden. Nach einigen Wochen habe er eine zunehmende Nervosität und schnelle Abnahme seiner Konzentration bemerkt. Auch innere Unruhe und Schlafstörungen seien wiedergekehrt. Zuletzt – nach späteren Angaben im Mai 1998 – habe er sein Fahrzeug auf der A 2 anhalten und abstellen müssen. Nach 14tägiger Arbeitsunfähigkeit sei es auf der PKW-Fahrt in den Urlaub zu einem ähnlichen Zusammenbruch gekommen. Nunmehr bestehe seit Mai 1998 Arbeitsunfähigkeit. Bereits seit 1990 habe er sich mehrfach im Krankenhaus zu therapeutischen Maßnahmen aufgehalten und in der Zwischenzeit vier Suizidversuche unternommen. Dem Schreiben waren u.a. ein Arztbrief des Psychologen Dr. P. vom 30. Juli 1999, wonach sich aufgrund testpsychologischer Untersuchungen Hinweise auf eine zerebrale Insuffizienz ergeben hätten, sowie der aufgrund eines Suizidversuchs am 5. August 2001 erlassene Unterbringungsbeschluss des Amtsgerichts M. vom 6. August 2001 beigefügt.

Die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dr. G. gab unter dem 12. Mai 2004 an, den Kläger erst seit dem 24. März 1999 zu behandeln. Von einem Unfall habe er ihr nicht berichtet. Die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Prof. Dr. K. berichtete unter dem 20. Juli 2004, sie habe den Kläger im Zeitraum von Juli bis Dezember 1998 wegen einer neurotischen Persönlichkeitsstörung mit massiver Fehlentwicklung sowie Angst- und Panikattacken ambulant behandelt. Über ein Unfallgeschehen sei aus ihren Unterlagen nichts zu entnehmen. In dem (beigezogenen) im Unterbringungsverfahren von Priv. Doz. Dr. B. und Dr. K. erstellten ärztlichen Zeugnis vom 6. August 2001 wird von dem am Vortag bei einem Blutalkoholspiegel von 3,2 Promille mittels Tabletten unternommenen Suizidversuch berichtet. Der Kläger habe angegeben, seit 1995 an Nervenzusammenbrüchen zu leiden. Bereits 1996 und 1998 habe er versucht, sich das Leben zu nehmen, was jeweils durch seine Frau verhindert worden sei. Es bestehe ein suizidales Syndrom. Auslöser hierfür seien finanzielle Sorgen, die Ablehnung einer Erwerbsunfähigkeitsrente sowie die Unfähigkeit Auto zu fahren. Nach Angaben des Klägers bestehe seit etwa drei Jahren eine depressive Symptomatik.

Die Beklagte zog Unterlagen eines Verfahrens über die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bei, die aufgrund eines gerichtlichen Vergleichs vom Oktober 2001 zunächst befristet ab Mai 2001 geleistet wurde und die der Kläger von Mai 2004 an unbefristet erhält. In seinem Gutachten vom 7. September 1999 hatte der Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. G. eine neurotische Fehlentwicklung bei einfacher Persönlichkeitsstruktur, einen leichten Alkoholabusus sowie einen erheblichen Nikotinabusus diagnostiziert. Der Kläger könne vollschichtig Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten, solle jedoch bis zu einer Nachbegutachtung in etwa sechs Monaten nicht als Kraftfahrer eingesetzt werden. In der Anamnese wird angegeben, der Kläger habe 1995 aus Unzufriedenheit über die Entlohnung selbst gekündigt und sei bis Juni 1996 arbeitslos gewesen. Danach sei es ihm nicht gut gegangen. In der Zusammenfassung wird ergänzend ausgeführt, 1997 hätte sich der Kläger als Kraftfahrer krank gefühlt. Er sei fertig gewesen; es seien auch Ängste hochgekommen. Vordergründig habe aber körperliches Versagen bestanden. Der Unfall von 1971 findet im Gutachten ebenso wenig Erwähnung wie Ängste im Zusammenhang mit der Kraftfahrertätigkeit vor 1997.

Weiterhin hatten die Dres. D. und B. im Rentenverfahren das Gutachten vom 7. Dezember 2000 erstellt, von denen die Diagnosen bipolare Depression (ICD-10: F 34.1) und Angststörung mit Panikattacken (ICD-10: F 41.0) genannt worden sind. Die Schilderung der für die Begutachtung relevanten Beschwerden beginnt mit der Kündigung des Klägers wegen Unregelmäßigkeiten bei der Lohnzahlung im Mai 1995. Ferner berichtet dieser über einen Vorfall im Juli 1995, als es auf einer Fahrt mit dem PKW zu Unwohlsein mit Schweißausbrüchen und Ängsten vor einem Unfall gekommen sei. Danach habe er für 1 ½ Jahre beim Autofahren immer starke Angstgefühle gehabt. Im Jahre 1997 hätten sich diese Beschwerden gebessert, so dass er ab November 1997 wieder als LKW-Fahrer gearbeitet habe. Im Mai 1998 sei es zu einem "Zusammenbruch" gekommen: Wegen starker Konzentrationsstörungen, Schweißausbrüchen und Unsicherheit habe er eine Fahrt unterbrechen müssen und nur auf Drängen seines Chefs mit langsamer Geschwindigkeit fortsetzen können. Einige Wochen später habe auf einer Urlaubsfahrt mit dem PKW ein ähnliches Ereignis stattgefunden. Nach vorübergehender Besserung fahre er nur noch selten Auto, verschiebe Fahrten auf verkehrsarme Zeiten und mache dann viele Pausen. Zur Berufsanamnese ist im Gutachten festgehalten, dass der Kläger 1969 einen schweren LKW-Unfall erlitten habe, bei dem er aus dem Fahrzeug geschleudert worden sei. Außer Prellungen an der Wirbelsäule und einer Kopfplatzwunde habe er sich aber keine Verletzungen zugezogen. Über dieses Unfallereignis habe er nicht nachdenken können; er habe es wohl verdrängt. Bereits 1977 oder 1978 habe er schon kurze Phasen gehabt, in denen er sich beim LKW-Fahren für ca. 15 Minuten schlecht gefühlt habe. Ein Zusammenhang zwischen dem geschilderten Unfall, den Beschwerden in den 1970er Jahren und der aktuellen Symptomatik wird im Rahmen des Gutachtens nicht diskutiert.

