L 27 P 52/10

Land
Berlin-Brandenburg
Sozialgericht
LSG Berlin-Brandenburg
Sachgebiet
Pflegeversicherung
Abteilung
27
1. Instanz
SG Berlin (BRB)
Aktenzeichen
S 86 P 329/08
Datum
2. Instanz
LSG Berlin-Brandenburg
Aktenzeichen
L 27 P 52/10
Datum
3. Instanz
Bundessozialgericht
Aktenzeichen
-
Datum
-
Kategorie
Urteil
Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 8. Juli 2010 und der Bescheid der Beklagten vom 24. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. März 2008 aufgehoben. Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

Die Klägerin wendet sich gegen die Einstellung von Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung (Pflegegeld nach der Pflegestufe I) ab dem 1. November 2007.

Die 1947 geborene Klägerin bewohnt mit ihrem Ehemann, der ihre Pflege übernommen hat, eine 3-Zimmer-Wohnung in der 2. Etage eines Mehrfamilienhauses. Seit dem Jahr 2000 leidet die Klägerin an einer Psoriasis pustulosa palmaris (sog. Schuppenflechte).

Auf den Antrag der Klägerin vom 13. Mai 2004 auf Gewährung von Leistungen aus der Pflegeversicherung wurde sie durch den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) begutachtet. Die mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragte Pflegefachkraft S stellte in ihrem Gutachten vom 14. Juli 2004 auf Grund einer am selben Tag in der häuslichen Umgebung stattfindenden körperlicher Untersuchung der Klägerin einen Pflegebedarf von wöchentlich im Tagesdurchschnitt 51 Minuten im Bereich der Grundpflege (32 Minuten Körperpflege: 18 Minuten Ganzkörperpflege, 8 Minuten Duschen, 6 Minuten Richten der Kleidung, 8 Minuten im Bereich der Ernährung für die mundgerechte Zubereitung der Mahlzeit und 11 Minuten im Bereich der Mobilität: 6 Minuten Anziehen, 3 Minuten Entkleiden und 2 Minuten Transfer) sowie im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung von 60 Minuten fest. Dieser Einschätzung folgend bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 3. August 2004 der Klägerin ab dem 1. Mai 2004 ein monatliches Pflegegeld unter Zugrundelegung der Pflegestufe I. Der hierfür erforderliche Pflegebedarf von wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens 90 Minuten, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müsse, werde erreicht.

In dem von der Beklagten am 1. August 2007 eingeleiteten Überprüfungsverfahren gelangte die mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragte Pflegefachkraft O des MDK in ihrem Gut-achten vom 17. September 2007 nach körperlicher Untersuchung der Klägerin in deren häuslicher Umgebung vom 6. September 2007 zu der Einschätzung, dass der wöchentlich im Tagesdurchschnitt bestehende Pflegebedarf im Bereich der Grundpflege nunmehr 26 Minuten

(17 Minuten im Bereich der Körperpflege: 6 Minuten Ganzkörperwäsche, 6 Minuten Duschen, 5 Minuten Richten der Kleidung, 6 Minuten im Bereich der Ernährung für die mundgerechte Zubereitung der Mahlzeiten und 3 Minuten im Bereich der Mobilität: 2 Minuten Ankleiden, 1 Minute Entkleiden)

und im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung 60 Minuten betrage. Der Hilfebedarf habe deutlich abgenommen. Mit Bescheid vom 24. Oktober 2007 hob die Beklagte den Bewilligungsbescheid vom 3. August 2004 mit Ablauf des Monats Oktober 2007 auf und stellte die Leistungsgewährung ein. Die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der Pflegestufe I lägen auf Grund der gutachtlichen Feststellungen der Pflegefachkraft O nicht mehr vor. Den hiergegen am 16. November 2007 erhobenen Widerspruch wies die Beklagte nach Einholung einer ergänzenden Stellungnahme der Pflegefachkraft O vom 2. Januar 2008 sowie einer gutachtlichen Stellungnahme der Pflegefachkraft K vom 11. Januar 2008 mit Widerspruchsbescheid vom 12. März 2008 zurück. Nach den Feststellungen des MDK habe der Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege deutlich abgenommen. Der Pflegeaufwand habe sich gegenüber dem Gutachten vom 14. Juli 2004 reduziert.

Nach Zustellung des Widerspruchsbescheides am 8. April 2008 hat die Klägerin am 22. April 2008 Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben, mit der sie sich gegen die Aufhebung des Bewilligungsbescheides vom 3. August 2004 wendet.