Ebenfalls im Rentenverfahren war die Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie Dipl.-Med. F. in ihrem Gutachten vom 16. April 2003 zu den Diagnosen gelangt: rezidivierende depressive Störung (reaktiv) – gegenwärtig leichte Episode, Alkoholmissbrauch – Abhängigkeit nicht sicher auszuschließen, alkoholtoxischer Leberschaden und Nikotinabhängigkeit. In ihrem Gutachten vom 24. Oktober 2003 hatten die Diagnosen auf rezidivierende depressive Störung – gegenwärtig leichte bis mittelgradige Episode, sekundäre Alkoholabhängigkeit und alkoholtoxischer Leberschaden gelautet. Gegenüber der Vorbegutachtung im April 2003 sei eine Verschlechterung der Symptomatik zu verzeichnen. Anamnestisch hatte der Kläger auch über seinen Unfall von 1971 berichtet, ohne dass hierzu jedoch Einzelheiten festgehalten worden sind. Gleichzeitig war vom Kläger angegeben worden, seit 1995 unter Angstzuständen beim Autofahren zu leiden und nach der Wiederaufnahme seiner Tätigkeit als LKW-Fahrer im Mai 1998 während einer Fahrt nach K. einen großen Zusammenbruch erlitten zu haben. In der Epikrise des Gutachtens vom 16. April 2003 hatte Dipl.-Med. F. geschildert, der Kläger sei von 1974 bis zur Erkrankung 1998 durchgängig als Berufskraftfahrer tätig gewesen. In den letzten Jahren seiner Berufstätigkeit wären zunehmend Ängste aufgetreten, die schließlich zur Berufsaufgabe geführt hätten. Bereits vor 1995 bestehende Ängste sind nicht erwähnt. Auch ein Zusammenhang zwischen dem Unfall 1971 und den später aufgetretenen Krankheitssymptomen wird nicht angesprochen.

Aus der von der Beklagten beigezogenen Aufstellung über die Zeiten der Arbeitsunfähigkeit des Klägers, die die Zeit vom 1. November 1993 erfasst, ist als erste Arbeitsunfähigkeit aufgrund psychischer Leiden der 7. Mai 1998 dokumentiert (Angstzustände). Die Einträge im Ausweis für Arbeit und Sozialversicherung des Klägers enthalten in der Zeit von 1971 bis 1990 keine Hinweise auf eine nervenärztliche Behandlung.

In seiner beratenden Stellungnahme vom 22. November 2004 gelangte der Neurologe und Psychiater Dr. B. zu der Einschätzung, ein begründeter Anhaltspunkt für einen Zusammenhang zwischen der in den neunziger Jahren in Erscheinung getretenen psychischen Symptomatik des Klägers und dem Unfall 1971 sei nicht gegeben. Bereits die Latenz von 20 Jahren zwischen dem Unfall und den psychischen Symptomen schließe diesen Zusammenhang aus. Auch weise die psychische Symptomatik keine Merkmale auf, die als unfallspezifisch anzusehen seien. In erster Linie handele es sich um eine Depression sowie um einen Alkohol- und Nikotinmissbrauch. Letztere könnten eine hirnorganische Beeinträchtigung bewirken, die damit unfallunabhängig sei.

Mit Bescheid vom 9. Dezember 2004 erkannte die Beklagte den Unfall vom 30. Juni 1971 in der Sache als Arbeitsunfall an und lehnte die Gewährung von Entschädigungsleistungen aus Anlass der beim Kläger bestehenden Persönlichkeitsstörung ab. Beim Unfall habe sich der Kläger Prellungen an Hüfte und Hinterkopf zugezogen. In den 90er Jahren seien eine neurotische Persönlichkeitsstörung, eine hirnorganische Leistungsbeeinträchtigung sowie Alkoholmissbrauch festgestellt worden. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Unfall und diesen Erkrankungen bestehe jedoch nicht.

Seinen hiergegen am 5. Januar 2005 erhobenen Widerspruch begründete der Kläger mit nach dem Unfall bestehenden Schlafstörungen und einem Ereignis wenige Monate nach dem Unfall: Damals habe er sich auf seiner ersten Fernfahrt als Zweitfahrer auf der Rückfahrt von R. befunden. Nach Übernahme des Fahrzeugs sei er bei einsetzendem Regen so unsicher geworden, dass er auf einem Rastplatz eine Pause habe einlegen müssen. Ferner rügte er, dass zwar rentenversicherungsrechtliche Gutachten herangezogen worden seien, die Beklagte jedoch kein unfallversicherungsrechtliches Zusammenhangsgutachten veranlasst habe. Auch sei zu berücksichtigen, dass er nach seinem Unfall schwer traumatisiert gewesen sei, es jedoch 1971 noch keine Traumabehandlung gegeben habe. Mit Widerspruchsbescheid vom 4. März 2005 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück.

Zur Weiterverfolgung seines Anliegens erhob der Kläger am 21. März 2005 vor dem Sozialgericht (SG) Magdeburg Klage (S 23 U 37/05). Das SG holte von dem Facharzt für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Priv. Doz. Dr. G. das Gutachten vom 30. Januar 2006 ein. Dieser stellte folgende Diagnosen: rezidivierende depressive Störung – gegenwärtig remittiert, bei Medikamentenfreiheit (ICD-10-GM-2005 F 33.4), Alkoholabhängigkeitssyndrom mit gegenwärtigem Substanzgebrauch (ICD-10-GM-2005 F 10.24), alkoholbedingte psychische Verhaltensstörungen unter Einschluss eines diskreten psychoorganischen Syndroms bei alkoholtoxischer Hirnschädigung (ICD-10-GM-2005 F10.8). Diese Gesundheitsstörungen bestünden unabhängig vom Unfall. Durch den Arbeitsunfall verursachte Gesundheitsstörungen seien auf seinem Fachgebiet nicht feststellbar. Dieses Ergebnis stützte er im Wesentlichen darauf, dass ausweislich der Unfallanzeige bei dem Unfall nur Prellungen an Hüfte und Hinterkopf festgestellt worden seien. Aufgrund des weiteren Behandlungsverlaufs sei davon auszugehen, dass der Kläger ausschließlich eine Schädelprellung ohne jedwede Hirnbeteiligung erlitten habe. Die vom Kläger beschriebene psychische Veränderung

mit Nachhallerinnerungen und Alpträumen könne auch ohne nachfolgendes Vermeidungsverhalten als kurzzeitige posttraumatische Belastungsstörung gedeutet werden. Diese sei dem Kläger zufolge dann vollständig abgeklungen. Hierfür spreche auch sein weiterer beruflicher Werdegang mit Meisterabschluss Ende der 1980er Jahre. Psychiatrisch-psychotherapeutischer Handlungsbedarf habe erst seit Mitte der 1990er Jahre bestanden. Im Beschwerdezentrum habe eine affektive Störung, wiederholt als Depression bezeichnet, gestanden. Zwischen der depressiven Symptomatik und dem Unfall bestehe keinerlei Zusammenhang. Eine computertomographisch nachgewiesene, leicht den Durchschnittsbereich überschreitende Hirnatrophie stehe in keiner Beziehung zum Unfall. Vielmehr sei sie als Folge eines langjährigen Alkoholmissbrauchs und nunmehr süchtigen Alkoholgebrauchs einzuordnen. Gleichzeitig bestünden Wechselwirkungen zwischen den depressiven Stimmungsschwankungen, den Suizidversuchen sowie dem Alkoholkonsum. Auch die vom Kläger geltend gemachten episodisch auftretenden Ängste in Verbindung mit Unruhe seien in diesem Rahmen zu erklären, könnten jedoch auch durch eine erhebliche klinisch fassbare Herzrhythmusstörung verursacht sein. Psychopathologisch hätten sich keine gerichteten Ängste nachweisen lassen, die das klinische Bild einer Panikattacke erreichten. Auch die vom Kläger angegebenen Ängste bei Autobahnfahrten mit 200 km/h seien nicht als Unfallfolge einzuordnen.

Gegenüber dem Gutachter berichtete der Kläger ausführlich über den Unfallhergang sowie über etwa ein Vierteljahr andauernde Schlafstörungen mit Erinnerungen an den Unfall. Er beschrieb auch den Vorfall auf der Rückfahrt von R. und ferner ein zeitlich nicht näher eingegrenztes, jedoch vor 1990 liegendes Ereignis auf der Autobahn bei E ... Auch die Ereignisse im Mai 1998 auf der Fahrt nach K. und auf der späteren Urlaubsreise nach S. gab der Kläger wieder, ordnete beides jedoch dem Januar 1997 zu. Er selbst hat die beim LKW-Fahren auftretenden Ängste auf den Unfall zurückgeführt. Daneben sei es auch bei einer zeitlich nicht eingeordneten Fahrt mit seinem BMW bei etwa 200 km/h zu Ängsten gekommen, so dass er die Geschwindigkeit auf 80 km/h habe reduzieren müssen (nach den Angaben im Gutachten besaß der Kläger den BMW von 1995 bis 2002).

Mit Urteil vom 6. April 2006 wies das SG die Klage ab. Im dagegen vor dem Senat geführten Berufungsverfahren (L 6 U 69/06) legte der Kläger das Privatgutachten des Facharztes für Psychiatrie L. vom 7. Mai 2008 nebst ergänzender Stellungnahme vom 15. Dezember 2008 sowie das Privatgutachten des Facharztes für Nervenheilkunde G. vom 11. Februar 2009 vor. Der Gutachter L. stellte die Diagnosen einer rezidivierenden Depression (ICD-10: F 33.1) und einer Persönlichkeitsveränderung nach Unfalltrauma (ICD-10: F 62.0). Ein Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis 1971 und dem aktuellen psychischen Zustand sei eindeutig zu bejahen. Zwar sei der Verlauf der Erkrankung "sicherlich ungewöhnlich, aber insgesamt doch schlüssig". Wenn man bedenke, dass 1971 eine adäquate Versorgung von Unfallopfern im heutigen Sinne auf psychiatrischem Fachgebiet nicht erfolgt sei und der Kläger glaubhaft schildere, die Behörden hätten damals ein Interesse daran gehabt, die Ereignisse zu vertuschen, sei es sehr wohl möglich, die beschriebene Persönlichkeitsveränderung ohne direkt feststellbare posttraumatische Belastungsstörung zu erleiden und zu erleben. Auch die Latenz spreche nicht dagegen. Zum Beispiel erlitten auch kriegstraumatisierte Menschen aufgrund dieser Ereignisse oftmals erst im Rentenalter schwere psychische Störungen und Veränderungen. Der Gutachter G. diagnostizierte eine posttraumatische Belastungsstörung (F 43.10 – G), Angst und depressive Störung gemischt (F 41.2 – G) sowie eine Alkoholabhängigkeit (F 10.2 – G). Der Kläger habe bei dem Unfall am 30. Juni 1971 eine posttraumatische Belastungsstörung erlitten, vor deren Hintergrund eine gemischte Angst- und depressive Störung mit Panikattacken entstanden sei. Der unkontrollierte Alkoholkonsum ab 2002 sei Folge einer zunehmenden psychischen Dekompensation und als frustraner Coping-Versuch zu werten. Laut Anamnese hatte der Kläger angegeben, nach dem Unfall habe er zunehmende Angst entwickelt, bei Regenwetter Auto zu fahren. Auch bei trockenen Straßen sei er mit wachsender Entfernung unsicherer geworden. Nach dem Unfall habe er Probleme gehabt, "Kipper" zu fahren und habe deshalb 1972 angefangen, als Fernfahrer zu arbeiten. Anfänglich habe dies gut geklappt; später habe er wieder zunehmende Angst entwickelt, auf nasser Fahrbahn zu fahren. Da er dies auf die langen Fahrstrecken zurückgeführt habe, sei er wieder zu seinem früheren Arbeitsplatz zurückgekehrt, wo er zunächst besser klargekommen sei.