Das Sozialgericht hat Befundberichte der die Klägerin behandelnden Ärzte, des Facharztes für Haut- und Geschlechtskrankheiten Dr. H vom 18. August 2009, des Facharztes für Allgemeinmedizin B vom 19. August 2009 und des Facharztes für Orthopädie Dr. T vom 30. No-vember 2009 eingeholt und sodann die Ärztin W mit der Erstattung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. In ihrem Gutachten vom 4. März 2010 gelangte die Sachverständige nach körperlicher Untersuchung der Klägerin in deren häuslicher Umgebung vom selben Tag zu der Einschätzung, dass bei der "heutigen Begutachtung" ein pflegerischer Zeitaufwand im Bereich der Grundpflege von 4 Minuten pro Tag und im Bereich der hauswirtschaftlichen Verrichtung von 81 Minuten pro Tag habe ermittelt werden können. Es sei eine deutliche Reduzierung des Hilfebedarfs zum Begutachtungszeitpunkt 2007 gegenüber der Begutachtung nach Erstantrag 2004 festgestellt worden. Dem Befundbericht des behandelnden Hautarztes sei zu entnehmen, dass seit Januar 2005 eine Besserung eingetreten sei. Gegenüber der letzten Begutachtung von 2007 habe sich der Hilfebedarf weiter reduziert. Die Klägerin sei im Bereich der Grundpflege im Wesentlichen selbstständig. Sie sei an Hilfsmittel adaptiert und habe ihre Kleidung an die Funktionseinbußen der Hände angepasst.

Mit Gerichtsbescheid vom 8. Juli 2010 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen. Die Klägerin habe keinen Anspruch darauf, dass Leistungen der Pflegestufe I über den 30. Oktober 2007 hinaus weiter zu gewähren seien. Dies ergebe sich aus dem schlüssigen Gutachten der Sachverständigen W, die überzeugend dargelegt habe, dass der Pflegebedarf im Bereich der Grundpflege nur noch vier Minuten täglich betrage und damit erheblich unter dem gesetzlich notwendigen Bedarf von mindestens 46 Minuten liege.

Gegen den ihr am 19. Juli 2010 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 30. Juli 2010 Berufung eingelegt, mit der sie ihr Begehren weiter verfolgt.

Sie ist der Auffassung, dass in Folge ihrer Hauterkrankung, die regelmäßig mit krankhaften Schüben, Pusteln und Blasen, der Ablösung von Fingernägeln und chronischen Schmerzen in den Fingerkuppen verbunden seien, der Pflegebedarf unverändert fortbestehe. Leistungen der Pflegestufe I seien weiterhin zu gewähren.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 8. Juli 2010 und den Bescheid der Beklagten vom 24. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. März 2008 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 8. Juli 2008 zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge der Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze der Beteiligten und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten.

Entscheidungsgründe:

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet.

Das Sozialgericht hat mit Gerichtsbescheid vom 8. Juli 2010 die Anfechtungsklage der Klägerin zu Unrecht abgewiesen, da der Aufhebungsbescheid vom 24. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. März 2008 rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt.

Rechtsgrundlage für die Aufhebung ist § 48 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Sozialgesetzbuches (SGB X), wonach ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen die bei Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist, mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben ist. Hierbei sind die zum Zeitpunkt der Aufhebung bestehenden tatsächlichen Verhältnisse mit jenen, die zum Zeitpunkt der letzten Leistungsbewilligung vorhanden gewesen sind, zu vergleichen.

Die von der Beklagten mit dem hier angefochtenen Bescheid vom 24. Oktober 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. März 2008 aufgehobene Entscheidung über die Bewilligung von Leistungen der sozialen Pflegeversicherung nach der Pflegestufe I ist als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung zu qualifizieren. Entgegen der Ansicht des Sozialgerichts und der Beklagten ist im Vergleich zu dem im Zeitpunkt im Bewilligungsbescheid vom 3. Agust 2004 bestehenden Verhältnisse keine wesentliche Änderung eingetreten.

Voraussetzung für Leistungen der sozialen Pflegeversicherung ist nach § 37 Abs. 1 des Elften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB XI) u. a., dass der Anspruchsteller pflegebedürftig ist und mindestens der Pflegestufe I zugeordnet werden kann. Pflegebedürftigkeit liegt hierbei nach § 14 Abs. 1 SGB XI vor, wenn der Betroffene wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedarf, die nach § 14 Abs. 3 SGB XI in der Unterstützung, in der teilweisen oder vollständigen Übernahme der Verrichtungen im Ab-lauf des täglichen Lebens oder in der Beaufsichtigung oder Anleitung mit dem Ziel der eigenständigen Übernahme dieser Verrichtungen besteht. Als gewöhnliche und regelmäßig wiederkehrende Verrichtungen im vorgenannten Sinne gelten nach § 14 Abs. 4 SGB XI im Bereich der Körperpflege, der neben den Bereichen der Ernährung und der Mobilität zur Grundpflege gehört, das Waschen, Duschen, Baden, die Zahnpflege, das Kämmen, Rasieren und die Darm- oder Blasenentleerung, im Bereich der Ernährung das mundgerechte Zubereiten oder die Aufnahme der Nahrung, im Bereich der Mobilität das selbständige Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen oder das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung sowie im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung das Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung oder das Beheizen.