Nachdem der Senat von Priv. Doz. Dr. G. die ergänzenden Stellungnahmen vom 9. Juli und 26. September 2008 sowie vom 26. Juli 2009 eingeholt hatte, wies er die Berufung des Klägers mit rechtskräftigem Urteil vom 5. November 2009 zurück.

Am 6. September 2010 wandte sich der Kläger (mit einer "Dienstaufsichtsbeschwerde") an die Beklagte und bat diese in der Sache darum, ihre Entscheidung unter Berücksichtigung der Gutachten der Herren L. und G. nochmals zu überdenken.

Mit Bescheid vom 23. September 2010 lehnte die Beklagte eine Rücknahme ihres Bescheides vom 9. Dezember 2004 ab. Die durchgeführte Prüfung habe ergeben, dass bei seinem Erlass weder das Recht fehlerhaft angewandt noch von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen worden sei. Der Vortrag des Klägers in seinem Schreiben vom 2. September 2010 enthalte keine (neuen) Gesichtspunkte, die eine andere Entscheidung rechtfertigen würden.

Den hiergegen am 7. Oktober 2010 erhobenen Widerspruch des Klägers wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25. November 2010 als unbegründet zurück.

Am 6. Dezember 2010 hat der Kläger vor dem SG Magdeburg Klage erhoben und an seiner Ansicht festgehalten, wonach insbesondere das Gutachten von Priv. Doz. Dr. G. falsch sei.

Mit Gerichtsbescheid vom 14. Juni 2011 hat das SG die Klage abgewiesen und sich zur Begründung auf die Entscheidung des Senats im Verfahren L 6 U 69/06 bezogen.

Gegen den ihm am 21. Juni 2011 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 1. Juli 2011 beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Berufung eingelegt. Da sein Gesundheitszustand sehr schlecht sei, habe er Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente. Durch das Gutachten von Priv. Doz. Dr. G. sei seine Erwerbsminderung und damit die Rentengewährleistung in Frage gestellt. Dagegen habe insbesondere Herr G. die Sachlage zutreffend erkannt.

Der Kläger beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Magdeburg vom 14. Juni 2011 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23. September 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. November 2010 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihm unter Abänderung des Bescheides vom 9. Dezember 2004 wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 30. Juni 1971 Verletztenrente nach einer MdE um mindestens 20 vH zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie bleibt bei ihrer Auffassung.

Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Rechtsstreits ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der (beigezogenen) Gerichts- und Verwaltungsakten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung des Senats.

Entscheidungsgründe:

Der Senat konnte gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil die Beteiligten sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.

Die nach § 143 SGG statthafte, form- und fristgerecht erhobene (§ 151 Abs. 1 SGG) und auch ansonsten zulässige Berufung hat keinen Erfolg.

Es kann dahinstehen, ob der eigentlichen Überprüfung des bestandskräftigen Bescheides vom 9. Dezember 2004 (vgl. §§ 77, 85, 87 SGG) nach § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch – Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (SGB X) eine gesonderte Prüfung des Wiederaufgreifens des Verfahrens vorausgeht (in diesem Sinne Bundessozialgericht [BSG], Urteil vom 3. April 2001 – B 4 RA 22/00 RSozR 3-2200 § 1265 Nr. 20). Denn dies hätte nicht zur Folge, dass im Falle der Ablehnung des Wiederaufgreifens nur darauf, nicht aber zulässig auch auf die Aufhebung des bestandskräftigen Verwaltungsaktes geklagt werden könnte. Auch für den Fall des Wiederaufgreifens wird nämlich jedenfalls keine gesonderte Entscheidung hierüber verlangt (vgl. BSG, Urteil vom 3. April 2001, a.a.O., wonach die indirekte Verlautbarung mit der Entscheidung über die Aufhebung möglich ist). Besteht aber keine Pflicht zum Erlass eines gesonderten Verwaltungsaktes, kann auch unmittelbar auf die (Verpflichtung zur) Rücknahme geklagt werden, die die Beklagte – nach inhaltlicher Überprüfung ihrer vorausgegangenen Entscheidung – mit Bescheid vom 23. September 2010 abgelehnt hat (vgl. hierzu auch BSG, Urteil vom 5. September 2006 – B 2 U 24/05 RSozR 4-2700 § 8 Nr. 18).

Die danach zulässige Klage ist unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 23. September 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. November 2010 beschwert den Kläger nicht im Sinne der §§ 157, 54 Abs. 2 Satz 1 SGG, weil die Beklagte darin zutreffend die (teilweise) Rücknahme ihres Bescheides vom 9. Dezember 2004 abgelehnt hat. Auf dessen Aufhebung hat der Kläger nach § 44 Abs. 1 Satz 1 SGB X keinen Anspruch, da der Bescheid im Ergebnis weder auf einem fehlerhaften Sachverhalt noch auf einem falschen Rechtsverständnis beruht.

Der Kläger hat nach § 56 Abs. 1 Satz 1 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung keinen Anspruch auf Verletztenrente, weil seine Erwerbsfähigkeit wegen der Folgen des Arbeitsunfalls vom 30. Juni 1971 nicht um mindestens 20 vH gemindert ist. Weder eine posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F 43.1) noch einer andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (ICD-10 F 62.0) sind Unfallfolgen, so dass sich die Frage einer deswegen zu bemessenden MdE nicht mehr stellt. Beide Gesundheitsstörungen sind nach dem insoweit geltenden Beweismaßstab nicht zur vollen Überzeugung des Senats gesichert. Darauf, ob sie mit hinreichender Wahrscheinlichkeit im Wesentlichen durch den angeschuldigten Arbeitsunfall verursacht worden sind, kommt es daher nicht mehr an. Die unfallbedingten Primärschäden sind folgenlos ausgeheilt und bedingen damit keine MdE. Der Senat hält weiterhin die Einschätzung von Priv. Doz. Dr. G. für überzeugend und stützt sich darauf.

Zur Begründung nimmt der Senat auf seine Darlegungen im Urteil vom 5. November 2009 Bezug. Dort hat er ausgeführt:

"Die posttraumatische Belastungsstörung (F 43.1) gehört nach der aktuellen ICD-10-GM Version 2010 (Quelle: Deutsches Institut für medizinische Dokumentation und Information – www.dimdi.de; im Folgenden kurz: ICD-10) zur Gruppe der Reaktionen auf schwere Belastungen und Anpassungsstörungen (F 43.-). Kennzeichnend hierfür ist die Angabe von ein oder zwei ursächlichen Faktoren: Ein außergewöhnlich belastendes Lebensereignis, das eine akute Belastungsreaktion hervorruft, oder eine besondere Veränderung im Leben, die zu einer anhaltenden unangenehmen Situation geführt hat und eine Anpassungsstörung hervorruft. Im Gegensatz zu anderen Störungen des fünften Kapitels der ICD-10 entstehen die Störungen dieses Abschnitts immer als direkte Folge der akuten schweren Belastung oder des kontinuierlichen Traumas. Das belastende Ereignis oder die andauernden, unangenehmen Umstände sind primäre und ausschlaggebende Kausalfaktoren, und die Störung wäre ohne ihre Einwirkung nicht entstanden. Die Störungen dieses Abschnittes werden insofern als Anpassungsstörungen bei schwerer oder kontinuierlicher Belastung angesehen, als sie erfolgreiche Bewältigungsstrategien behindern und aus diesem Grunde zu Problemen der sozialen Funktionsfähigkeit führen. Dabei entsteht die posttraumatische Belastungsstörung (F 43.1) als eine verzögerte oder protrahierte (= verzögert oder über eine längere Zeit hinweg wirkende) Reaktion auf ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer, mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde. Prädisponierende Faktoren wie bestimmte, z. B. zwanghafte oder asthenische Persönlichkeitszüge oder neurotische Krankheiten in der Vorgeschichte können die Schwelle für die Entwicklung dieses Syndroms senken und einen Verlauf erschweren, aber die letztgenannten Faktoren sind weder notwendig noch ausreichend, um das Auftreten der Störung zu erklären. Typische Merkmale sind das wiederholte Erleben des Traumas in sich aufdrängenden Erinnerungen (Nachhallerinnerungen, Flashbacks), Träumen oder Alpträumen, die vor dem Hintergrund eines andauernden Gefühls des Betäubtseins und emotionaler Stumpfheit auftreten. Ferner finden sich Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Teilnahmslosigkeit der Umgebung gegenüber, Freudlosigkeit sowie Vermeidung von Aktivitäten und Situationen, die Erinnerungen an das Trauma wachrufen könnten. Meist tritt ein Zustand von vegetativer Übererregtheit, mit Vigilanzsteigerung, einer übermäßigen Schreckhaftigkeit und Schlafstörungen auf. Angst und Depression sind häufig mit den genannten Symptomen und Merkmalen assoziiert, und Suizidgedanken sind nicht selten. Der Beginn folgt dem Trauma mit einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann. In wenigen Fällen nimmt die Störung über viele Jahre einen chronischen Verlauf und geht dann in eine andauernde Persönlichkeitsänderung (F 62.0) über.

Die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (F 62.0) ist nach der ICD-10 als eine wenigstens über zwei Jahre bestehende Persönlichkeitsänderung nach einer Belastung katastrophalen Ausmaßes definiert. Die Belastung muss so extrem sein, dass die Vulnerabilität der betreffenden Person als Erklärung für die tiefgreifende Auswirkung auf die Persönlichkeit nicht in Erwägung gezogen werden muss. Die Störung ist durch eine feindliche oder misstrauische Haltung gegenüber der Welt, durch sozialen Rückzug, Gefühle der Leere oder Hoffnungslosigkeit, ein chronisches Gefühl der Anspannung wie bei ständigem Bedrohtsein und Entfremdungsgefühl, gezeichnet. Eine posttraumatische Belastungsstörung (F 43.1) kann dieser Form der Persönlichkeitsänderung vorausgegangen sein. Hierunter fallen Persönlichkeitsänderungen nach andauerndem Ausgesetztsein lebensbedrohlicher Situationen, etwa als Opfer von Terrorismus, andauernder Gefangenschaft mit unmittelbarer Todesgefahr, Folter, Katastrophen oder Konzentrationslagererfahrungen.