Die Zuordnung zur Pflegestufe I setzt nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 SGB XI voraus, dass der Betroffene bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität für wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen mindestens einmal täglich der Hilfe bedarf und zusätzlich mehrfach in der Woche Hilfen bei der hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt. Der Zeitaufwand, den ein Familienangehöriger oder eine andere nicht als Pflegekraft ausgebildete Pflegeperson für die erforderlichen Leistungen der Grundpflege und hauswirtschaftlichen Versorgung benötigt, muss hierbei wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens 90 Minuten betragen, wobei auf die Grundpflege mehr als 45 Minuten entfallen müssen.

Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse ist in Fällen der vorliegenden Art, in denen um die Aberkennung einer Pflegestufe im Pflegeversicherungsrecht gestritten wird, nicht bereits dann eingetreten, wenn in einem nach Erlass des Bewilligungsbescheides eingeholten Gutachten der Zeitaufwand in der Grundpflege maßgeblich geringer eingeschätzt wurde als in dem der Bewilligung zu Grunde liegendem Erstgutachten. Vielmehr kommt es entscheidend darauf an, dass in dem Gesundheitszustand des Betroffenen Änderungen eingetreten sind, die nachvollziehbar den Umfang dessen Hilfebedarfs vermindert haben. Für das Vorliegen dieser Änderung trifft den Beklagten, der sich in dem Aberkennungsbescheid hierauf beruft, die materielle Beweislast.

Dies zu Grunde gelegt lässt sich zur Überzeugung des Senats nicht mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, dass sich der Gesundheitszustand der Klägerin im hier maßgeblichen Ent-ziehungszeitpunkt (hier insbesondere im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung aufgrund des Widerspruchsbescheid vom 12. März 2008) im Vergleich zum Zeitpunkt der Bewilligung am 3. August 2004 derart gebessert hat, dass ab dem 1. November 2007 die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der Pflegestufe I auf Grund eines nicht mehr vorhandenen Grundpflegebedarfes von mehr als 45 Minuten wöchentlich im Tagesdurchschnitt nicht mehr gegeben sind. Zwar wird in dem Gutachten der Pflegefachkraft O ausgeführt, dass der Hilfebedarf deutlich abgenommen habe. Eine nachvollziehbare Begründung, welche Änderungen im Gesundheitszustand der Klägerin im Vergleich zum Bewilligungszeitpunkt am 3. August 2004 konkret eingetreten sind und wie sich diese auf den Umfang des Hilfebedarfes und dessen Minderung auswirken, lässt sich dem Gutachten der Pflegefachkraft O indes nicht entnehmen. Auch dem von dem Sozialgericht in Bezug genommenen Gutachten der Gerichtssachverständigen W auf das es seine Entscheidung entscheidend stützt, lassen sich keine Feststellungen entnehmen, die hinreichend wahrscheinlich auf eine wesentliche Änderung im Gesundheitszustand im Entziehungszeitpunkt schließen lassen. Insoweit wird lediglich feststellt, dass der Hilfebedarf im Zeitpunkt der Begutachtung, d. h. am 4. März 2010, im Bereich der Grundpflege wöchentlich im Tagesdurchschnitt nur noch vier Minuten betrage. Für die Vergangenheit und insbesondere den Entziehungszeitpunkt lassen sich aussagekräftige Feststellungen dem Gutachten der Sachverständigen W nicht entnehmen. Ihr Hinweis darauf, dass eine deutliche Reduzierung des Hilfebedarfes zum Begutachtungszeitpunkt 2007 gegenüber der Begutachtung in 2004 "festgestellt worden" sei, deutet darauf hin, dass sie insoweit keine eigene Einschätzung vorgenommen hat und sich lediglich auf die Einschätzungen der MDK-Gutachter bezieht. Der bloße Hinweis der Sachverständigen, der behandelnde Hautarzt habe mitgeteilt, dass in Folge durchgeführter Therapien seit Januar 2005 eine Besserung eingetreten sei, genügt nicht, um nachvollziehbar zu belegen, dass in Folge einer Veränderung des Gesundheitszustandes der Umfang des Hilfebedarfes auf unter 46 Minuten zum Zeitpunkt der Aufhebung der Bewilligung abgesunken ist. Mithin ist nicht erwiesen, dass die Voraussetzungen für eine Entziehung der Pflegestufe I ab dem 1. November 2007 vorgelegen haben. Dies geht zu Lasten der Beklagten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht erfüllt.
Rechtskraft
Aus
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