Soweit Herr G. bezüglich des Klägers eine posttraumatische Belastungsstörung nach ICD-10 F 43.1 und Herr L. gar eine Persönlichkeitsveränderung nach Unfalltrauma nach ICD-10 F 62.0 diagnostizieren, vermag der Senat ihnen nicht zu folgen. Vielmehr hält er die von Priv. Doz. Dr. G. an diesen Gutachten geübte Kritik für zutreffend. So stützt Herr G. seine Diagnose ausschließlich auf die anamnestischen Angaben des Klägers, die er im Punkt "Zusammenfassung und Beurteilung" über weite Strecken wörtlich wiederholt. Dabei unterlässt er es, die auffälligen Abweichungen in der Darstellung des Lebenslaufs gegenüber den beiden ihm vorliegenden Vorgutachten des Priv. Doz. Dr. G. und des Herrn L. kritisch zu würdigen. So hat der Kläger gegenüber Herrn G. erstmalig angegeben, 1972 eine Tätigkeit im Fernverkehr angenommen zu haben, weil er nach dem Unfall Probleme gehabt habe, Kipper zu fahren. Demgegenüber hatte er noch bei Priv. Doz. Dr. G. angegeben, nach dem Unfall zunächst Hofarbeiten ausgeführt und dann Sand mit Treckern geholt zu haben, da der Kipper zerstört gewesen sei. Auch setzt sich Herr G. nicht mit dem Umstand auseinander, dass der Kläger während seines gesamten weiteren Berufslebens bis Mai 1998 sowohl im Fernverkehr als auch zeitweise in der Umgebung von M. als LKW-Fahrer tätig war. Zudem beachtet er nicht, dass der Kläger nach seinen Angaben gegenüber Priv. Doz. Dr. G. die Chance ausschlug, im Zusammenhang mit seinem Aufstieg zum Meister die Tätigkeit als LKW-Fahrer beenden zu können. Stattdessen hat er in dieser Situation mit Nachdruck darauf bestanden, weiterhin als Kipper-Fahrer tätig sein zu können. Auch nach dem Wechsel des Wirtschaftssystems und der Abwicklung seines alten Betriebs hat der Kläger erneut langjährig als Fernfahrer gearbeitet und zu keinem Zeitpunkt geschildert, sich jemals um eine andere Beschäftigung bemüht zu haben. Insoweit fehlt jeder Anhaltspunkt für das nach der ICD-10 F 43.1 im Zusammenhang mit einer posttraumatischen Belastungsstörung zu erwartende Vermeideverhalten, dem auch Priv. Doz. Dr. G. zumindest für die Zeit nach Abklingen der unfallnah aufgetretenen Symptome eine wesentliche Bedeutung beimisst.

Zudem erscheint es dem Senat zweifelhaft, dass der Verkehrsunfall vom 30. Juni 1971 überhaupt geeignet ist, der Umschreibung eines auslösenden Ereignisses nach der ICD-10 F 43.1 als außergewöhnlicher Bedrohung mit katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde, zu genügen. Hiergegen

spricht zunächst, dass der Kläger bei diesem Unfall nachweislich nur leichte körperliche Verletzungen ohne Folgeschäden davongetragen hat, die zwar zu einer Arbeitsunfähigkeit von 14 Tagen, jedoch nicht zu einem stationären Aufenthalt oder therapeutischen Maßnahmen jedweder Art geführt haben. Zudem hat der Senat ernsthafte Zweifel am tatsächlichen Auftreten der allein vom Kläger im Zusammenhang mit dem Unfallereignis angegebenen Bewusstlosigkeit. So hat Priv. Doz. Dr. G. darauf hingewiesen, dass aufgrund der mangelnden diagnostischen Möglichkeiten 1971 bei Angabe einer Bewusstlosigkeit zumindest mit einer mehrtätigen stationären Beobachtung zu rechnen gewesen wäre. Auch wird in der Unfallmeldung keine Bewusstlosigkeit angegeben, obwohl der Kläger dort sogar beschreibt, aus dem Wagen geschleudert worden zu sein. Zudem hat der Kläger selbst bis zum Jahr 2004 dem Unfallereignis keine der genannten Umschreibung der ICD-10 F 43.1 entsprechende Bedeutung beigemessen. Denn trotz eingehender Begutachtung im Unterbringungsverfahren und im Verfahren über die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente wird dieser Unfall bis zur Begutachtung durch Dr. D. und Dr. B. im Dezember 2000 weder gegenüber den Vorgutachtern noch gegenüber den behandelnden Ärzten erwähnt. Gleichzeitig wird dieser Unfall im genannten Gutachten fälschlich dem Jahr 1969 zugeordnet, was daraufhin deutet, dass das Ereignis den Kläger gerade nicht mehr in lebhafter Erinnerung ist. Darüber hinaus wird sowohl hier als auch in den Gutachten der Dipl.-Med. F. weder durch die Ärzte noch durch den Kläger selbst ein Zusammenhang des Unfalls mit den damals diagnostizierten psychischen Erkrankungen des Klägers diskutiert. Erstmals mit seinem an die BGF gerichteten Schreiben vom März 2004 wird dem Unfall vom Juni 1971 durch den Kläger eine wesentliche Bedeutung für die Verursachung seiner aktuellen Erkrankungen zugeschrieben. Diese nach Angaben des Klägers auf den Hinweis einer Mitarbeiterin seiner Krankenkasse zurückgehende Zuschreibung hat sich ausweislich der nachfolgenden Schriftsätze und Gutachten während des gesamten Verwaltungs- und Gerichtsverfahrens stetig verstärkt und verfestigt. Vor diesem Hintergrund hält der Senat die Interpretation des Priv. Doz. Dr. G., dass es sich hierbei um eine nachträgliche Zuschreibung aktueller psychischer Veränderungen zu einem zuvor bedeutungslosen weit zurückliegenden Ereignis handelt, für sehr wahrscheinlich.

Gegen eine Erkrankung des Klägers an einer posttraumatischen Belastungsstörung über einen Zeitraum von 26 Wochen nach dem Unfallereignis hinaus spricht weiterhin die Latenz von annähernd 27 Jahren zwischen dem Unfall des Klägers im Jahre 1971 und der Erstdiagnose einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung im Jahre 1998. Demgegenüber ist bei einer posttraumatischen Belastungsstörung im Sinne der ICD-10 F 43.1 lediglich von einer Latenz, die wenige Wochen bis Monate dauern kann, auszugehen. Zwar beschreibt die ICD-10 auch einen dann häufig wechselhaften Verlauf, der in wenigen Fällen über viele Jahre zu einem chronischen Verlauf mit Übergang in eine andauernde Persönlichkeitsstörung (F 62.0) führen kann, doch sieht der Senat keinerlei objektive Anhaltspunkte für ein solches Geschehen. So stützen sich sowohl Herr G. als auch Herr L. allein auf die Angabe des Klägers, er habe während seines gesamten Berufslebens als LKW-Fahrer immer wieder Angsterlebnisse sowie mit Erinnerungen an den Unfall verbundene Befindlichkeitsstörungen gehabt. Zu Recht weist jedoch Priv. Doz. Dr. G. darauf hin, dass sich diese Ärzte insoweit nicht mit dem Lebenslauf des Klägers auseinandersetzen und auch die zuvor durchgeführten Behandlungen und Begutachtungen, deren Ergebnisse ihnen aus der Darstellung im jeweils vorliegenden Gutachten des Priv. Doz. Dr. G. bekannt gewesen sein müssen, übergehen. So gibt es weder aufgrund der objektiv bekannten Tatsachen zum Lebenslauf des Klägers noch aufgrund seiner eigenen Schilderungen Hinweise auf das Vorliegen der nach der ICD-10 F 43.1 für eine posttraumatische Belastungsstörung typischen Symptome vor Beginn der 90er Jahre. Zwar behauptet der Kläger mit im Laufe des Verfahrens steigender Intensität, seit 1971 durchgängig Nachhallerinnerungen und Träume vom Unfallgeschehen gehabt zu haben, jedoch fehlen Schilderungen eines nach der ICD-10 hiermit verbundenen Gefühls von Betäubtsein und emotionaler Stumpfheit. Im Gegenteil spricht die weitere berufliche Tätigkeit des Klägers mit seinem Aufstieg zum Meister Ende der 80er Jahre deutlich gegen das Vorliegen solcher Symptome, denn gerade eine Tätigkeit als LKW-Fahrer im Fernverkehr, wie sie bis 1978 und danach wieder ab 1990 ausgeübt worden ist sowie der mit der Unterstellung von mehr als 60 Mitarbeitern dokumentierte berufliche Aufstieg in eine verantwortungsvolle Vorgesetztenposition erscheinen kaum vorstellbar, sollte der Kläger tatsächlich die in der ICD-10 F 43.1 genannten Symptome wie Teilnahmslosigkeit gegenüber der Umgebung, Gleichgültigkeit gegenüber anderen Menschen, Angst und manifeste Depressionen gezeigt haben. Unterstrichen wird die Annahme einer weitgehenden Symptomfreiheit des Klägers zumindest bis zum Beginn der 90er Jahre durch seine Angaben im August 2001 gegenüber Priv. Doz. Dr. B. und Dr. K., erst seit 1995 an Nervenzusammenbrüchen zu leiden und erst danach, nämlich 1996 und 1998, erste Suizidversuche unternommen zu haben.

Fehlt es somit am medizinischen Nachweis einer posttraumatischen Belastungsstörung im Sinne der ICD-10 F 34.1, so gilt dies umso mehr für die von Herrn L. diagnostizierte andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (ICD-10 F 62.0). Dem steht allerdings nicht schon der nach dem Vorstehenden fehlende Nachweis einer vorausgegangenen posttraumatischen Belastungsstörung entgegen, da diese auch nach der ICD-10 F 62.0 entbehrlich ist. Jedoch fehlt es darüber hinaus an einem auslösenden Ereignis, wie es die ICD-10 umschreibt. So muss die auslösende Belastung so extrem sein, dass die persönliche Vulnerabilität, also Empfänglichkeit, der betreffenden Person als Erklärung für die durch das Ereignis hervorgerufenen tiefgreifende Auswirkung auf die Persönlichkeit nicht in Erwägung gezogen werden muss. Dennoch beruft sich Herr L. gegenüber der von Priv. Doz. Dr. G. an seinem Gutachten geäußerten Kritik, die konkrete Unfallerfahrung des Herrn K. reiche in der Regel nicht aus, um eine bleibende Persönlichkeitsveränderung herbeizuführen, gerade auf die Umstände des Einzelfalles. Da aber auch nach der Schilderung des Klägers der Unfall in keiner Weise mit den in der ICD-10 F 62.0 genannten Situationen wie andauerndem Ausgesetztsein lebensbedrohlicher Situationen, andauernder Gefangenschaft mit unmittelbarer Todesgefahr, Folter, Katastrophen oder gar Konzentrationslagererfahrungen vergleichbar ist, könnte die von Herrn L. angenommene Reaktion des Klägers gerade nur auf dessen Vulnerabilität beruhen. Gleichzeitig ist sowohl Herrn L. als auch Herrn G. entgegenzuhalten, dass sie aufgrund der Schilderungen des Klägers über einen so nicht dokumentierten Krankheitsverlauf und der jeweils von ihnen zum Zeitpunkt der Begutachtung erhobenen Befunde im Jahre 2008 bzw. 2009 auf eine Schwere des Unfallgeschehens im Jahre 1971 rückschließen, die im Widerspruch zu den hierüber vorliegenden Unterlagen steht.

Demnach ist der Senat nur davon überzeugt, dass bei dem Kläger krankhafte psychische Veränderungen in Form einer rezidivierenden depressiven Störung, einer Alkoholabhängigkeit sowie hierdurch bedingter psychischer Verhaltensstörungen im Sinne der von Priv. Doz. Dr. G. gestellten Diagnosen bestehen. So wird eine rezidivierende depressive Störung oder zumindest eine depressive Symptomatik durchgängig in allen Gutachten seit dem Jahr 2000 einschließlich des Privatgutachtens des Herrn L. diagnostiziert und – in der Form der Angst und depressiven Störung gemischt (ICD-10 F 41.2) – auch im Gutachten des Herrn G. im Ansatz bestätigt. Auch ein Alkoholmissbrauch wird bereits im Gutachten des Dr. G. vom 7. September 1999 festgestellt. Eine Alkoholabhängigkeit wird sodann im Oktober 2003 durch Dipl.-Med. F. und nachfolgend durch Priv. Doz. Dr. G. sowie Herrn G. diagnostiziert, was insbesondere aufgrund der von Dipl.-Med. F. beschriebenen Leberwerte und der eigenen Angaben des Klägers gegenüber Priv. Doz. G. zu seinen Trinkgewohnheiten als zutreffend erscheint.

Ein Zusammenhang dieser Erkrankungen mit dem Unfallereignis im Jahre 1971 wird – Herr L. gibt keine Ursache der Depression an – nur durch Herrn G. angenommen. Dem liegt die von ihm gestellte Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung zugrunde, die im Folgenden zur Entstehung einer Angst und depressiven Störung sowie einer Alkoholabhängigkeit geführt habe. Dem kann jedoch nicht gefolgt werden, da bereits die von Herrn G. diagnostizierte posttraumatische Belastungsstörung infolge des Unfalls 1971 nach Überzeugung des Senats nicht vorliegt. Vielmehr folgt der Senat den Ausführungen des Priv. Doz. Dr. G., wonach ein Zusammenhang zwischen der depressiven Symptomatik und dem Unfall aus fachpsychiatrischer Sicht nicht herzustellen ist. Dementsprechend nennt auch der Kläger gegenüber Priv. Doz. Dr. B. und Dr. K. als Auslöser der Symptomatik noch im Jahr 2001 finanzielle Sorgen, die Ablehnung einer Erwerbsunfähigkeitsrente sowie die Unfähigkeit Auto zu fahren, nicht jedoch Ängste und andauernde Beschwerden aufgrund des später angeschuldigten Unfalls.

Soweit beim Kläger aufgrund der Unfallanzeige vom 6. Juli 1971 eine Prellung an Hüfte und Hinterkopf als bewiesene Unfallfolge anzusehen ist, führt dies nicht zu einem Anspruch auf eine Verletztenrente. Denn nach den eigenen Angaben des Klägers führten diese Gesundheitsschäden lediglich zu einer Akutbehandlung im Krankenhaus A. M., aus dem er noch am Unfalltag entlassen worden ist, und zu einer 14tägigen Arbeitsunfähigkeit. Über die 26. Woche nach dem Unfall hinaus verbleibende gesundheitliche Beeinträchtigungen im Zusammenhang mit diesen Unfallfolgen hat der Kläger selbst nicht geltend gemacht. Insbesondere aufgrund der Eintragungen im Ausweis des Klägers für Arbeit und Sozialversicherung bestehen hierfür auch keine Anhaltspunkte.

Die Berufung hat auch keinen Erfolg, soweit beim Kläger nach dem, insoweit allein auf die bisher durch keinen weiteren Anhaltspunkt belegte Beschwerdeschilderung des Klägers gestützten, Gutachten des Priv. Doz. Dr. G. für die Dauer von etwa einem viertel Jahr nach dem Unfall eine posttraumatische Belastungsstörung vorgelegen hat. Denn für die isolierte Feststellung dieser Unfallfolge fehlt dem Kläger bereits das Rechtsschutzbedürfnis. Es ist nämlich nicht erkennbar, dass der Kläger durch diese Feststellung in rechtlicher oder wirtschaftlicher Hinsicht bessergestellt würde, als er jetzt steht."

Hieran hält der Senat nach nochmaliger Überprüfung fest. Neue entscheidungserhebliche Gesichtspunkte haben sich weder im Verwaltungsverfahren, im Verfahren vor dem SG noch aus der Berufungsbegründung des Klägers gewinnen lassen. Was die hierin angestellte Vermutung anbelangt, hat der Berichterstatter im Erörterungstermin am 5. Oktober 2011 nochmals darauf aufmerksam gemacht, dass Priv. Doz. Dr. G. das Vorliegen psychischer Erkrankungen beim Kläger gerade nicht in Abrede gestellt hat. Abgesehen davon sind nach den Angaben des Klägers im Termin keinerlei Hinweise auf die von ihm befürchteten Schlussfolgerungen seitens des Rentenversicherungsträgers vorhanden.

Nach alledem konnte die Berufung keinen Erfolg haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision nach § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.
Rechtskraft
Aus
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